Von Rosa Pessl

“Mensch, hast du aber lange Beine! Kannst du nicht ein bisschen mithelfen? Aaaah …” Josef lässt sich auf die Bank sacken. Mit der Hand, die in schwarzen Fingerhandschuhen mit abgeschnittenen Kuppen steckt, wischt er sich den Schweiß von der Stirn. “Was man nicht alles in der Mülltonne findet? “, staunt Josef. Sie liegt quer über der Bank mit dem Kopf nach unten. “Ach entschuldige …”, mit einem Seufzer erhebt er sich und setzt sie auf. “Bist du aber hübsch, meine Kleine …”, zart streicht er über ihre Wange.

“Schön ist es hier, nicht wahr?” Josef setzt sich wieder neben sie, steckt sich eine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug.

“Schau da oben: Das ist der große Wagen”, verkündet er stolz, darüber Bescheid zu wissen, und zeichnet mit dem Zeigefinger das Sternbild nach. “Ich mag die Ruhe hier und den Fluss. Ein lauschiges Plätzchen, gel?” Er sieht sie erwartungsvoll an und beginnt Rilke zu zitieren.

“Der Himmel, groß, voll herrlicher Verhaltung,
ein Vorrat Raum, ein Übermaß von Welt.
Und wir, zu ferne für die Angestaltung,
zu nahe für die Abkehr hingestellt.
Da ….”

Josef unterbricht sich und klatscht seine flache Hand gegen seine Stirn: “Ich Idiot! Du bist ja ganz nackt! Dir ist sicher kalt.”

Schnell springt er auf und eilt zu seinem Schlafsack, durchwühlt diesen und kehrt mit einem orange-gemusterten Seidentuch zurück. “Gefällt es dir?” Er schüttelt den Staub vom Tuch und wickelt es ihr ehrfürchtig um den Hals. Seine klammen Finger verknoten die beiden Enden in ihrem Nacken. Dann setzt nimmt er wieder neben ihr Platz.

“Du meine Holde”, seine Augen leuchten spitzbübisch, “wie heißt du eigentlich?”

“Mmmh”, Josef fährt sich mit der rechten Hand nachdenklich über seinen Bartwildwuchs. “Weißt du was? Ich nenne dich Flora. Floooooraaaa … weil du mich so an meine erste große Liebe erinnerst. An meine Flora”, Josef seufzt. “Mit der Flora bin ich um die Welt gereist. Italien, Türkei, Schweden, Japan, New York. Da staunste was? Das traust du so einen Penner wie mir gar nicht zu.” Er weiß, dass er darauf keine Antwort bekommt.

“Am schönsten war es in Paris. Da hab ich meine Flora das erste Mal geküsst. Ja, oben am Eifelturm. Oh Mann, ich dachte mir damals, mein Herz plumpst in die Seine vor lauter Aufregung. Meine Knie haben geschlottert. Ich sag es dir … ” Er steckt sich wieder eine Zigarette an und schaut in seinen Erinnerungen schwelgend den Rauchwolken nach. “Ach die Flora… Die hatte wunderbare Titten.”

“Oh, Verzeihung…”, beschämt blickt Josef zu Boden. “Ich hab sie echt geliebt, die Flora. Nicht nur die Titten, das kannst du mir glauben. Die war echt ein Supermädel.” Schweigend raucht er die letzten Züge seiner Zigarette. “Ach Mädel, der alte Penner ist müde. Ich hau mich jetzt in meine Luxussuite.” Er tritt die Kippe aus, steht auf und geht weg. Nach ein paar Metern belibt er stehen und dreht er sich nochmals zu ihr um: “Und lass dich von keinem angraben, gel? Die Penner hier, die haben dich nicht verdient!” Augenzwinkernd schlurft er davon.

Am nächsten Tag stapft Josef mit einer dicken Decke und zwei Dosen Bier bewaffnet zu Flora auf die Bank. “Ach Mädel, es ist ja schon November und saukalt. Schau, ich hab dir etwas besorgt.” Er rollt die Decke auseinander und wickelt Flora darin ein. “So jetzt ist es besser, gel?”, sagt er in einem väterlichen Ton. “Magst ein Bier? … Ja?” Die Bierdose gibt er ihr in die Hand, die aus der Decke lugt und auf ihrem Oberschenkel ruht. Dann lässt er sich neben sie fallen, reißt seine Bierdose auf und nimmt einen tiefen Schluck. Nachdenklich lehnt er sich zurück und blickt zum bewölkten Himmel.

“Kennst du Pinguine?”, will er von Flora wissen. “Du weißt schon, die Viecher, die …” Er stellt seine Bierdose ab, steht auf und watschelt mit von sich weggestreckten Händen wie ein Pinguin. “Ttt…ttt…ttt … Du weißt schon, diese Viecher.” Nachdem er der Meinung ist, sie hat verstanden, welche Tiere er meint und sich über seine Vorführung amüsiert, setzt er sich wieder hin. “Diese Viecher tragen alle einen schwarzen Frack, schauen niedlich mit ihren Ttt-ttt-ttt-Gang.” Seine Hände schaukeln watschelnd auf und ab. “Aber weißt du, das sind schlimme Viecher. Ja! Die sind überhaupt nicht niedlich.“ Aus seiner Stimme ist jede Fröhlichkeit gewichen. Traurig erzählt er weiter: “Die sind echt grausam. Wenn die hungrig sind, springt keiner ins Wasser. Nein! Keiner will natürlich der Erste sein, der von Robben zerfleischt wird. Weißt du was die tun?”, sein Blick durchbohrt sie. “Sie schubsen einen von ihnen einfach über die Klippe und schauen nach, ob er die Runde überlebt. Solche verfluchten Feiglinge!”

Josef hustet plötzlich stark. Er versucht den Hustenreiz mit dem Bier zu stillen. Doch vergebens. Seine Hand, die er sich vor dem Mund hält, ist voll Blut, das er verstohlen in die Hose wischt.  “Nein, mir geht es gut …. Nein, ich habe mich nur verschluckt”, versucht er Flora zwischen dem Husten zu beruhigen.

“Weiß du, ich war einer von denen. Jeden Tag Anzug mit Krawatte. Jeden Tag schickimicki. Es war eine zeitlang richtig geil. Genügend Kohle, Reisen, hübsche Frauen”, dabei nickt er anerkennend. “Habe es auch bis zum Abteilungsleiter gebracht. Und dann …”, betroffen schüttelt er den Kopf. ”Ich Depp musste ja immer in der ersten Reihe stehen! Ich war vorne – am Klippenrand. Stell dir vor, da stehen wir Pinguine, neigen unsere Köpfe und schauen in die Tiefe. Die Ruhe vor dem Fall. Dann ging es …”, seine Hände stoßen schnell nach vorne, „ZACK …“

“Naja, den Fall macht mir keiner so schnell nach! So viel ist sicher.”

Es ist still, nur das Rauschen des nahen Flusses ist zu hören. Nach einer längeren Pause beginnt Josef wieder zu erzählen: “Ich hab mich umgedreht. Die sind an der Klippe gestanden und haben alle schallend gelacht. Ja, die haben gelacht, wie es den alten Josef zerreisst.” Er trinkt sein Bier leer, rülpst leise, steht auf und beginnt vor ihr Rilke zu zitieren.

“Kalter Herbst vermag den Tag zu knebeln,
Seine tausend Jubelstimmen schweigen;
Hoch vom Domturm wimmern gar so eigen
Sterbeglocken in Novembernebeln.
….”

Ein Hustenanfall unterbricht seine Darbietung. “Tschuldige Mädel”, bringt er hervor, “ich leg mich nieder. Ich fühl mich nicht gut.” Im Weggehen dreht er sich nochmals zu ihr im und fragt sie: “Warst du schon mal in einer Horde von Pinguinen? Nein? Gut so, nimm dich vor denen in Acht.”

Am nächsten Tag keucht Josef, eine dicke Decke umgehüllt, zu Floras Bank. Schweißperlen rinnen über seine Schläfen und verlieren sich in seinem vollen Bart. “Hallo Mädel, meine Flora”, begrüßt er sie und versucht zu lächeln. “Den alten Penner hat es erwischt.” Er hustet immer wieder. “Was meinst du? Ich soll ins Krankenhaus gehen?” Seufzend erzählt er: “Die haben mich das letzte Mal einfach abgewimmelt. Eine Infusion, das reicht bei einer Lungenentzündung”, traurig schaut er zu Boden, “Ich soll halt weniger saufen, haben sie gemeint.” Vor Erschöpfung fallen ihm die Augen zu, doch er kämpft dagegen an und entrüstet sich plötzlich: “Ich hab noch nie gesoffen, nicht mal hier auf der Straße. Ein Bier am Tag, mehr nicht! Meine Sucht war eine andere. Der einarmige Bandit, der hat mich regelrecht ausgeraubt.” Wieder blickt er beschämt zu Boden und sagt leise: “Und die Pinguine. Und meine Ex. Die hat mich ausgezogen bis auf das letzte Hemd.”

“Weißt du Flora, ich habe eine Tochter”, sein erwartungsvoller Blick ruht auf ihrem bleichen Gesicht. “Ja, da staunste was, der alte Penner ist Vater. Sie ist dreiundzwanzig. Seit sechs Jahren habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich dachte, es ist besser, sie denkt, ich sei tot, als so ein Penner.” Die Schweißperlen vermischen sich mit Tränen, die er leise weint. Mühsam erhebt er sich und mobilisiert seine Kräfte, um Flora nochmals Rilke zu zitieren.

“Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.”

Er lächelt zufrieden, streichelt ihr über die Wange: “Leb wohl, mein Mädel.” Dann dreht er sich um und schleppt sich davon. Wenige Meter später bleibt er stehen und wendet sich Flora nochmals zu. Mit erhobenem Zeigefinger mahnt er sie: “Und lass dich niemals von so einem Pinguin flachlegen! Niemals hörst du!” Kurze Zeit später erreicht er seinen Schlafsack und rollt sich darin ein.

Trotz Fieberdelirium nimmt er die Stimme eines kleinen Buben wahr: “Oh Mama, schau mal, das ist aber eine große Puppe!” “Ja”, meint seine Mutter erstaunt, “komisch das sie hier sitzt. Lass uns weitergehen.” Der Junge: “Die ist aber schön”. Josef lächelt und schläft ein.

In der darauf folgenden Nacht wird er durch lautes Grölen zweier Männerstimmen wach. “Oida, die Schaufensterpuppn hat sich bewegt, oder?”
“Geh kumm, du tramst. Host echt scho zuvü Tequilla gsoffen.”
“Wos tuat denn die Puppn do?”

Der kaum 20jährige Bursche hebt seine Hand und zeigt auf Flora. Die 88, die seinen rechten Unterarm ziert, ist deutlich zu sehen. “Hearst, is die Puppn a Wixvorlog fia den Oildn, do hinten.” Sein Gesicht verzieht sich zu einer hämisch grinsenden Fratze. Er stürzt sich auf Flora, reißt ihr die Decke herunter, wirft sie auf den Boden und spreizt ihre Beine.

“Geh kumm, die hot net amol a M****i!”, grölt er, sucht sich einen spitzen Stein und stößt damit so lange zwischen Floras Beine, bis sich ein großes Loch auftut. Josef kann dem Schauspiel nur zusehen. Er ist unfähig aufzustehen, unfähig Flora zu helfen, unfähig davonzulaufen.

 

Der andere Bursche geht auf Josef zu. Seine Springerstiefel parken direkt vor seiner Nase. “Steh auf!”, brüllt er Josef an und stampft dabei in den Boden. Josef bekommt eine Staubwolke ab und muss husten. “Steh auf! Du oilder asozialer Wixer!”, der Bursche wird immer wütender. Nach einem dritten Mal “Steh auf!” reißt ihm der Geduldsfaden. Sein rechter Fuß holt weit aus und ein heftiger Tritt trifft Josefs Bauch. Er krümmt sich. Ein weiterer Tritt bricht ihm einige Rippen. Ein weiterer die Nase. Der Bursche spuckt ihn an, bevor er gemeinsam mit seinen Kumpel grölend weiterzieht.

Josef ist blutüberströmt, schwer verletzt, aber noch bei Bewusstsein. Das hämische Lachen der beiden Burschen, das Lachen der Pinguine, begleitet ihn in den Tod.

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