Von Katharina Rieder

Es war frostig. Ein anheimelnder Winterzauber lag über der Stadt. Dicke Flocken senkten sich vom Himmel und der Wind wirbelte den am Boden liegenden Schnee auf. Néa stapfte neben ihrer Mutter auf dem bedeckten Gehsteig her und hinterließ kleine gewellte Fußspuren im frischen Schnee. 

„Mama, ich vermisse Antonin so sehr! Kennst du dieses Gefühl, wenn du morgens munter wirst und schon ganz traurig bist?“

Veronikas Herz dehnte sich. Manche Erfahrungen wiederholten sich von Generation zu Generation äußerst eigenwillig. Sie blieb stehen, verharrte kurz an Ort und Stelle, um sich die richtigen Worte zurechtzulegen.

„Weißt du, als ich so alt war wie du, ging es mir genauso. Meine allerbeste Freundin zog eines Tages mit ihren Eltern in eine andere Stadt. Ich habe sie sehr vermisst!“

Bei dem Gedanken an ihre damalige Seelenfreundin klopfte bei Veronika die Wehmut leise an. Ein dumpfes, klebriges Gefühl, das in ihrem Innersten anhaftete. 

„Lass uns eine heiße Schokolade trinken gehen!“, lockte Veronika.

Ein kleines, reines Lächeln huschte über Néas Gesicht. Sie betraten das behagliche Café am Ende der Straße. Ein dezenter Duft von Äpfeln und Zimt ruhte in der Luft. Sie klopften sich den Schnee von den Stiefeln und wählten ein lauschiges Plätzchen neben dem warmen, gekachelten Ofen. Außer einem ergrauten Mann, der sich hinter einer Zeitung verschanzt hatte, und Marie, die hier schaffte, war niemand zu sehen. 

„Hallo Marie!“

Marie winkte den beiden freundlich zu.

„Zweimal wie immer?“, erkundigte sie sich. 

„Ja, bitte!“, bestätigte Veronika. „Weißt du, wenn Antonin wirklich der Richtige für dich ist, dann wird euch das Schicksal bestimmt wieder zusammenführen!“ 

„Was ist denn Schicksal, Mama?“

„Hm, lass mich kurz überlegen –. Ah, da fällt mir eine Geschichte dazu ein.“

„Oh ja!“

Néa sah ihre Mutter erwartungsvoll an. Marie stellte zwei dampfende Tassen mit heißer Schokolade vor ihnen ab. Veronika bedankte sich. Sie begann zu erzählen: „Es war einmal eine junge Frau. Ihre Freunde nannten sie Vroni. Sie trauerte und wusste nichts Vernünftiges mit sich anzufangen. Daher verbrachte sie ihre Zeit Bier trinkend mit Taugenichtsen auf einer Sitzbank mitten in der Stadt.“

 „Aber warum war sie denn traurig, Mama?“

„Ja warte nur ab, mein Schatz!“, forderte Veronika ihre Tochter auf. 

„An jenem schicksalhaften Tag lungerte sie wieder einmal dort herum. Sie starrte schnurgeradeaus in das Schaufenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ein Verkäufer kleidete gerade Schaufensterpuppen neu ein. Er mühte sich mit einer weiblichen Puppe ab und versuchte dieser ein weißes, luftiges Kleid anzuziehen. 

Ganz in der Nähe landete in der Zwischenzeit Dolasilla auf dem Kuppeldach des Naturkundemuseums.“

„Dolasilla, die Kriegsheldin aus Südtirol mit den treffsicheren Pfeilen, von der du mir schon einmal erzählt hast?“

„Genau die! Dolasillas Vater hatte sie aus dem Götterhimmel auf die Erde entsendet und offensichtlich den Landeplatz falsch berechnet.“ 

„Hihi!“, kicherte Néa.

„Dolasilla schwirrte in einem unbemerkten Augenblick auf den Boden! Unten angekommen, machte sie sich zielstrebig daran, ihre Mission zu erfüllen. Einige Passanten drehten sich verwundert nach ihr um. Ihre fremdartige Aufmachung im Kriegspanzer, den Bogen über der Schulter und den Köcher auf dem Rücken, sorgte für Aufsehen.

Vroni hingegen saß immer noch etwas beschwipst auf der Bank, bewunderte das weiße Kleid in der Auslage. Die Schaufensterpuppe bewegte sich mit einem Mal gar geisterhaft hinter der Glasscheibe. Die Puppe verwandelte sich. Vroni glotzte mit heruntergeklappter Kinnlade zu. Es handelte sich wahrhaftig um Aphrodite, die Göttin der Liebe. Göttervater Zeus hatte sie mit der gleichen Aufgabe betraut. Aphrodites und Dolasillas Väter machten sich einen Spaß daraus, ihre Töchter heimlich gegeneinander in den Wettkampf zu schicken. Amüsiert schauten sie mit einem Glas Rotwein in der Hand vom Götterhimmel aus zu. 

Aphrodite raffte ihre weiße trojanische Tunika und schwebte direkt auf Vroni zu. Vronis Bierdose purzelte auf den Boden. Der Inhalt ergoss sich schäumend auf dem Asphalt. Aphrodite schlüpfte schnell wie der Blitz in Vronis Körper.“

„War die Liebesgöttin dann in Vroni drinnen?“, erstaunte sich Néa und kuschelte sich an ihre Mutter. 

„Mama tanken“ nannte Néa solche Annäherungen. Veronika legte den Arm um ihre Tochter, ihr Kopf kam auf Néas zu ruhen. Sie nahm einen tiefen Atemzug. Der feine, naturgegebene Duft, den nur Kinder ausströmen, erzeugte ein verbindendes, seliges Gefühl, das sich langsam und wohlig in Veronikas Körper ausbreitete. 

„Ja, Aphrodite dehnte sich in Vronis Leib aus. Sie nahm Besitz von ihrem Geist. Vroni hörte eine innere Stimme – es war Aphrodite, die aus ihr sprach – die ihr ‚Mitkommen‛ befahl. Schwungvoll schwankte sie los. 

Dolasilla marschierte indessen in voller Kriegsmontur direkt auf die beiden zu.

‚Das gibt es doch nicht! Was macht die denn hier?‘, entfuhr es Dolasilla lauter als beabsichtigt. 

Göttinnen erkennen einander auch, wenn sie eine andere Gestalt annehmen, musst du wissen! Dolasilla hätte sich gerne in Luft aufgelöst. Sie hielt Aphrodite für eine selbstverliebte Zicke. Doch zu spät, die Göttin der Liebe hatte sie schon erkannt. Sie schlenderte hoheitlich auf sie zu.

‚Na, wenn das mal kein Zufall ist! Die Schöne und die ruppige Kriegsgöttin gemeinsam auf der Erde und dann noch in derselben Stadt!‘, spottete sie.

‚Ruppig! Bah! Was zum Donner machst du hier?‘, fragte Dolasilla und rempelte Vroni alias Aphrodite an. 

‚Na, warte, du Biest!‘, rief Aphrodite aus und zupfte ihr Kleid zurecht. 

Sie verließ kurz Vronis Körper, um sich in Dolasillas Geist zu zwängen. In Sekundenschnelle erfuhr sie die Mission ihrer Kontrahentin und ihr Gemüt kühlte sich wieder etwas ab. Dann schlüpfte sie zurück in Vronis Körper. 

‚Darf ich vorstellen, das ist Vroni, derer ich mich bemächtigt habe! Ich fürchte, unsere Väter haben uns wieder einmal, mit derselben Aufgabe betraut. Lass uns den Auftrag gemeinsam beenden!‘, schlug Aphrodite vor.

‚Verstehe! Diese Gauner! Wir sollen ihnen den Wein versalzen!‘

Dolasilla grinste listig.

Ihre Wege trennten sich wieder. Aphrodite schwankte in Vronis mickrige Bude. Dort angekommen guckte sie sich gelassen und gefasst um. Pizzakartons stapelten sich im Flur, Bierdosen lagen am Fußboden zerstreut herum. Es roch nach einer Mischung aus schalem Bier, Schweiß und Fett.

‚In die Dusche mit dir! Denk daran, die Zähne zu putzen!‘, wies Aphrodite herrisch an. 

Verwirrt und weinerlich folgte Vroni Aphrodites Anweisungen. Sie fragte sich, wie zum Zeus es sein konnte, dass die Göttin der Liebe dermaßen ihren freien Willen zermürbte. Kurze Zeit später schlurfte Vroni in ihr Wohnzimmer zurück. Das luftige weiße Kleid aus der Auslage lag schon parat. Folgsam schlüpfte sie hinein. 

‚Los! Los!‘, lockte Aphrodite Vroni raffiniert aus der Wohnung.

In der Zwischenzeit pirschte sich Dolasilla unauffällig an Jonas heran. Er lehnte mit gelockerter Krawatte an einem der Stehtische vor einem Bistro namens ‚Fish for Friends‘.“

„Der heißt ja gleich wie Papa!“, freute sich Néa und rutschte auf der Ofenbank hin und her. Ihre Beine zappelten. Veronika fuhr schmunzelnd weiter fort: „Dolasilla brachte sich hinter einem Rosenbusch in Stellung. Sie wartete dort geduldig auf ihren Einsatz.“

„Und was hatte Aphrodite vor, Mama?“, erkundigte sich Néa und nahm den letzten Schluck ihres Kakaos.

„Aphrodite steuerte Vroni durch die Stadt. Dolasilla fischte indessen einen ihrer Silberpfeile aus dem Köcher, spannte diesen ein und zog mit drei Fingern ihrer rechten Hand den Pfeil zu sich heran. Der Bogen war abschussbereit gespannt. Vroni bog um die Ecke. Sie steuerte direkt auf Jonas zu, der vertieft in seine Unterlagen noch an selber Stelle vor ‚Fish for Friends‘ ausharrte.“

Néas Hand krallte sich in Veronikas. Veronika schlang ihren Arm um ihre Tochter. 

„Dolasilla wartete noch ein paar Sekunden und schickte ihren durchsichtigen Pfeil los. Treffsicher, wie immer, fand er sein Ziel. Jonas verspürte einen eigenartigen Schmerz an seinem Oberschenkel, schreckte hoch und stieß mit Vroni, die von Aphrodite zeitgleich einen sanften Schubser in Jonas Richtung erhielt, zusammen. Er versank in Vronis himmelblauen Augen. Die roten Rosen auf der gegenüberliegenden Seite verbreiteten einen betörenden Liebesduft. Vroni stand wie erstarrt da. Sie glaubte tausende kleine Bienchen in ihrem Bauch tanzen zu spüren. 

Und so etwas, mein Schatz, nennt man Schicksal. Wenn eine höhere Macht dazwischenfunkt, um eine Entscheidung zu fällen, auf die wir Menschen keinen Einfluss haben.“

Néa sah ihre Mutter mit geweiteten Augen an. 

„Glaubst du, dass Aphrodite eines Tages auch bei mir auftauchen wird?“

„Wenn es so sein soll, wird so etwas in der Art geschehen!“

Néas Augen strahlten wie Schnee, der in der Sonne glitzert.

„Und wie ging es weiter, Mama?“

„Aphrodite entzog sich schließlich Vronis Körper. Sie schwebte zu Dolasilla hinüber, die zufrieden lächelnd hinter dem Rosenbusch auf sie wartete. Gemeinsam stiegen sie in den Götterhimmel auf.“

„Und Vroni und Jonas?“

„Dein Vater lud mich auf eine Tasse Kaffee ein. Wir verquatschten uns, bis sich über uns strahlende Sterne am Firmament zeigten. Zwei Jahre später kamst du auf die Welt“, antwortete Veronika.

„Warum warst du, bevor Aphrodite kam, so traurig?“, wollte Néa wissen.

Veronika schluckte. Der Schmerz von damals drang in ihre Wirklichkeit und drohte ihr die Luft abzuschnüren.

„Weißt du“, sagte sie und räusperte sich, „ich hatte ein Jahr zuvor einen ganz lieben Menschen verloren. Ich dachte, ich könnte nie wieder mit jemandem glücklich werden. Doch dann kreuzte dein Vater meinen Weg. Das war Schicksal, Kleines –.“

Draußen brach die Sonne durch den wolkendurchwirkten Himmel. Néa schmiegte sich an ihre Mutter. 

„Ich habe dich soooo lieb, Mama!“

„Ich dich auch, mein Schatz!“

„Und deine allerbeste Freundin von damals, hast du sie wiedergesehen?“

„Nein, aber weißt du was, ich werde mich demnächst nach ihr erkundigen!“, sagte Veronika und winkte nach Marie, um zu zahlen. 

Endversion