Von Marie Masse

Romea schlug die Augen auf und schaute zum Wecker. Acht Uhr – und Sonntag! Sie spürte gleich die Vorfreude. Sonntags brauchte sie keine längere Zeit, um sich auf die kleinen Glücksmomente der kommenden Stunden zu besinnen und damit einen Grund zum Aufstehen zu finden.

Denn sonntags hatte sie eine Verabredung: Sie traf sich mit ihrem Julius.

Sie ging nicht wie unter der Woche für ihre zweistündige Tour in den nahegelegenen Park, sondern nahm den Bus zur Stadtmitte. Nur an diesem Vormittag traute sie sich dahin, wenn es ruhig war. Bei der werktäglichen Hektik befürchte sie angerempelt zu werden und trotz Rollator den Halt zu verlieren. Und sie genoss, die Woche mit einem Höhepunkt abzuschließen.

Selbstverständlich nahm sie sich Zeit für das Anziehen. Nicht wie sonst die alten Jeans und einen ausgeleierten Pulli überstreifen. Sie zwang sich an diesem Tag in gut sitzende Jeans und suchte sich eine bunt gemusterte Fleecejacke aus. Dass sie mit ihren neunzig Jahren nur noch mühsam gehen konnte, war kein Grund, auf ihren geliebten sportlichen Look zu verzichten … in dem Julius, selbst ein begeisterter Outdoor-Fanatiker, sie immer noch schön fand, da war sie sich sicher.  

Pünktlich erreichte sie den Bus und stieg beim Rathausplatz aus. Die Fußgängerstraße lag ruhig vor ihr. Auch die Caféterrassen. Romea entschied sich für den „Domblick“.

„Was darf´s heute sein?“, fragte die Kellnerin.

„Eine heiße Orangenschokolade, bitte.“ Trotz des sonst festen Ablaufs ihres Ausflugs liebte sie, jedes Mal in einem anderen Lokal einzukehren und ein anderes warmes Getränk zu bestellen. Selten einen Kaffee, den trank sie zu Hause. Außerhalb des Hauses dürfte es etwas Originelleres sein. Sonntag war ja ihr `Besonderer Tag´.

Sie genoss ihr Getränk. Nicht nur den Geschmack, sondern auch den Moment an sich. Dieses freiwillige Anhalten vor dem nächsten wichtigen Schritt. Die Ungeduld auf ein Wiedersehen in sich zu spüren, und gleichzeitig das Verlangen, es weiter nach hinten zu verschieben, damit der Vorhang nicht so schnell zurückfiel. Manchmal verstand sie selbst nicht, wie sie eine solche Liebe für Julius noch empfinden konnte, nach all den Jahren, Jahren des gemeinsamen Lebens, das nicht immer einfach gewesen war, und Jahren der schmerzhaften Trennung.

Nachdem sie bezahlt hatte, machte sie sich auf den Weg durch die Fußgängerzone. Die Schaufenster bewundernd, ging sie noch langsamer als sonst, machte öfter Pausen als im Park.  

Eine halbe Stunde später kam sie an ihrem eigentlichen Ziel an. Da stand es, das Geschäft, das sie vor fünfzehn Jahren, genau drei Jahre nach Julius‘ Tod, wiederentdeckt hatte. Den Laden gab es schon vorher, dort hatten sie und Julius oft ihre Ausrüstung gekauft, von einfachen Laufschuhen bis zum teuren Bergsteigerequipment. Zu dieser Zeit waren die Schaufenster nie etwas Besonderes gewesen. Dann hatten neue Besitzer das Geschäft übernommen und anscheinend neben ihrer sportlichen Seele auch ihre künstlerische aufleben lassen.

Gleich hatte sie gewusst, dass sie sich nicht mehr vor einem leblosen Stein auf dem Friedhof quälen musste, unter dem nur noch eine verwesende Leiche und sonst nichts auf sie wartete. Denn da in dem Schaufenster stand er. Da war er noch lebendig. Ihr geliebter Ehemann. Selbstverständlich wusste sie, dass er nur eine Illusion war, so verwirrt im Kopf war sie noch nicht! Aber es war ein Wachtraum, den sie jede Woche wieder träumte.

Sie kannte die neuen Ladenbesitzer nicht, wollte es auch nicht, es hätte die Magie nur entzaubert. Sie war ihnen aber unheimlich dankbar, dass sie nicht nur die Schaufensterpuppen kleideten, sondern immer eine passende Landschaft kreierten, in der die Puppen ihr eigenes Leben zu leben schienen. Und alle drei bis vier Wochen wartete ein neues Dekor auf sie. So wie heute.

Sie stellte den Rollator vor das Fenster, zuerst etwas nach hinten bei der Mitte der Ladenbreite, und setzte sich. Deshalb auch würde sie nie während der Öffnungszeiten kommen, es wäre gefährlich … und sie wäre zu sehr aufgefallen, wahrscheinlich nicht mehr für zurechnungsfähig gehalten worden. Denn auf ein Flüstern mit Julius zu verzichten kam nicht in Frage.

Sie beobachtete die neue Szenerie. Bevor sie näher vor Julius´ Platz ging, wollte sie die Atmosphäre spüren, die Details wahrnehmen. Heute eine Berglandschaft. Während vorn auf dem Boden ein Pfad nachgebaut war, auf dem zwei Kinder und eine Frau mit der entsprechenden Kleidung und Ausrüstung gingen, wartete eine andere Frau auf sie etwas weiter bei einem Bach. Der Hintergrund war diesmal ein Bergposter. Auf der linken Seite stand ein Fels so groß, dass von oben Julius auf die anderen hinunterschaute. Ein Julius, wie ihn Romea in Erinnerung hatte, als er noch als Sechzigjähriger mit voller Begeisterung alle möglichen Abenteuer vorschlug, bevor er mit Siebzig umgekippt und kurze Zeit später seinem Herzinfarkt erlegen war.    

Romea schob den Rollator an ihn heran. „Hallo Julius! Bist du wieder ohne Sicherung geklettert? Du weißt, dass ich das nicht mag. Klar, du wolltest wahrscheinlich bei den Frauen und Kindern ein bisschen angegeben, ich kenne dich ja. Aber ehrlich, brauchst du das wirklich?“

Seltsamerweise hatte sich Romea nie als eine der Frauenpuppen gesehen. Während Julius keine Zeit gehabt hatte, richtig zu altern, hatte sie lernen müssen, mit schwindenden Kräften umzugehen. Die Schmerzen und die Steifheit verhinderten irgendwelche sportliche Einbildung. Eifersucht auf die jetzigen Komparsinnen ihres Mannes spürte sie auch nicht. An seiner Treue und seiner Liebe für sie hatte Romea nie gezweifelt. Und so würde es die paar Jahre bleiben, die sie noch zu leben hatte.

Sie fixierte Julius‘ Gesicht, um seine stumme Antwort nicht zu verpassen, und sah seine betretene Miene. „Ja, sag´ ich doch! Ihr kennt euch nun lange genug, da im Schaufenster, und alle wissen, dass du immer noch fit bist.“ Sie wartete schweigend. Er war nie ein großer Redner gewesen, aber seitdem er hier lebte, brauchte er noch mehr Zeit, um irgendwelche Gefühle durchsickern zu lassen. „Ach, hör mal auf, was macht es denn, wenn du ein paar Sekunden mehr brauchst als früher! Du stehst da oben und hast wahrscheinlich eine tolle Aussicht, oder?“ Sie beobachtete sein Gesicht und kicherte. „Schmeichler! Als ob es noch stimmen könnte, dass ich die schönste Aussicht sei! Genieß lieber die Landschaft um dich herum, als etwas zu erzählen, das ich nicht glauben kann … Und nun, warte mal kurz.“

Sie streifte ihren kleinen Rucksack ab und zog einen Zettel heraus, auf dem sie die Anekdoten ihrer Woche geschrieben hatte. Um nichts zu vergessen, sammelte sie im Laufe der Tage Stichworte. Sie war stolz, dass diese noch reichten, damit sie sich an die ganze Angelegenheit erinnerte.

„Die Nachbarin hat ihr Kind gekriegt …“, fing sie beim ersten Punkt an.

Sie machte dazwischen kleine Redepausen, Julius durfte ja auch antworten. Für diese Gespräche musste sie die Brille absetzten, damit sich in der entstandenen Verschwommenheit ihre Fantasie voll entwickelte. Zuerst kamen die Worte Julius´ immer zögernd, bis sie endlich die Bewegungen seines Munds wahrnahm und der Dialog flüssig wurde. Zu dieser Uhrzeit und sonntags waren eventuelle Zuschauer kein Problem. Es kam selten jemand vorbei. Wenn doch, wartete sie kurz schweigend. Ihr war das Skurrile ihres Verhaltens bewusst, aber sie störte dabei niemanden. Wenn es sie glücklich machte, warum darauf verzichten?

„So, das war´s für heute meinerseits. Jetzt, erzähl von dir.“ Dabei gab es die guten Wochen, mit Veränderungen in seinem Leben, so wie diese vergangene, und die langweiligeren, in denen er nur verharrte. Ein paar Anekdoten über die Passanten hatte er dennoch meistens zu berichten, wie über die Gespräche, die die Puppen in der Nacht miteinander führten.

„Ich verstehe gar nicht, wieso ich unbedingt dieses verdammte Gerät benützen soll.“ Julius schaute empört auf das GPS in seiner Hand. „Wir beide sind doch immer gut angekommen, wenn wir nach der Karte marschiert sind. Und als du gestürzt warst, weißt du noch, 1995, da konnte ich doch die Rettung mit dem Handy anrufen! Mit dem hier verstehe ich Bahnhof.“

„Hör auf, Julius, du freust dich auf eine Herausforderung, sonst wäre es dir langweilig.“

Julius warf ihr einen schuldbewussten Blick zu. Ja, richtig gerätselt: Er wollte nur Mitleid. Ein neuer Zug, seitdem er in diesem Schaufenster lebte. Sie verzieh ihm, denn er drückte damit nur den Frust über seine Lage aus.

Verlegen wechselte er das Thema. „Romea, mit den anderen haben wir eine Bitte an dich. Vor zwei Tagen hat uns ein Kind mit seiner Mama lang beobachtet und gesagt, es würde gern auf einen Berg steigen, aber anscheinend kann sich die Familie finanziell keinen Ausflug leisten. Könntest du den Geschäftsführer fragen, ob er Kinder hier auf diesen Felsen das Klettern nicht beibringen kann?“

Romea musste schlucken, sie mochte es nicht, ihm ihre Hilfe zu verweigern. „Nee, auf keinen Fall. Die werden mich glatt für verrückt halten!“

„Du sagst nicht, dass es von uns kommt.“

„Ach ja, und glaubst du wirklich, dass sie mich, die Alte mit Rollator, ernst nehmen? Wenn sie mich überhaupt anhören … Nee, tut mir leid, aber das bringt nichts.“

Julius zuckte resigniert mit den Schultern, als hätte er mit dieser Antwort gerechnet.

Sie plauderten noch eine Weile. Am Ende hatte sie sich immer in die Situation so eingefühlt, dass sie nun die Brille aufsetzen konnte.  „Tschüss, Julius, pass auf dich auf da oben, stürz bitte nicht, ich brauche dich nächste Woche. Und so wie du nun stehst, kann ich dir sagen ‚gute Nacht, gute Nacht!´“ Sie lächelte über sein verständnisloses Gesicht. „Tja, streng deine grauen Zellen an, immerhin sind deine jünger geblieben als meine! Ein Hinweis: Denk an deine Position auf diesem Felsen und meine hier unten. Und daran wie oft wir gelacht haben, dass gerade wir, mit unseren Vornamen, uns gefunden haben!“

Sie schwieg und ließ ein letztes Mal den Zauber wirken. Ein Augenblinzeln seinerseits. Sie durfte sich umdrehen.

 

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