Von Justin Janning

An diesem Vormittag unternahm Julia bewegt durch die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings einen Spaziergang in die örtliche Fußgängerzone, eine willkommene Abwechslung nach der Dunkelheit der vergangenen Wintermonate. Während sie über die roten Pflastersteine schlenderte, wehte ihr ein alter Freund um die Knie: Das gelbe Sommerkleid, ihr maßgeschneidertes Lieblingsstück, das sie nach langem Warten wieder aus dem Kleiderschrank befreien konnte. Sie hatte sich kein spezielles Ziel auserkoren und ließ ihren Blick über die wiederbelebte Innenstadt schweifen, bis ihr ein kurioser Laden ins Auge fiel. Benachbart von einer Bäckerei, von der ein fantastischer Duft von Backwaren und Kaffee ausging, und einem Spielwarenladen befand sich ein kleines Gebäude, das den Eindruck machte, als wäre es gedankenlos zwischen die anderen Häuser gequetscht worden.

Über der massiven, hölzernen Eingangstür hing ein Schild an der roten Ziegelfassade. Goldene Letter auf grünem Grund buchstabierten „Boutique Leib und Seele – wie für Sie gemacht“ und verrieten damit den Namen des Geschäftes. Neben der Tür füllte ein schmales Schaufenster den Rest der verfügbaren Breite des Gebäudes aus. Darin befand sich nichts weiter als eine einzige Schaufensterpuppe, die mit an die Hüften gelegten Händen ein Kleidungsstück präsentierte.

Julia pausierte vor dem Schaufenster und überlegte, ob sie dieses Geschäft schon einmal gesehen hatte. War es neu? Es wollte ihr beim besten Willen nicht einfallen. Was aber wirklich ihren Verstand beschäftigte, war das, was die Schaufensterpuppe trug. Ein Sommerkleid, das ähnlich wie ihres aussah, nur statt sonnigem Gelb bestach es durch ein sanftes, blasses Grün. Verwundert runzelte Julia die Stirn. Selbst der Schnitt und das Material schienen identisch und sie schätzte, dass es sogar ihre Maße haben könnte. Das wäre aber unmöglich oder zumindest unwahrscheinlich. Ihr Kleid war eine Maßanfertigung, ein Unikat!

Sie beschloss, sich das Ausstellungsstück aus nächster Nähe anzusehen. Die Boutique sah recht einladend aus und was wäre besser, um den Frühlingsanfang zu feiern, als sich eine Kleinigkeit zu gönnen. Noch einmal warf Julia einen Blick auf die gesichtslose schwarze Puppe. Es sah wirklich umwerfend aus, wie sie das grüne Kleid präsentierte und mit einer einladenden Geste ihrer Hände auf die Eingangstür deutete. Julia ergriff die kühle Klinke der Tür, drückte sie hinunter und betrat frohen Mutes das kleine Geschäft.

Ein Glöckchen verkündete ihr Eintreten in den kleinen Verkaufsraum. Vollgestopfte Regale und gläserne Vitrinen füllten jeden Quadratzentimeter aus. Mit Stoffstücken, Halsketten, Ringen, Armbändern und Hüten war der Laden ausstaffiert. Durch das Schaufenster fielen ein paar der warmen Sonnenstrahlen hinein und beleuchteten unzählige Staubpartikel, die durch die Luft schwebten.

„Einen schönen guten Tag, es freut mich, Sie begrüßen zu dürfen.“

Julia wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme erklungen war, und erblickte einen älteren Herren hinter dem Tresen. Er schien wie aus dem Nichts gekommen zu sein.

„Guten Tag, Sie haben wirklich einen netten Laden.“ Der Zustand des Geschäftes wirkte auf Julia zwar chaotisch, aber sie wollte dem Besitzer nicht vor den Kopf stoßen. Er hatte eine großväterliche Art an sich.

„Vielen Dank, junge Frau, ich weiß, dass die Ordnung zu wünschen übrig lässt, doch zum Jahreszeitenwechsel kann mir meine Arbeit schon mal über den Kopf wachsen.“ Er rückte seine kleine Brille zurecht und warf einen musternden Blick auf seine potenzielle Kundin.

„Führen Sie die Boutique denn ganz allein?“

„Die meiste Zeit, ja. Zuweilen bekomme ich Unterstützung von Aushilfen. Momentan müssen Sie mit mir vorliebnehmen.“

„Nun, ich interessiere mich für das Objekt in ihrer Auslage. Dieses blassgrüne Kleid … Sie sehen sicher, wie sehr es dem ähnelt, das ich trage.“

Der Alte schob die Augenbrauen zusammen, doch nur für einen Augenblick. Er nickte, bevor er antwortete. „Ihr Kleid ist zweifelsohne von einer fähigen Person geschneidert worden, daran besteht kein Zweifel, jedoch muss ich mich wundern. Ich habe mein Schaufenster heute noch nicht dekoriert.“

Julia entglitt ein unwillkürliches Lächeln. Sicher versuchte der Mann, ihr einen Streich zu spielen, oder vielleicht war er schlicht vergesslich. Es konnte ja passieren, dass er in diesem Durcheinander mal den Überblick verlor. Sie drehte sich in Richtung des Fensters, in dem die Puppe mit dem grünen Kleid platziert gewesen war. Stattdessen bot sich Julia ein Anblick, der ihr das Lächeln aus dem Gesicht gleiten ließ. Dort stand zwar eine Schaufensterpuppe, aber sie war gänzlich unbekleidet und lehnte mit verschränkten Armen an der Glasscheibe. Hatte sie die Pose gewechselt?

„Ich schwöre Ihnen, diese Puppe hat vorhin ein blassgrünes Kleid getragen, ich verstehe das nicht.“ Julia schüttelte den Kopf. Ihr Verdacht, dass die Figur sich zudem bewegt hatte, würde sie für sich behalten. Sie musste so schon verrückt genug wirken.

„Wie außergewöhnlich. Eventuell haben Sie sich nur in meinem Schaufenster gespiegelt? Manchmal sehen wir Dinge nur, weil wir sie uns wünschen. Aber vielleicht geht es da nur mir so.“ Er lachte. „Ich finde für jeden ein Teil, das wie für ihn oder sie gemacht ist. So lautet das Versprechen, dass ich allen Kunden gebe. Begleiten Sie mich doch in meinen Ausstellungsraum, hier vorne habe ich leider die Vorbereitungen noch nicht beenden können.“

Ein eigenartiges Gefühl beschlich Julia. War es in diesem Raum gerade kühler geworden? Sie schob ihre Sorge beiseite, sicher hatte der alte Mann recht. Eine logische Alternative fiel ihr auf die Schnelle jedenfalls nicht ein. „Also ein kleiner Blick auf ihren Ausstellungsraum kann ja nicht schaden, danach muss ich aber wirklich los.“ Sie hätte die Boutique gerne schnellstmöglich verlassen, doch diesem kauzigen Mann wollte sie ungern eine Einladung abschlagen und ihn dabei womöglich kränken.

„Ein Augenblick genügt manchmal.“ Er trat hinter dem Tresen hervor und zog einen Vorhang zwischen zwei Regalen beiseite. „Bitte nach Ihnen“, bedeutete er Julia mit einer Handbewegung.

Langsam schob sie sich an ihm vorbei und fand sich in einem schmalen Flur wieder. Die Wände schienen hier näher zu rücken und die warme Berührung des Frühlings, die Julia noch vor Minuten genossen hatte, war in unendliche Ferne gerückt. Sie konnte es kaum erwarten, den Laden wieder zu verlassen.

Als sie sah, worin der Gang endete, schrak sie aus ihren Gedanken hoch. Diesmal musste es ein Scherz des Ladenbesitzers sein. Der Flur mündete in einen kleinen runden Raum, in dessen Mitte nichts weiter vorhanden war als ein Holzschemel mit einer Puppe darauf. Einer Puppe, wie Julia sie zuvor im Schaufenster gesehen hatte und von der sie überzeugt war, dass sie ein grünes Kleid getragen hatte. Wie ein lebloses Spielzeug saß die schwarze Plastikfigur still da und starrte mit ihrem gesichtslosen Kopf auf den Boden.

„Was hat das Ganze hier auf sich?!“ Leicht genervt, aber auch beängstigt drehte Julia sich um, um den alten Mann zur Rede zu stellen, doch der Flur, durch den sie das Zimmer betreten hatte, war verschwunden. Ungläubig tastete sie die kahle Wand ab. Da war nichts als massiver Stein. Panik machte sich in Julia breit. Was wurde hier nur gespielt?

Sie fing an, unweigerlich zu zittern, und drehte sich langsam herum, um den restlichen Raum nach einem Ausgang zu durchsuchen. An diesem Punkt konnte Julia einen Aufschrei der Überraschung nicht länger unterdrücken. Die zuvor schlaff dasitzende Puppe war nun kein regloses Ausstellungsstück mehr. Sie stand bewegungslos im Raum und imitierte Julias erstarrte Körperhaltung. Da sie sich jetzt aufrecht präsentierte, bemerkte Julia, dass die Figur in etwa so groß sein musste, wie sie selbst.

Sie schloss die Augen. Das konnte nicht wahr sein. Hier lag ein Missverständnis vor, eines von der schlimmen Sorte. Ein Gefühl der Übelkeit braute sich in ihrem Magen zusammen. Vielleicht träumte sie bloß einen dieser Träume, an den man sich ein paar Minuten nach dem Aufwachen noch erinnern kann, bis er dann wieder vollends aus dem Gedächtnis verschwand. Dem sollte nicht so sein.

Julia öffnete die Augen und sah in ihr eigenes, angstverzerrtes Gesicht. Einem kurzen Augenblick der Verwirrung folgte ein anhaltender Moment des Schreckens. Die Puppe stand genau vor ihr und war so nah herangekommen, dass sich Julia in der schwarzen, blanken Oberfläche der Kunststofffigur spiegelte. Beide verharrten in dieser Position, eine Frau, die in wimmernder Schockstarre mit dem Rücken an die Wand gepresst dastand und eine Puppe, ausdruckslos und kalt die ihr in perfekter Imitation gegenüberstand.

Julias Gedanken schossen wirr durch ihren Kopf. Diese Begegnung war nicht dafür vorgesehen, von einem Menschen begriffen zu werden. So erlebte sie als stumme Zuschauerin voller Schrecken, wie die Spiegelung ihrer eigenen braunen Augen immer näher kam und sie sich letztlich in der endlosen Schwärze ihrer Pupillen verlor und darin versank.

 

In den nächsten Tagen war der Frühlingsanbruch nicht mehr aufzuhalten, das Wetter besserte sich stetig und die Sonne ließ sich nun immer länger blicken. Viele Menschen füllten die Fußgängerzone und schlenderten mit vollen Einkaufstaschen oder einer Eiswaffel umher. Nicht wenige von ihnen kamen bei ihrem Schaufensterbummel an der „Boutique Leib und Seele – wie für Sie gemacht“ vorbei und warfen dabei einen Blick in das Fenster, einen Blick in das leere Gesicht einer schwarzen Schaufensterpuppe, die nichts weiter trug als ein schönes, gelbes Sommerkleid.

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