Von Eva Fischer

Ich blättere den Frühlingskatalog durch. Es werden Blusen, Hosen, Jacken, Mäntel, Kostüme und Schuhe angeboten, vorzugsweise in mausgrau. Alles muss raus! Alles günstig! Bequemer Sitzkomfort für Ihr Home-Office! 

Am liebsten würde ich den Katalog gleich in der blauen Tonne entsorgen, aber wie komme ich dann an mein neues Outfit? Sollte ich mich nicht endgültig von dem Gedanken verabschieden, dass man den Frühling modisch willkommen heißen soll? 

Vogelgezwitscher dringt durch das geöffnete Fenster und ich beschließe, die laue Frühlingsluft zu einem Spaziergang zu nutzen. Die Straßen sind leer. Es zieht mich magisch zu unserer kleinen Geschäftsstraße. Das Schild „König“ prangt noch in roten Lettern über der Boutique, aber im Schaufenster herrscht gähnende Leere. Wo einst Schaufensterpuppen die neueste Kollektion vorführten, sind nur noch drei nackte Schaufensterdamen übriggeblieben. Sie scheinen genauso enttäuscht von der Entwicklung zu sein wie ich. Ihr Blick geht ins Leere. Ihre Pupillen schimmern feucht oder sind es meine?

Ihr seid jetzt auch arbeitslos, denke ich. Noch schlimmer, sie werden bald kommen, euch holen, um euch zu verbrennen. Ihr seid nutzlos geworden im digitalen Zeitalter. 

Während ich mich unserem gemeinsamen Schmerz hingebe, kommt mir plötzlich eine Idee. Ich könnte Videos von euch drehen und ins Netz stellen. Vielleicht kriegen wir ein paar Klicks? Die mittlere Schaufensterdame zwinkert mir zu, als fände sie meine Idee super. 

Leider trennt uns die Schaufensterscheibe voneinander. Wie komme ich an euch ran? Ich zücke das Handy und rufe Herrn König an. „Kein Anschluss unter dieser Nummer“. Das darf doch nicht wahr sein. Wie konnte er verschwinden und seine Schaufensterdamen so lieblos und nackt zurücklassen? Wenigstens ein Kleidchen hätte er ihnen gönnen können. Das blaue mit den weißen Punkten war mein Liebling. 

„Ich muss noch über einen Entführungsplan nachdenken, aber ich komme wieder“, verspreche ich den drei Grazien.

Sie verbeugen sich galant. Oder bilde ich mir das nur ein?

Da habe ich mir etwas vorgenommen! Eine zu retten, wäre sicher schon nicht einfach, aber drei …? 

Das kann ich nicht alleine stemmen. Ich brauche Hilfe und rufe meine Freundin Aische an. Sie hat zwei Brüder. Vielleicht kann einer die Ladentür mit einem Dietrich oder so öffnen. Bisher habe ich mich noch nie mit Einbruch beschäftigt. Streng genommen ist es auch keiner, denn der Laden ist leer und die Schaufensterpuppen sind mittlerweile wertlos. Es handelt sich also eher um eine Rettungsaktion.

„Das ziehen wir Frauen alleine durch“, sagt Aische. Sie lehnt die brüderliche Hilfe kategorisch ab. Wir machen aus, dass wir uns heute Abend um zehn vor dem Laden treffen. Da läuft kein Mensch mehr auf der Straße herum. Auch die Wohnungen über den Läden stehen mittlerweile leer. Da interessiert es keine Socke, wenn wir mit einem Pflasterstein das Schaufenster einschlagen.

*

Eine Geisterstadt ist schon tagsüber unheimlich, aber im Dunkeln, im Schein der funzeligen Sparlaternen, ist sie noch gruseliger. Doch wir sind beide mit einem Pflasterstein bewaffnet. Den könnten wir zur Not auch einem überraschenden Angreifer auf den Kopf hauen. Aische inspiziert fachgerecht das Umfeld. Plötzlich zerreißt ein Pfiff die Stille der Nacht und ich schaue nach, was Aische entdeckt hat. Ich fasse es nicht. Die Ladentür ist gar nicht abgeschlossen. Wir lachen uns kringelig über uns und Herrn König.

Die drei Mode-Damen sind nicht unbedingt schwer, doch ziemlich sperrig zu transportieren.

„Reicht es nicht, wenn wir zwei retten?“, möchte Aische wissen. 

„Nach welchen Kriterien sollen wir vorgehen? Die sehen doch alle drei gleich aus“, gebe ich zu bedenken. 

„Wir könnten deinen Bruder Yassin bitten, uns beim Tragen zu helfen“, schlage ich vor.

Aischa schüttelt vehement den Kopf. „Vergiss es!“

„Na ja, die Nacht ist noch jung und wir haben sonst nichts vor. Also, los geht’s!“, feure ich uns an.

Erstmal testen wir die bestmögliche Haltung. Huckepack oder Walzerschritt? Auf dem Weg zu meiner Wohnung begegnet uns niemand. Haben wir gerade mal wieder Ausgangssperre? Wer kann das schon immer noch nachhalten? Zumindest fährt kein blödes Polizeiauto Kontrollrunden. Zehn Minuten Fußweg können lang werden, wenn man quasi eine zusätzliche Person mit sich rumschleppt, auch wenn diese keinen Widerstand leistet. Noch schlimmer sind die Treppen zu meiner Wohnung. Schließlich wollen wir nicht, dass sich die Damen den Kopf an der Mauer stoßen, wenn es um die Ecken geht. Kaum haben wir die beiden Grazien im Wohnzimmer abgestellt, machen wir uns schnaufend erneut auf den Weg.

„Rettet nicht nur zwei! Rettet alle drei!“, skandieren wir mittlerweile übermütig auf dem menschenleeren Bürgersteig.

Heute ist definitiv unser Glückstag. Es ist noch nicht Mitternacht, als wir unseren neuen Gästen mit einem Glas Sekt zuprosten.  

*

Die Kahlköpfigen brauchen Haare. Also bestellen wir im Internet Perücken.  Eine bekommt einen flotten, blonden Bubikopf, die andere kriegt lange, gewellte, schwarze Haare, die dritte einen rothaarigen Igelschnitt.  Nun können wir ihnen auch Namen geben. Wir nennen sie Twiggy, Carmen und Mecki. 

Passend zur Haarfarbe werden sie von uns geschminkt. Ein schwarzes Muttermal für Twiggy, lange Wimpern für Carmen und Sommersprossen für Mecki.

Die Damen sind alle drei mega-Twiggy-schlank. Sie können maximal Größe 34 tragen. Besser wir schneidern ihnen ihr Outfit.

Aische hat die Idee, in den Kleiderschränken der Verwandtschaft nach interessanten Stoffen Ausschau zu halten. Tischdecken tun es auch, sowie ausrangierte Lederjacken. Sogar Wollreste in allen Farben sind willkommen. Unsere Vorräte stapeln sich in meinem Wohnzimmer, denn wir finden immer neue Spender: die Nachbarin, die Bekannte meiner Mutter. Auch Aisches Cousinen sind nicht knausrig und stellen uns toll gemusterte, zu eng gewordene Kleider zur Verfügung. 

Meine Freundin hat ihr Lager mittlerweile bei mir aufgeschlagen und sich die Nähmaschine von ihrer Großmutter ausgeliehen. Keine Ahnung, woher sie nähen kann. „Das haben wir doch in der Schule gelernt“, meint sie. „Da muss ich wohl gefehlt haben“, gestehe ich und beschäftige mich lieber mit meinem Handy.

Ich schieße Fotos von unseren drei Beautys und ihren unterschiedlichen Outfits. Aische hat immer neue verrückte Ideen, kombiniert wild unterschiedliche Materialien und Farben. Ich suche nach entsprechender Hintergrundmusik und drehe kleine Videoclips.  

Die Zahlen im Netz lösen einen Rausch bei uns aus. Erst bekommen wir täglich hundert Klicks, dann sind es fünfhundert, tausend und schließlich haben wir zehntausend Follower! Wahnsinn! Die Zahlen schießen immer weiter nach oben, gehen förmlich durch die Decke. 

Nach drei Wochen bekommen wir ein Angebot von einer Werbeagentur. Jetzt bringen uns Twiggy, Carmen und Mecki sogar noch Schotter. Wir fassen es nicht, aber die absolute Krönung ist das Angebot eines Modeherstellers. Er will uns die Urheberrechte abkaufen und die Mode nachschneidern. „Grass TCM“ soll unsere neue Marke heißen. Als Logo sprießen drei grüne, stilisierte Grashalme aus dem grauen Boden. Der modrige Einheitsbrei ist Vergangenheit! Die Jugend will wieder kreativ experimentieren dürfen, Spaß an der Mode haben. Eine neue Mode-Revolution wie einst zu Zeiten von Flower-Power ist im Anmarsch. Alles ist erlaubt, was gefällt und Lebensfreude ausstrahlt. 

*

Eines Tages schellt es an der Wohnungstür. Yassin, Aisches Bruder, ist der unerwartete und ungebetene Besucher.

„Ha, Schwesterlein! Habe ich dich endlich erwischt.“ Er schnalzt mit der Zunge.

„Ich habe schon gesehen, was im Netz los ist. Also sagen wir fifty-fifty. Ich kriege die Hälfte von eurem Gewinn ab, dafür verrate ich dich nicht bei unseren Eltern.“

In Aisches Gesicht steigt Zornesröte. Sie ballt die Fäuste. Vermutlich will sie gleich zuschlagen. Ich gehe in Deckung, um nicht zwischen die Fronten der geschwisterlichen Fehde zu kommen.

Yassin hebt beschwichtigend beide Arme.

„Ruhig Blut, Schwesterlein! Das war doch alles nur Spaß. Ich wollte fragen, ob ihr auch einen Job für mich habt.“

„An welche Position hast du so gedacht. Als Manager?“, fragt Aische spöttisch.

Yassin grinst: „Zum Beispiel!“

Ich betrachte wohlwollend seinen durch das Fitnessstudio gestählten Body und finde schon, dass er in unser Team passt. 

„Yassin könnte doch Model für männliche Mode sein“, schlage ich vor.

Dieser schaut mich entgeistert an.

„Glaubst du, ich bin schwul oder was?“, raunzt er mich an und knallt die Tür laut hinter sich zu.

„Das hast du gut gemacht, Marga!“, gratuliert mir meine Freundin freudestrahlend.

Dumm gelaufen, passt wohl besser.

 

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