Von Kornelia Wulf

Die faltige Stirn an die Scheibe gepresst, starrt Else auf das Kleid. Das locker über die Brüste der Puppe fällt und – raffiniert in Sitz und Schnitt – sich an Hintern und Hüfte verengt. Ruckartig stößt sie den Atem aus und in den Schwaden, der auf der Glasfläche wächst, schreibt sie

Ich muss dich haben!

Den Kopf geneigt folgt sie dem Schlitz, der den Stoff knapp unter den Kniekehlen teilt und sich öffnen wird, wenn sie die Schenkel spreizt. Nachdenklich nagt sie an Lippenstiftfalten, während der Schwaden die kondensierte Grenze überschreitet. Die Erinnerung scheint in ein Zeitloch geschlüpft zu sein. So lange schon ließ sie keinen mehr ein.

Seit damals, als Lars …

Ein Honigbonbon in ihrem Mund lutscht Else sich alle Kanten rund. Überdeckt den Geschmack, der fad und zäh auf ihrer Zunge klebt. Und während sie die Augen schließt und der Stoff über ihre Formen fließt, stellt sie sich das Maisgelb an ihrem Körper vor.

Das Gewicht auf den hellblauen Stockschirm gestemmt, auf dem ein munterer Möwenschwarm flattert, der Else an das Salz des Meeres erinnert, das sie nicht mehr erreichen kann. Auf Ebay hatte sie ihn gegen den Gehstock getauscht. Verordnet letzten Herbst von Dr. Baum, als ihre Hüfte in der Pfanne verrückt wurde.

Nein, die Invalidin will sie nicht geben. Stets hat sie die Backen zusammengekniffen, von Kindheit an. Und sollte der Schirm ihr den Halt versagen, wird sie für immer gehen.

Plötzlich scheint sich der süße Klumpen in Corn zu verwandeln, das aufpoppend zwischen den Zähnen knackt. Und sie glaubt in dem Becher aus Pappe zu wühlen – selbstverständlich in dem im XL-Format – den sie sich einmal im Monat leistet, wenn sie mit Marlies ins Kino geht. Einen letzten Blick wirft sie ins Fenster. Da ist noch das Rote. Das fällt – auch raffiniert – von der Taille abwärts plissiert. Doch Else wendet sich würgend ab, weil die Farbe sie an erbrochene Soljanka erinnert.

`Nein´, denkt sie, `auf keinen Fall´. Diese roten Fähnchen konnte sie noch niemals leiden.

Ihr Blick wandert zum Fuß der Puppe hinab – der sich auf hautbeigen Sohlen vom Stiletto gehoben  vertikal streckt – bis sie den Preis entdeckt, der sich verlegen hinter dem Knöchel versteckt. Ihre innere Kasse beginnt zu rattern – Else schiebt die Posten hin und her – doch wieder scheint die Bilanz   an dieser Formel zu scheitern.

DRRN. Heißt, die Rente reicht nie.

Das Hirn in tiefe Falten gelegt, sucht es nach dieser einen Idee. Die aufploppt, als dieses Kind an ihr vorüber hüpfend  

vom Himmel in die Hölle springt.

Genau. Jetzt ist es entschieden. Sie wird auf die Kleine von Dr. Schneider aufpassen. Dr. Schneider, ihr ehemaliger Chef. Erst letzte Woche hatte er sie deswegen angerufen. Irgendeinen Kurs mit seiner Frau will er machen. Yoga. Der Weg zur sinnlichen Harmonie. Oder – hat er Tantra gesagt? Else hebt die Schultern auf und ab. Dieser Fernostklimbim ist ihr fremd. Aber, was zählt, er drückt was ab. Vielleicht ein verkappter Sozialist, denkt sie manchmal, dessen Hintern sich nicht ausruht auf dem Establishmentkissen. Und überhaupt. Nicht jedes Kraut muss man mit Stumpf und Stiel aus dem roten Sumpf reißen.

Den grauen Schopf an die Scheibe gelehnt leckt sie sich über die Lippen. Frau Schneider wird ihr einen Teller ins Wohnzimmer stellen – Graved Lachs in Dill -, den kann sich Else nur an den Feiertagen leisten. Und nach ein paar Runden Memory – wenn Klara Nilufar noch im Siegerrausch taumelt – wird Else sie vor den KiKa setzen.

„Nilufar. Meine kleine Lotusblume“, säuselte Dr. Schneider, „an der gleitet der Schmutz ab wie an einer Gummihaut.“

`Das arme Kind´, dachte Else, das Lächeln in den Mundwinkeln eingehakt, `wer will schon wie eine Schlammpflanze heißen´, und in seine sanften Gesichtszüge starrend, `ach Schneider, den wahren Dreck hast du nie kennengelernt´.

Genährt von der Kraft der guten Idee schwingt sie den Schirm durch die Luft. Setzt Fuß vor Fuß Richtung Boutiqueeingang,  

als plötzlich in ihr ein Rattern ertönt, das in den Ohren anschwillt. In Presslufthammerdezibel. Oder ist es vielleicht das Herz, das hämmert, als die Puppe ihren Platz verlässt, sich eng an die Scheibe presst? Der Stoff des Kleides wirft nun hässliche Falten, während die Farbe sich in ein Hepatitisgelb verwandelt. Und als schwäre die Erinnerung unter der Haut, spürt sie wieder diesen Krampf in den Fingern. Die – immerfort im Akkord – endlos die Nähte weiterschieben. Unter dem Schlitten der Nähmaschine. Spitz sirrt ein Ton durch die Luft – den die Scheibe wie ein Vibrieren wahrnimmt -, als Else die Narbe erblickt, in diesem harmlosen Puppengesicht, die steil die linke Braue teilend die Form eines Scheiterhaufens annimmt. Die Bilder prasseln, erschlagen sie fast, als Else, eng an die Scheibe gedrückt einen feuchten Schmierfilm auf dem Glas hinterlässt, während sie auf dem Bordstein zusammensackt.

1976

`Wen meint er nur´, Else dreht sich suchend um, bevor sie das Gesicht des Richters fixiert und Kontakt zu seinen Augen sucht. Doch die scheinen mit einem Stahlkopf verschraubt zu sein. „Ungesetzliche Verbindungsaufnahme“, hat er gesagt, und „ein Jahr Haft.“ Fest kneift sie sich in die Wangenhaut, um endlich aufzuwachen. Sie hatte doch nur diesen Ausreiseantrag gestellt – seit letzten Herbst drei Mal – als der Staat, der ihre Träume beschnitt, ihr sein Janusgesicht präsentierte. Der ihr lautlos die grausamen Silben formend, „die Tochter eines evangelischen Pfarrers ist hier nichts wert“, die Immatrikulation in die Humboldt-Uni verwehrte. Schon früh wollte Else Ärztin werden – schon seit die kleine Hand Papas Taschenmesser fand – und hatte Lucy, Emma, Max … den Blinddarm entfernt. Doch pure Freude sah anders aus. Mama schaute damals schon mächtig sauer, als sie in der tiefen Höhle von Lucys Puppenbauch Mayonnaise entdeckte. Die feine, teure von Kunella, die sich Mama vom Strumpfgeld absparen musste. Aber Patienten, denen der Blinddarm platzt, muss man den Eiter doch auskratzen.

Zu Onkel Heinz wollte Else reisen, der in Marburg eine Praxis führte. Bei dem sie sich etwas abgucken konnte, während sie dort Medizin studierte. Doch nach dem dritten Negativbescheid, den die Abteilung für Inneres wie Ohrfeigen verteilte, platzte etwas in Onkel Heinz. Und in der Oberhessischen Presse erschien ein Protestartikel. Direkt auf der ersten Seite.

Nur Lars hatte Else davon erzählt, Lars, mit dem sie die erste Liebe teilte. Der ihre Scham in Stücke sprengte, wenn er sie streichelte. Noch nach all diesen Jahren glaubt sie den Druck seiner Lippen zu spüren. Auf dieser winzigen Stelle neben dem Schulterblatt. Die noch immer pocht, unheilbar verletzt, weil ein Stachel in ihr steckt.

Als IM Skorpion hatten sie Lars getauft, wie sie später in ihrer Akte las. Hochgelobt von der Stasi. Ein echter Top-Informant.

Wie ein Stück Vieh hat der Zug sie dann durch die Republik gekarrt, gekettet Hand an Hand an ihre Schwesterdelinquentin.

Und als sie – noch leicht schwankend – das massive Mauerwerk passiert, umfängt die Kälte sie mit starkem Arm, an diesem heißen, trockenen Julitag. `Oh Gott´, denkt Else, `wie soll ich hier in Hoheneck nur den Winter überleben´, in diesem Gefängnis, das sie an ein Verlies erinnert. Dann hört sie Schritte, die seltsam schallen. Auf dieser stählernen Treppe mitten in der Eingangshalle. Sieht diese Narbe, die sich zum Pfeil aufstellt, als die Wachtel, die in voller Größe vor ihr steht, die Brauen hebt. Mit Epaulettenschultern fest gestrafft, auf denen drei Sterne grell wie Talmi glitzern. Ein scharfer Schmerz drängt sich in Elses Herz, das gegen die Rippen hämmert.

„Man sieht sich im Leben immer zweimal“, hatte Olga damals gesagt,

als Else die Handkante aufrecht stellte und Olga den Blick auf ihr Schulheft verwehrte. Immer wieder schrieb sie bei ihr ab. Olga Pankow, der Parasit der Buchstaben und des Fleißes. Frau Czielinski hatte sie neben sie gesetzt, damit Olga – als Tochter eines SED-Funktionärs – in Else Lust erweckt. Auf die FDJ.

Doch nach dem roten Wind wollte sie das Fähnchen niemals drehen. 

„Abmarsch, Strafgefangene Lange“, knarrte Olgas Stimme. Und der Befehlston hallte nach in Elses Ohr, bis sie ihr Domizil erreichte. Zwölf Frauen in nur einer Zelle. In Dreistockbetten. Wie in einer Jugendherberge, der es an Charme mangelt. Ganz nah ruhte ihr Nacken auf der Pritsche am Fenster. Und wenn am Morgen die Knochen steifgefroren krachten, konnte sich auch der Kopf nicht im roten Wind drehen. Bald schlotterte die Gefängniskledage, als ihr Bauch anfing nach innen zu wachsen. Denn bei jedem Bissen, den sie in die Schüssel klatschten, schien sich ihr Magen wie ein Karussell zu drehen. Doch nach ein paar Wochen begann er es zu ertragen. Auch das trockene Brot, das in der dünnen Suppe grüne Fäden zog.

An jedem Freitag starrt sie auf Olgas Finger. Wie sie die Briefe von Vater zerreißen. In kleine Fetzen, die ihre Füße treffen. „Strafgefangene Lange, herrje, schon wieder keine Post“, schnurrt sie.

Doch wie immer kneift Else die Backen zusammen, kämpft sich zehn Stunden am Tag durch einen Berg von vergilbten Krankenhauskitteln, auch wenn die Finger im Krampf erstarrten. Denn jeder Stich bringt sie ein Stück zur Freiheit zurück,

bis zu diesem Albtraumaugenblick. Der sich von der Spule abwickelt wie ein roter Faden.

Sie starrt auf den Finger von Sara Golzow. Jede Nacht weint sie sich die Augen aus. Weil sie bereits ein halbes Jahr – ein Skandal! – ihre Tochter nicht mehr sah. Mit hypnotisiertem Blick schiebt sie ihn Stück für Stück unter die Nadel der Nähmaschine. Und Else springt auf, tobt durch den Raum, schreit

„Nicht wir, nein, ihr seid die Verbrecher!“

Was dann geschah, ist es wirklich wahr? 

Sie spürt nur noch die knotigen Finger, die sich tief in die Höhlen der Achseln bohren, den Körper, der sich kraftlos windet, während sie ihn über Stufen ziehen. Hinab, hinab. An diesen finsteren Ort. So still, so kalt, als sie die Luft in ihm erfroren, und mit zittriger Stimme singt sie ein Lied,

Oh du lieber Augustin

schreibt Else in den Schwaden der Schaufensterscheibe …

 

V3

 

* Hoheneck / MDR.DE