Von Natascha Eschweiler

Fleur beobachtete die leerstehende Lagerhalle vor ihr. Sie bot einen bemitleidenswerten Anblick; einige Fensterscheiben waren eingeschlagen, das große Tor hing lose in seiner Verankerung, und hier und dort zogen Risse durch das Mauerwerk. Sie konnte die modrige Luft im Inneren riechen, obwohl sie in genügendem Abstand an der Wand gegenüber lehnte.

Sie hatte den ganzen Weg nach England zurückgelegt, um die Leitung dieser Mission zu übernehmen, und je länger sie auf ihren Partner warten musste, desto schlechter wurde ihre Laune – vor allem, weil sie nur zur Unterstützung hier war. Angeblich hatte ihr Partner bisher kaum Kampferfahrung gegen stärkere Gegner sammeln können und sollte nun von einer der Besten lernen.

Sie schnalzte leise mit der Zunge, als sie an die Nachricht des Ältestenrates zurückdachte. Die klapprigen Greise hatten von einer Gefahr gesprochen, der nur Kämpfer der oberen Ränge gewachsen wären, aber so ganz glaubte sie nicht daran. Fleur spürte die Aura des Gegners bereits, seit sie eingetroffen war, aber auch nur mit Mühe. Sonderlich stark konnte er nicht sein.

Und sie sollte es wissen. Schließlich war sie die Stärkste.

Deswegen hatte sie den jungen Mann, der sie seit ein paar Minuten aus einiger Entfernung beobachtete, schon längst bemerkt. Da er jedoch keine Gefahr für sie darstellte, unternahm sie nichts gegen ihn. Erst, als er sich zögerlich in ihre Richtung bewegte, drehte Fleur den Kopf und hob fragend eine Augenbraue.

Der Neuankömmling zuckte unter ihrem Blick zusammen und stoppte kurz, bevor er sich noch langsamer näherte.

»E-entschuldigung, s-sind Sie Fleur?«, fragte er, die Stimme nervös und nicht so hoch, wie Fleur vermutet hatte.

Das war dann wohl ihr Partner für diese Mission. Fleur hoffte, dass das Stottern temporär und nur seiner Aufregung geschuldet war, sonst würde sie ihm für den Rest des Tages den Mund verbieten.

»Du musst Ashton sein.« Fleur stieß sich von der Wand ab und lief los. »Prima, nur eine Viertelstunde zu spät.«

Ashton brauchte eine Weile, bis er zu ihr aufschloss.

»Ich war mir nicht sicher, ob Sie…« Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf. »Sie wirken anders als in den Geschichten, die ich von Ihnen gehört habe.«

Das konnte Fleur sich gut vorstellen. Schon während ihrer Ausbildung hatten sich unzählige Gerüchte über sie im Umlauf befunden. Seit sie die Akademie vor drei Jahren verlassen hatte, war es nur schlimmer geworden. Zuletzt hatte sie mitbekommen, dass man ihr wohl nachsagte, sie könnte Gift spucken.

»In unserer Branche solltest du nicht alles glauben, was du hörst. Wahr ist nur das, was du mit eigenen Augen siehst«, sagte sie schließlich.

Ashton blickte drein, als hätte sie ihm soeben ein uraltes Geheimnis offenbart und nickte eifrig. Mit jedem Schritt, der sie näher an die Lagerhalle führte, wurde er jedoch zunehmend unruhiger.

Fleur hatte dafür wenig Verständnis. Sie hatte Zeit gehabt, die Stärke ihres Gegners zu erfassen, und der ihnen bevorstehende Kampf würde lächerlich einfach werden. In der Lagerhalle warteten mehrere Geisterwesen auf sie, allesamt zu schwach, um sich überhaupt zu manifestieren. Sie konnte einen etwas stärkeren Geist spüren, der vermutlich schon als Poltergeist galt, aber auch der war nicht der Rede wert.

Für gewöhnlich kämpfte Fleur gegen Dämonen und Menschenfresser. Geister waren eine Beleidigung für S-Rang Exorzisten wie sie.

Wenn sie es recht betrachtete, war ihre Anwesenheit hier völlig unnötig. In der Nähe der Lagerhalle befanden sich kaum Menschen, sodass dem Geist die negativen Gefühle fehlten, die ihn stärken konnten. Kurz überlegte sie, ob es eine Möglichkeit gab, dass sich die Mission als kniffliger enttarnen könnte, als sie derzeit annahm, aber sie verwarf den Gedanken schnell. Wenn sie sich auf etwas verlassen konnte, dann auf ihren Instinkt.

An der Tür wartete Fleur kurz, bis Ashton neben ihr zum Stehen kam. Dann fragte sie: »Wie schätzt du den Geist ein?«

»B-bitte was?«

»Der Poltergeist in der Lagerhalle. Wie schätzt du seinen Rang ein?«, wiederholte sie, die Stimme eine Spur gereizter.

Ihr Unmut galt weniger ihrem Begleiter als dem Poltergeist, den sie beseitigen sollten. Es handelte sich um einen Gegner des mittleren D-Rangs – mit viel gutem Willen konnte man ihn noch als sehr schwachen C-Rang durchgehen lassen. Mit solch kleinen Fischen hatte sie sich ewig nicht befasst.

»Ich weiß nicht… vielleicht Rang D oder C?«

Sie nickte knapp und rollte mit den Augen. »So schwach, wie der ist, bräuchtest du mich überhaupt nicht. Zwei ausgebildete Exorzisten auf einen D-Geist loszulassen ist pure Verschwendung unserer Truppen.«

Anstatt ihr zu antworten, sah Ashton sie erst verwundert, dann beeindruckt an. Vermutlich hatte er bisher nur mit Exorzisten gearbeitet, die sich penibel an alles hielten, was die Akademie ihnen eingetrichtert hatte.

»Dann wiederum«, Fleur grinste ihn spöttisch an, »wenn du auf dich allein gestellt wärst und dir während der Mission etwas passieren würde, wärst du vermutlich tot, bevor Hilfe einträfe.«

Am liebsten hätte sie laut gelacht, als sie Ashtons geschocktes Gesicht sah.

»W-was?«

»Na ja, solange ich dabei bin, wird dir schon nichts passieren«, sagte sie salopp und trat mit einem schwungvollen Tritt das Tor ein. Die Scharniere waren so durchgerostet, dass das Metall mit einem Ächzen nachgab.

Das Innere der Halle sah so aus, wie Fleur vermutet hatte. Die Wände waren schmutzig und schienen das letzte bisschen Licht zu schlucken, das durch die vergilbten Fenster fiel. Von der Decke hingen einige rostige Rollen und Haken, die früher vermutlich als Flaschenzüge genutzt worden waren.

Als sie schließlich den hinteren Teil erreichten, entdeckten sie einen Haufen ausrangierter Schaufensterpuppen in einer Ecke. Die meisten waren kaputt und vermissten einige Gliedmaßen oder ihren Kopf. Selbst die Puppen, die noch aufrecht neben dem Haufen standen, waren nicht mehr vollständig.

Fleur blieb stehen und ließ ihren Blick gelangweilt durch das verfallene Gebäude schweifen. Etwas unschlüssig tat Ashton es ihr gleich, bis er unvermittelt nach Luft schnappte.

»Hat sich die Schaufensterpuppe gerade bewegt?«

»Natürlich hat sie das. Deswegen sind wir hier.«

Allmählich kam Fleur der Gedanke, dass Ashton sie an der Nase herumführte. Vielleicht war er einer der hochrangigen Exorzisten, die eng mit der Akademie zusammenarbeiteten und wurde geschickt, um Fleur zu beschatten. Sie hatte auf ihren letzten Missionen nicht unbedingt immer das gängige Protokoll eingehalten, aber war das Grund genug, jemanden auf sie zu hetzen?

Innerlich winkte Fleur ab. Da ging bestimmt ihre Fantasie mit ihr durch. Egal, wie schwach der Geist auch sein mochte, durfte sie sich trotzdem keine Unachtsamkeit erlauben. Bisher hatte eine der relativ intakten Schaufensterpuppen nur den Kopf in ihre Richtung gedreht, so als wägte der Poltergeist noch ab, ob er fliehen oder kämpfen sollte.

Neben ihr fing Ashton plötzlich an zu lachen, aber so angespannt, wie er klang, wollte er sich damit vermutlich nur selbst beruhigen.

»Es ist ermutigend, wie ruhig Sie sind. Ob ich das mit ein wenig Erfahrung auch schaffe? Waren Sie beim ersten Mal nicht nervös?«

Fleur stockte. Auf einmal ergab alles Sinn.

»Warte, ist das deine erste Mission?« Sein zögerndes Nicken bekam Fleur nur am Rande mit. Mit einem entnervten Seufzer vergrub sie ihr Gesicht in einer Hand. »Ich hab den Alten doch gesagt, dass ich keine Rookies mehr ausbilde…«

Dass sie ihr einen blutigen Anfänger untergejubelt hatten, würden die Greise noch bereuen.

»Jetzt ist es ohnehin zu spät«, sagte Fleur und rieb sich kurz die Schläfen. Auf Ashtons verwirrten Blick nickte sie in Richtung der Schaufensterpuppen. Der Poltergeist schien sich endlich gegen die Flucht und für einen Angriff entschieden zu haben.

Fleur bedeutete Ashton, seine Waffe zu ziehen und sich zum Angriff bereitzumachen. Sie selbst würde beobachten, was geschah. Schwache Geister griffen meist auf Trickserei zurück und dafür hatte sie gerade wirklich keinen Nerv. Im Ernstfall würde sie immer noch genug Zeit haben, um einzugreifen.

Sichtlich nervös schluckte Ashton, bevor er seine Waffe zog. Er trug sie nicht so offensichtlich am Körper wie viele andere Exorzisten, sodass Fleur sich fragte, womit er kämpfte. Die Waffe eines Exorzisten sagte immerhin viel über seine Persönlichkeit aus. Sie war sehr erstaunt, als Ashton eine Steinschleuder aus seiner hinteren Hosentasche zog und konnte sich gerade so davon abhalten zu lachen.

Na gut; solange er treffen konnte, sollte es zumindest kein Problem sein.

»Du wirst allein gegen den Geist kämpfen. Und keine Widerrede. Befolge einfach meine Anweisungen.«

Für Fleur ging praktische Erfahrung über alles. Außerdem musste Ashton lernen, seine Kämpfe allein auszutragen.

Zu ihrer Überraschung lief der Kampf nicht schlecht. Sie rief ihm zu, wann er in welche Richtung ausweichen sollte und wann Angriff besser als Verteidigung war. Man mochte dem Jungen seine Angst im Gesicht ansehen, aber seine Reflexe waren hervorragend. Damit ließ sich arbeiten.

Plötzlich hielt der Geist frontal auf Ashton zu. Sie konnte ihm ansehen, dass er ausweichen wollte.

»Hör auf zu zögern und schieß!«

Ein Ruck ging durch Ashtons Körper, als ihre Stimme laut durchs Gebäude hallte. Ohne darüber nachzudenken, hob er den Arm, zielt und feuerte seine Attacke. Er traf den Geist direkt zwischen den Augen. Dann war alles vorbei und der Poltergeist löste sich mit einem leisen Zischen auf. Ashton war so erleichtert, dass er sich auf der Stelle zu Boden fallen ließ und aufatmete.

»Gar nicht schlecht, Kleiner. Hätte nicht gedacht, dass das so entspannt für mich wird«, sagte Fleur, als sie auf ihn zukam.

Ashton sah sie verwirrt an. Vermutlich war er noch so überfordert mit der Situation, dass er gar nicht verstand, was um ihn herum geschah. Das änderte jedoch nichts an dem Entschluss, den sie soeben gefasst hatte.

»Mal sehen…« Fleur grinste ihn schief an, ein raubtierhaftes Leuchten in den Augen. »Wenn du mich lieb darum bittest, bilde ich dich vielleicht sogar weiter aus.«

 

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