Von Michael Kothe

Die Zugänge sind geschlossen, die Tiefgarage kann durchs Treppenhaus noch betreten werden, umgekehrt ist es nicht mehr möglich. Die Lichter sind herabgedimmt oder teilweise gelöscht: Feierabend im Einkaufszentrum. Langsam schiebe ich meinen Putzwagen durch die Gänge. Ich liebe diese Ruhe, diese Stille. Nun kann ich meinen Gedanken nachhängen. Trotz meiner Pflichten, denen ich artig nachkomme. Tagsüber stören mich die vielen Passanten, die sich hier durchdrängen. Ein Gehaste und Geschiebe, da komme ich oft mit meinem Wagen kaum durch.

Einzelne Ladenlokale sind noch nicht abgeschlossen, die Betreiber machen Kassensturz, räumen neue Ware ein für den nächsten Tag oder entspannen sich bei einer Tasse Tee, die sie in ihrer winzige Pantry gebrüht haben. Den ein oder anderen sehe ich, wie er das Gitter herabzieht oder einfach die Glastür absperrt. Wir kennen uns. Nur vom Sehen, weshalb der gegenseitige Gruß unverbindlich bleibt.

Still grinse ich in mich hinein. Wie oft habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, wenn man mich hier vergäße oder ich mich mit Absicht in einem der Geschäfte einschließen ließe. Was könnte ich alles anstellen! Mich im Uhrengeschäft bedienen und danach nie wieder arbeiten müssen – ich weiß, wie ich ans Steuergerät gelangte , ohne Alarm auszulösen –, Kassen der kleineren Läden um das Wechselgeld erleichtern  –  schließlich lassen viele Ladenbesitzer das Hartgeld in der Lade. Mein wirklicher Traum aber ist es, nur für mich selbst in einem Bekleidungsgeschäft eine Modenschau zu veranstalten. Ohne Zuschauer, ohne Zeitdruck, ohne den gestelzten Schritt und ohne das nicht nur gelangweilte, sondern auch langweilige Modelgesicht aufsetzen zu müssen. Amüsiert schüttle ich den Kopf, ich muss weiter.

Meinen Putzwagen lasse ich stehen, auch dieser Papierkorb hier am Kreuzungspunkt zweier Gänge will geleert werden. Ich klappe den Deckel auf, hieve den vollen Plastiksack hoch und drücke den neuen, leeren so weit hinein, bis er den Boden der Tonne ganz bedeckt. So schmiegt er sich auch an die Innenwand und bietet das meiste Volumen. Nicht nur meine Gewissenhaftigkeit treibt mich dazu, den Kunden und Passanten möglichst viel Raum für ihren Abfall zu bieten. Ganz uneigennützig komme ich dieser Sorgfalt auch nicht nach. So habe ich weniger vom Boden aufzuheben, was sonst daneben fiele, und an den weniger belebten Tagen kann ich den ein oder anderen Papierkorb nach einem schnellen Kontrollblick auch mal unversorgt lassen. Nun verschwindet der volle Sack in der Tonne auf meinem Karren, ich drücke meinen Rücken durch, damit das Ziehen im Kreuz nachlässt. Dabei fällt mein Blick auf das Schaufenster des Spielzeugladens gegenüber.

Nach allen Seiten spähe ich ins Halbdunkel der Flure hinein, entdecke niemanden. Meinen Wagen schiebe ich vor den Laden. Falls man mich sieht, wird jeder denken, ich arbeite vor diesem Fenster. Während der letzten Tage hatten traurig-beige Stoffbahnen den Einblick verwehrt, die neue Dekoration lässt auch jeden noch so fantasielosen Betrachter wissen, dass Weihnachten Geschichte ist. Eisenbahnmodelle, Puzzlespiele und Barbiepuppen haben die Bühne verlassen und Harlekins, Clowns und Cowboys ihren Auftritt ermöglicht. Wie jedes Jahr in der fünften Jahreszeit. Mein Grinsen ist nicht nur amüsiert, sondern überheblich: Dem Inhaber fällt auch nichts Neues ein. Wieder ist die Szene farbenfroh dekoriert. Konfetti, eine Tröte und einige Sheriffsterne aus Plastik bedecken den Boden, Luftschlangen verhüllen die nüchternen Wände. So wirkt die Auslage nicht ganz so begrenzt. Die Kostüme sind in mittleren Konfektionsgrößen erhältlich, also sind ihre Träger lebensgroße Schaufensterpuppen. Bei deren Anblick seufze ich. Mein Mann und ich genießen den Karneval, gehen gemeinsam zu mancher Narrensitzung und stehen bei mindestens zwei Umzügen in der Region am Straßenrand und recken uns zum Vergnügen ab und zu, um „Kamelle“ aufzufangen. Dieses Jahr aber hat mein Mann keine Idee, als was er „gehen“ möchte. Bei dem Gedanken an die Dringlichkeit eines guten Einfalls seufze ich. Vielleicht bringt mir der Anblick der Kostüme ja eine Erleuchtung. Intensiv betrachte ich alle Schaufensterpuppen, stelle mir meinen Mann in jedem dieser Gewänder vor und gerate ins Träumen.

Ein schneller Blick sagt mir, dass der Dekorateur diesmal ein Farbschema aufgebaut hat: von Schwarz links über Bunt bis zum Weiß auf der rechten Seite. Ein Vampir lehnt an der linken Wand, neben ihm hebt Zorro abwehrend die Hände, Superman im hautengen blauen Outfit eilt ihm zu Hilfe und wird dabei beobachtet von einem grünen Aquaman. Doch nicht nur Männern ist diese Ausstellung vorbehalten. Rotkäppchen, in sehr wenig Stoff gehüllt, drängt sich an einen Clown im karierten Anzug, der wohl mit dem Pierrot ins Gespräch über ihr weißes Makeup vertieft ist. Nur die Jackenknöpfe und der Kegelhut des Pantomimen zeigen noch etwas Farbe, die dem Koch am Ende der Reihe gänzlich fehlt.

Überrascht blinzle ich. Fast hätt ich ihn übersehen, schließlich hat er nur die halbe Höhe: Ein Nackter sitzt auf einem Dekowürfel zu Füßen des Rotkäppchens und des Clowns! Mit gekrümmtem Rücken, den linken Unterarm auf dem Oberschenkel abgelegt, den rechten auf dem anderen Bein senkrecht aufgestellt und das Kinn auf die Finger der rechten Hand gestützt. Dass dies eine ernstgemeinte Kostümierung sein soll, will mir nicht so recht in den Sinn. Wohl vielmehr als Karnevalsgag hat der Ladeninhaber diese Figur ausgestellt, als Kontrast zu seinen Kostümen. Mich fasziniert die plötzliche Assoziation mit der Skulptur von Auguste Rodin. Von der fein ziselierten Textur des perfekt nachgebildeten Denkers lasse ich mich in ihren Bann ziehen. Ich gehe in die Hocke, mein Kopf lehnt beinahe an der Scheibe. Mit einer Hand schirme ich die Augen gegen die Lichtreflexe ab, während ich neugierig versuche, pikante anatomische Details zu entdecken.

Unwillkürlich zucke ich zusammen. Hat sich die Schaufensterpuppe etwa bewegt, der Zorro? Erschrocken fahre ich auf. Noch immer wehrt er diesen bleichen Dracula ab, aber deutlich sehe ich noch Bewegung in seinem Umhang. Richtig geflattert hat das Cape nicht, Zorro hatte sich in der Gewalt. So wie diese Straßenkünstler, die vornehmlich in Fußgängerzonen gold- oder silberfarben unbeweglich verharren und nur ab und an ruckartig ihre Haltungswechsel vornehmen. Besonders, wenn junge Frauen zu nah an ihnen vorübergehen. Mein Blick konzentriert sich auf diesen Romanhelden, den Beschützer der Schwachen. Sämtliche Klischees der Filme spulen vor meinem geistigen Auge ab. Und nun hat er sogar gezwinkert! Ein kurzes Zucken nur im linken Schlitz seiner Maske. Es kann nicht sein, und dennoch bin ich mir ganz sicher. Ein leichter Schauer fährt über meinen Rücken, im selben Moment durchfährt Zorro ein leichtes Zittern. Blödsinn, schießt es mir durch den Kopf, sein Zittern war deine Wahrnehmung, als du dich geschüttelt hast! Hörbar atme ich aus, mein verhaltendes Lachen ist befreiend. Sicherlich hatte diese Schaufensterpuppe den gleichen Gedanken wie ich auf meinen ungezählten Runden durch dieses Einkaufsparadies: Sich einfach mal einschließen lassen und die Nacht über Schabernack treiben. Aufmunternd zwinkere ich der Puppe zu und fasse die Schubstange meines Wagens.

Schon habe ich mehrere Geschäfte hinter mir gelassen, als meine Fantasie mich glauben macht, schnelle Schritte zu hören. Drei, vier Männer denke ich an ihren Stimmen unterscheiden zu können, bin mir aber nicht sicher, schließlich klingt alles gedämpft. So, als käme es aus dem Geschäft, vor dem ich eben noch stand. Ich bilde mir ein, Gesprächsfetzen über Anzeige und Ärgernis zu hören. Auch ein dumpfes Rumpeln.

Während ich den letzten Abfallkörben zustrebe, spinne ich meinen Gedanken weiter. Zorro hat sich einsperren lassen und will dem gierigen Ladenbesitzer den mit überhöhten Preisen erzielten Kasseninhalt rauben, um ihn den sicherlich bedürftigeren Kunden zurückzugeben. Nun wurde er ertappt und zeichnet dem Wucherer mit der Degenspitze das berühmte Z auf die Brust, bevor er sich aus der Szene absetzt. Keinesfalls, ohne die Wachleute durch das Umwerfen eines Regals an der Verfolgung zu hindern. Ich kichere, während ich den letzten vollen Müllsack in meiner Tonne versenke.

Auf dem Weg zurück fällt mein Blick wieder auf das Schaufenster mit den Karnevalskostümen. Zorro hat wieder seinen Platz eingenommen und hält den Vampirfürsten auf Abstand. Aber der Würfel ist leer, Rodins Denker ist verschwunden.

 

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