Von Peter Burkhard

Sie hatten den ganzen Tag in der grossen, fremden Stadt verbracht, fühlten sich wie gerädert und waren froh, ins Hotel zurückkehren zu können. Dazu bestiegen sie eine Fähre, welche alle paar Stunden über die Bucht fuhr. Als das Schiff die Meerenge vermeintlich überquert hatte und für einige Momente an der Anlegestelle lag, verliess eine Handvoll Menschen eilig den schweren Kahn und zerstreute sich in alle Richtungen. Mit den Einheimischen gingen auch die vier geschafften Touristen von Bord des Schiffes.
Kaum waren sie an Land, merkte Karin, dass etwas nicht stimmte: „Wisst ihr was? Wir Deppen sind an der falschen Stelle ausgestiegen und wie es aussieht, haben wir jetzt ein Problem!“ Ihr Freund Caspar, der die Situation ebenfalls erkannte, drehte sich um und wollte zurückrennen, doch es war zu spät. Er sah gerade noch, wie sich das Schiff rasch entfernte und ins warme Licht der Abendsonne eintauchte. Die vier Gestrandeten standen ausgelaugt auf einem schwankenden Holzsteg, der zur sicheren Mole führte, und blickten sich gegenseitig ratlos an. Am Ende dieses Steges befand sich ein kleines, weiss gekalktes Gebäude, hinter welchem sich ein riesiger, nahezu verwaister Parkplatz ausdehnte. Bis auf vereinzelte Autos und ein dichtes Wäldchen jenseits der asphaltierten Fläche konnten sie nichts erkennen. Es gab keine weiteren Häuser, keinen Strassenverkehr, überhaupt kein Leben ausser den Möwen, die schreiend über das Wasser kurvten. Auch von den Menschen, welche die Fähre verlassen hatten, war niemand mehr zu sehen, sie waren weg, wie vom Erdboden verschluckt.
Nach einer Weile begann Sven mit den Armen zu fuchteln. Er stand abseits vor einer schäbigen Anzeigetafel, geblendet von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Über Fahrplänen, einer Übersichtskarte mit dem Netz der Fährbetriebe und einem Schild „No taxi allowed“ prangte in grellen, lieblos gesprayten Buchstaben der Begriff „Rathole“.
„Karin hat leider recht und wisst ihr was?“, rief er, „das war die letzte Fähre des Tages! Vor morgen Mittag kommen wir hier nicht mehr weg, wir hocken auf einer Insel.“ Die andern gesellten sich interessiert zu ihm. „Da seht her, wir befinden uns auf diesem kleinen Eiland und dort drüben“, er machte eine leichte Drehung und deutete über das Wasser, „dort, wo die Lichter hämisch funkeln, befindet sich das Festland.“
Lea wurde ungeduldig: „Nur hier herumhängen und warten bringt nichts. Wenn wir also auf einer verdammten Insel sind und tagsüber Autofahrer diesen Parkplatz benutzen, dann wird es eine Brücke oder einen Tunnel geben. Worauf warten wir noch? Kommt schon!“
„Nur nicht so schnell, Lea!“ Ihr Freund versuchte zu beschwichtigen, „wir könnten zuerst unser Hotel anrufen, die sollen uns hier abholen. Lasst uns bei dieser Gelegenheit gleich einmal unsere Handys checken, schliesslich waren wir den ganzen Tag unterwegs.“ Das Resultat war ernüchternd: Einzig Sven hatte noch genügend Akku und Zugang zum Netz. Er entfernte sich kurz entschlossen einige Schritte und rief im Hotel an. Die andern sahen ihm gespannt nach. Schon nach wenigen Momenten verdrehte er die Augen und flüsterte tonlos „Bla, bla, bla …“
„Das geht nicht“, liess ihn der Hotelmanager wissen, „unser Shuttlebus ist unterwegs und abgesehen davon holen wir keine Gäste von der Insel ab, I’m awfully sorry, Sir.“
Caspar reagierte gereizt: „Also ihr Lieben, es wird bereits dunkel und ich habe absolut keine Lust, die Nacht hier draussen im Freien oder in diesem Scheisshäuschen zu verbringen, wo Mal für Mal das Licht ausgeht. Was sollen wir also tun?“ Obwohl allen der Gedanke völlig widerstrebte, an diesem tristen Ort zu verbleiben, wusste niemand etwas Sinnvolles zu erwidern. „Uääh! Da! Mir reichts!“ Kaum hatte sich Karin auf den Boden gesetzt, als sie wieder aufsprang und sich an ihren Liebsten klammerte. Sie zeigte zum Häuschen, wo ein paar Ratten vorbeihuschten und auf Futtersuche über die Hafenmauer verschwanden. Nun war es bei allen vorbei mit ihrer Contenance. Beklemmung und Unsicherheit nahmen überhand. Caspar stellte sich breitbeinig hin: „Jetzt lasst uns endlich einen Weg von der Insel suchen!“
„Ja genau und in welche Richtung willst du denn gehen? Was, wenn wir vergeblich suchen? Wir bleiben besser hier und verkriechen uns in diesem elenden Kabäuschen.“ Karins heftige Reaktion liess alle auf­schrecken, sie vermochte ihre spürbare Angst nicht mehr zu verbergen und weinte hemmungslos. Doch alle Tränen nützten nichts.

Im Schein seiner Stirnlampe, die er als gewiefter Reisefreak immer bei sich trug, ging Sven voran. Entschlossen, die Führung zu übernehmen, überquerte er mit den andern im Schlepptau den Parkplatz, von dessen Ausfahrt sie auf die gespenstig leere Main Street gelangten. Ein Blick strasseaufwärts verhiess nichts Gutes. Wenige hundert Meter weiter verlief der Asphalt schnurgerade ins dunkle Nichts. Man wurde sich schnell einig, in die Gegenrichtung zu gehen, zumal sich weit vor ihnen bereits die verschwommenen Umrisse einiger Gebäude erahnen liessen.
Die Leaderrolle behagte Sven, er knipste seine Stirnlampe aus und schritt zügig vor­an, immer darauf bedacht, das verunsicherte Grüppchen nicht zu überfordern. Sie marschierten schweigend und gelangten schon bald in ein bebautes Gewerbegebiet mit gesichtslosen, tristen Betonklötzen. Baugruben, Büros und einige Fast-Food-Restaurants sowie kleinere Ladengeschäfte deuteten darauf hin, dass hier tagsüber Menschen verkehrten. Jetzt war alles einfach nur ausgestorben, spärlichst beleuchtet und unheilvoll. Karin hielt tapfer Schritt, begann aber erneut zu weinen und redete vor sich hin: „Ich fühle mich beobachtet. Woher wissen wir, dass wir allein unterwegs sind?“
Ganz allein waren sie tatsächlich nicht, standen doch seit einigen Häuserblocks nackte, mit den verrücktesten Motiven bemalte Schaufensterpuppen allein oder in Gruppen an den gottverlassenen Strassenkreuzungen. Während andernorts lebensgrosse Löwen mit aufgemaltem Schachbrettmuster, lilafarbene Kühe oder in Taucheranzüge gesteckte Bären für eine Stadt werben, schienen hier diese leblosen Menschenimitationen tagsüber nach Beachtung zu gieren.
„Mensch, Caspar pass doch auf, wo du hintrittst!“ Lea riss mit ihrem Aufschrei das ganze Grüppchen aus seiner Lethargie, nachdem ihr Hintermann ungebremst in sie hinein geprallt war.
„Wenn du einfach Knall auf Fall stehen bleibst, nur um diesen Kreaturen nachzugaffen, dann kann ich doch …“
Sven hielt an und drehte sich genervt um: „Hey, bitte Freunde entspannt euch!“

Sie standen vor einem Bürohaus, neben dessen Hauseingang ein grell geschminkter Rotschopf in einem aufgemalten Sternenbanner ihre Winchester 73 präsentierte. Sven deutete auf die Polyesterfigur und lachte: „Seht ihr, so verwaist ist diese Insel gar nicht, wir sind hier gut bewacht.“ Im selben Moment riss das synthetische Weibsbild seine Knarre hoch, kreischte vor Lachen, um nur Sekunden später die Waffe wieder sinken zu lassen und in seine ursprüngliche Position zurückzukehren. Die Vier erschraken dermassen, dass es lange dauerte, bevor Caspar die ersten Worte hervorbrachte: „Himmel, Arsch und Zwirn, das gibts doch nicht!“ Mutig trat auch er einen Schritt auf die Kunststofflady zu, worauf sich das Schauspiel wiederholte. Dann setzten die Frauen den Mechanismus in Betrieb, wieder und wieder und die Gruppe krümmte sich vor Lachen, bis Sven endlich zur Besinnung mahnte und seine Gefährten mühselig in die Realität zurückholte: „Freunde, wir sollten weiter! Übrigens, nutzt unseren kurzen Halt, falls ihr vorher noch pinkeln müsst!“

Es war bereits nach Mitternacht und kalt geworden, als die Schicksalsgemeinschaft am Eingang eines zweispurigen, schwach beleuchteten Strassentunnels anlangte. Eine riesige Last schien von allen abzufallen, Lea hielt ihren Liebling eng umschlungen, während die andern zunächst ergriffen stehen blieben, bevor Caspar seinen Freund anschubste und japste: „Danke Kumpel, gut gemacht!“
Sven musste sich überwinden, seine Freunde in den unbekannten Tunnel zu führen, doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie waren seit einer guten halben Stunde in der kalten Röhre unterwegs, als die Beleuchtung erlosch. Verdattert blieben alle nahe beieinander stehen. Im schwächelnden Licht von Svens Stirnlampe sprach Caspar beruhigend auf die Frauen ein und schlug vor, sich beim Gehen vorsichtshalber paarweise zusammenzutun. So gingen sie Hand in Hand wie Kindergartenschüler, weiter Richtung Festland, noch immer im Vertrauen, diesem Irrsinn endlich zu entkommen.
„Da vorn, seht ihr das?“ Leas Stimme überschlug sich: „Die beiden Lichter, verdammt, seht ihr das?“ Ohne anzuhalten, flüsterte Sven: „Natürlich haben wir das auch gesehen, beruhige dich Lea! Lasst uns ruhig weitergehen, dann werden wir erfahren, was uns dort erwartet.“ Die Lichter nahmen schnell an Intensität zu und begannen die Nachtwanderer zu blenden. Wie die feurigen Augen eines lauernden Ungetüms wurden sie greller und unheimlicher.
„Ich will nicht mehr weiter, ich will noch nicht sterben!“ Karin hielt ihren Freund mit aller Kraft zurück und weigerte sich standhaft weiterzugehen. Noch bevor Caspar antworten konnte, ging Sven dazwischen: „Okay, dann setzt euch hier hin und verhaltet euch still, ich schaue mir das Ganze aus der Nähe an.“
Sein Herz raste, als er zum Äussersten bereit auf die schwelende Gefahr zuging. Ausser einem unheilvollen, leisen Tuckern war nichts zu hören. Das Licht blendete ihn jetzt derart stark, dass sich sämtliche Umrisse auflösten und ihn jeglicher Orientierung beraubten.

„Hey, ich habe euch kommen sehen, ich bin gleich bei euch!“ Die kernige Stimme aus dem Dunkel einer Nische in der Tunnelwand liess Sven zusammenfahren. Dann sah er ihn. Der Typ lachte auf, zog den Reissverschluss seines Hosenladens hoch und trat mit einem breiten Grinsen ins Scheinwerferlicht. „Hab ich Sie erschreckt? Oh, das tut mir leid!“
Erst jetzt erkannte Sven den kleinen Shuttlebus des Hotels und dessen Fahrer, der den anderen zuwinkte: „Na, hat jemand Lust mitzufahren?“

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