Von Gabriele Lengemann

Die Sonne scheint schon sehr warm, als ich an diesem frühen Junivormittag in Frankfurt aus dem Zug steige. Der Tag gehört mir. Ich gönne mir mindestens zweimal im Jahr solch einen Tag, an dem ich aus unserem winzigen, nordhessischen Kaff nach Frankfurt komme, um ein bisschen Großstadtluft zu schnuppern und einen ungestörten Einkaufsbummel zu machen. So denkt meine Familie und so ist es auch, nur dass ich das Einkaufserlebnis seit Jahren mit einem Besuch bei einer bekannten Kartenlegerin abrunde. Das erzähle ich zuhause nicht, meine Familie hätte kein Verständnis dafür, dass ich für solch einen “Hokuspokus“ Geld ausgebe.

Heute habe ich um 15.00 Uhr den Termin, ich habe noch Zeit, der Tag ist schön. Ich lasse mich mit der Menschenmenge vom Bahnhofsvorplatz zur S-Bahn-Station treiben und merke, wie die Sorge und Grübelei der letzten Tage von mir abfallen. An der Hauptwache steige ich aus, bummele an Geschäften und Cafés vorbei, die Leute sind freundlich. Ich genieße jede Minute, trinke in einem Straßencafé einen Cappuccino und bewundere im Schaufenster einer Boutique ein viel zu teures, gelbes Sommerkleid aus Leinen. Leisten kann ich es mir nicht, ich weiß ja, was das Kartenlegen kostet.

Es ist 14:00 Uhr. Meine Leichtigkeit verfliegt und die Sorge holt mich wieder ein. Was sie mir wohl heute zu sagen hat? Ein Glas Wein wäre jetzt schön, denke ich und sehe im selben Moment eine Kneipe, über deren Eingangstür eine Sonne aufgemalt ist. „Zur Sonne“ ist eine kleine Ein-Raum-Kneipe, in der noch geraucht werden darf. Eine Theke, zwei kleine runde Tische mit jeweils vier Bistrostühlen, eine einfache Holzbank neben dem Eingang. Das ist alles. An einem Tisch sitzen drei junge Männer, die anscheinend zu müde sind, um sich zu unterhalten und nur in ihre Handys starren. Zwei von ihnen tragen Trainingsjacken mit dem Abzeichen der Goethe-Universität-Frankfurt. Hinter den Tresen spült ein südländisch aussehender, langhaariger Wirt lustlos Gläser und gähnt unverhohlen.  Mein Eintreten nimmt er kaum zur Kenntnis, sieht nur ganz kurz auf. Ich setze mich an die Theke und bestelle einen Apfelwein. 

Die Kneipe ist geschmackvoll eingerichtet und gemütlich. Viel dunkles Holz, das für eine warme Atmosphäre sorgt und dicke, gelbe Butzenscheiben, durch die das Sonnenlicht nur gedämpft eindringen kann. Das Glas färbt die Sonnenstrahlen golden ein und ich beobachte, wie Staubkörnchen in diesem goldenen Glanz tanzen. Das Lachen und die Gespräche vom gestrigen Abend hängen noch im Raum. Ich fange an, den Aufenthalt hier zu genießen, nehme einen großen Schluck vom Apfelwein und merke, wie sich der Krampf in meiner Brust löst. Bisher bin ich immer zum Kartenlegen gegangen, wenn das Leben Geschenke für mich bereithielt und ich nicht wusste, wie ich mich entscheiden sollte. Sollte ich das neue Berufsangebot annehmen? Sollten wir umziehen? Das Haus außerhalb der Stadt kaufen? Würden wir das alles auch mit dem dritten Kind schaffen?

Heute ist es etwas anderes. Ich habe von meiner Frauenärztin eine Krebsdiagnose erhalten. Ein bösartiger Tumor in der rechten Brust. Eine OP steht an, Bestrahlung. Ich habe keine Ahnung, ob der Krebs bereits gestreut hat. Um dies festzustellen, hatte ich bereits einen Termin im Krankenhaus, aber ich habe ihn abgesagt, weil ich so schreckliche Angst habe. 

Heute will ich zunächst meine Kartenlegerin fragen, wie es wohl ausgehen wird mit mir und ob es wirklich so schlimm ist, wie ich es mir nachts ausmale.

Bisher hat sie immer zutreffende Prognosen gestellt. Vielleicht kann sie mir die Angst etwas nehmen, denke ich. Aber wenn nicht? Ich schaue auf die Uhr, es ist gleich halb drei. Zu Fuß sind es von hier nur ein paar Minuten. Ein wenig Zeit habe ich also noch. 

An dem zweiten Tisch hat ein Ehepaar Platz genommen, das einen Stadtplan studiert und wahrscheinlich eine Ruhepause vom Sightseeing braucht. Die drei jungen Männer dösen weiter vor sich hin. Der Wirt hat mittlerweile Musik angestellt, es laufen die alten Songs von Frank Sinatra, und Paul Anka beschwört seine Diana, doch bei ihm zu bleiben. Der Wirt sieht fragend auf mein leeres Glas und ich nicke. Er stellt mir einen neuen Wein hin und ich krame in der Handtasche nach Zigaretten. Eigentlich rauche ich nicht, aber im Moment doch. Der Wirt gibt mir Feuer und ich verliebe mich sofort ein wenig in ihn. Ich muss lächeln und er lächelt zurück. Was für ein schöner Ort das doch hier ist. So wohl und lebendig habe ich mich schon ewig nicht gefühlt. Zeit scheint auf einmal keine Rolle mehr zu spielen. 

Ich will es gar nicht wissen, beschließe ich. Heute nicht, nein heute nicht. Sterben werde ich heute auch noch nicht, das ist jedenfalls sehr unwahrscheinlich, sage ich mir und so bleibe ich einfach sitzen. Ich weiß nicht, wann ich mich zuletzt so gut gefühlt habe und so feiere ich mein Leben in einer Ein-Raum-Kneipe, die “ Zur Sonne“ heißt. 

Ich führe ein nettes Gespräch mit dem Ehepaar, das den Stadtplan zur Seite gelegt hat und die Auszeit beim Apfelwein auch zu genießen scheint. Ich flirte mit dem Wirt, rauche was das Zeug hält und wippe mit den Füßen zur Musik. Als ich nach dem vierten Wein gegen 17:00 Uhr die Kneipe wieder verlasse, fühle ich mich berauscht und schwindlig. Ich blinzele in die Sonne und versuche wieder in der lauten Wirklichkeit anzukommen. 

In einer Stunde geht mein Zug. Ich mache mich auf den Weg zur S-Bahn, überlege es mir dann aber noch einmal anders und mache einen Abstecher zu der teuren Boutique, um das gelbe Kleid zu kaufen. 

Die Verkäuferin muss es der Schaufensterpuppe ausziehen, weil es im Laden in meiner Größe nicht mehr vorrätig ist. Es passt und steht mir richtig gut, so dass ich beschließe, es gleich anzubehalten.  Mit einer Tüte, in der sich meine getragenen Sachen befinden, verlasse ich den Laden.

 Draußen betrachte ich noch einmal mein Spiegelbild im Schaufenster und mein Blick fällt auf die Schaufensterpuppe, die vorhin mein Kleid trug und nun unbekleidet dort steht. Auch die Perücke hat man ihr abgenommen. Schlagartig wird mir klar, dass das Aussehen der Puppe meinen eigenen inneren Zustand abbildet, ich bin genauso ausgeliefert, hilflos und zerbrechlich. 

Ich schreibe das, was nun passiert der Tatsache zu, dass ich zu tief ins Schoppenglas geschaut habe, aber plötzlich sehe ich, wie die Puppe das Kinn anmutig in die Höhe reckt und mir ihr ebenmäßiges Gesicht zuwendet. In diesem Moment wird mir klar, dass Weglaufen keine Option ist und dass ich mich nicht auffressen lassen darf von Verzweiflung, Angst und Scham. Ich muss mich der Tatsache stellen, dass ich krank bin und muss alles tun, um wieder gesund zu werden. Gleich morgen früh werde ich mich um einen neuen Termin im Krankenhaus kümmern.

Ich atme tief durch, dann nicke ich der Schaufensterpuppe zu, als Zeichen, dass ich verstanden habe, und ich beeile mich, um den Zug noch zu erreichen.       

                                                                                 V2