Von Maurice Ralle

„Mann, Mann, habe ich einen Kater!“ Aus den zwei Bier mit Philipp wurden gestern dann doch fünf Bier, neun Kurze und zwei Flaschen Wein. Mein Kopf tut höllisch weh und droht jeden Moment zu explodieren. Zusätzlich ist mir auch richtig übel, sodass ich heute früh oder besser gesagt heute Mittag noch nichts essen konnte. Trotzdem bin ich froh mal wieder bei meinem besten Kumpel gewesen zu sein. Wir hatten viel zu bereden, viel zu lachen und eben viel zu trinken. Nach fast einem Jahr ohne uns zu sehen, hatten wir so einen Abend verdammt nötig. Das sind doch die besten Abende, die mit zwei Bier geplant waren und dann spontan mit viel zu viel Alkohol irgendwo in einer der letzten Kneipen enden. Wenn man mit Mitte dreißig noch keine Frau hat, kommen zugebenermaßen solche Abende auch regelmäßiger vor. „Warum hast du noch nicht die Richtige gefunden?“, fragte Philipp mich gestern. Wenn ich das nur wüsste. Man sucht die ganze Zeit, weiß nicht, was man sucht, und findet nichts. „Vielleicht einfach mal das Glück selbst in die Hand nehmen“, meinte Philipp. Mit zunehmenden Alkoholkonsum wurden dann die Gespräche noch tiefgründiger und absurder.

 

Jetzt stehe ich da mit einem unguten Gefühl im Magen und einem Kopf, der nur noch pausenlos „Hilfe!“ ruft. Ich suche mein Auto. Das hatte ich vernünftigerweise in der Nähe von Philipp stehen lassen. Wie ich heimkam, weiß ich nicht. Wo mein Fahrzeug steht, weiß ich auch nicht. Ich suche es nun schon seit einer halben Stunde und laufe zum dritten Mal die Richardstraße in Berlin Neukölln entlang. „Das nächste Mal gehe ich die paar Meter zu Philipp auf jeden Fall zu Fuß“, grummele ich vor mich hin.

 

Während ich da so orientierungslos rumirre, stolpere ich über die Reste von alten Möbeln auf dem Gehsteig. Zwei ältere Herren, die sich lautstark auf Arabisch austauschen, unterbrechen Ihr Gespräch und lachen mich aus. In meinem aktuellen Zustand ist mir das aber relativ egal und beachte die Kommentare der beiden zu dieser tollpatschigen Aktion nicht weiter. Vor einem Schaufenster stehend versuche ich ein paar Mal durchzuatmen ohne dabei mich zu übergeben. „Denk nach, denk nach“, sag ich mir selbst. Aber mein Kopf ist heute verständlicherweise einfach außer Betrieb. Ich stehe direkt vor einem leerstehenden Bekleidungsgeschäft. Nur noch eine Schaufensterpuppe steht still und verlassen alleine im Laden. Ich schließe meine Augen und versuche mich zu erinnern. Nachdem ich sie geöffnet habe, sehe ich, dass der rechte Arm der Puppe nach rechts entlang der Straße zeigt. Ich blicke der Richtung nach und sehe auf einmal mein Auto dastehen. Ein schwarzer Audi A3. Ja, das ist meiner!

 

Schlagartig geht es mir besser und öffne erleichtert mein Fahrzeug. „Danke liebe Schaufensterpuppe“, denke ich mir. Ich fahre nochmal mit meinem Audi an dem Schaufenster vorbei und werfe einen kurzen Blick hinein. Nachdem ich schon ein paar Meter weiter bin, muss ich bremsen. „Waren nicht gerade beide Armen unten?“, sag ich mir laut. Ich lege den Rückwärtsgang ein und ignoriere gekonnt das Hupen eines heranfahrenden Transporters. Die Beschimpfungen, die dann aus dem offenen Fenster mir entgegenfliegen, ignoriere ich ebenfalls. 11 Jahre in Berlin Neukölln härten eben ab. Da hört man so etwas gar nicht mehr.

Als ich meinen Blick in das Schaufenster werfe, zeigt der rechte Arm der Puppe nach rechts. “Ich könnte schwören, der Arm war vorher noch unten“, rätsele ich. Ich rede mir ein, dass ich wohl einfach noch zu viel Restalkohol habe und beschließe einfach schnell wieder nach Hause zu fahren, um mich auf meiner Couch den ganzen Tag nicht mehr zu bewegen. Eben wie eine Schaufensterpuppe das normalerweise auch tut.

 

Am nächsten Tag bin ich wieder fit und nehme mir vor einen klassischen Sonntagsspaziergang durch „mein Neukölln“ zu machen. Es ist herrliches Spätsommerwetter. Die Menschen sind alle draußen und genießen wie ich die letzten Sonnenstrahlen für dieses Jahr

Ich befinde mich gerade in der Gradestraße und beobachte wie eine Gruppe junger bärtiger Hippster mit ihren klappernden und quietschenden Fahrrädern an mir vorbeifahren. Was wohl meine neue Freundin, die Schaufensterpuppe, gerade macht? Ich laufe in Richtung des leerstehenden Geschäfts und schnurstracks auf das Schaufenster zu.

 

Ihr linker Arm ist oben und nach links ausgestreckt. „Gestern war doch der rechte Arm oben! Da hat sich bestimmt jemand einen Spaß erlaubt“, rede ich mir selbst ein. Ich schaue mir sie genau an und habe das Gefühl sie sieht auch mich an. So als wollte sie mit mir sprechen und sagen: „Schau mal wohin ich zeige!“ „Nach links!“, antworte ich in meinem Inneren. Alles klar, dann gehe ich eben in diese Richtung. Leicht wie ich zu überzeugen bin, laufe ich also dieses Mal nach links. Wie bescheuert muss man eigentlich sein, um auf eine Schaufensterpuppe zu hören? Als ich diesen Gedanken fortführen möchte, nehme ich in der Ferne zwischen zwei parkenden Autos Schuhe war, die eindeutig zu einer liegenden Person gehören. Warum liegt da jemand? Repariert derjenige vielleicht gerade sein Auto? Oder warum liegt man ansonsten auf der Straße? Als ich näherkomme, sehe ich, dass es nicht so sein kann. Die Beine liegen regungslos weit auseinander gestreckt auf dem Boden. Ich merke wie mein Herz anfängt zu klopfen und mir wird es schlagartig warm. Auf den letzten Metern fange ich an schneller zu werden.

 

Eine ältere Dame mit einer beigen Jacke liegt regungslos auf dem Boden. Neben Ihr liegt ein umgekippter Rollator und Ihre Handtasche. Was muss ich jetzt tun? „Hallo!? Können Sie mich hören?“ Sie reagiert nicht. „Hallo!“, rufe ich nun noch lauter. Es ändert sich aber nichts. Ich schaue mich um, jedoch ausgerechnet jetzt scheint niemand hier entlang zu laufen. Ich beruhige mich selbst und atme tief ein und aus.  Ich rufe den Notruf. Was ich nun sage und was ich gefragt werde, weiß ich gar nicht. Ich handele als würde eine andere Person mich steuern. Ich versuche die Dame weiterhin anzusprechen und schüttele sie. Wieder keine Regung. Panik kommt in mir auf. Liegt hier gerade eine tote Frau in meinen Armen?

 

Ich höre Sirenen näherkommen. Als ich aufblicke, kommen mir schon zwei Sanitäter entgegen und schieben mich zur Seite. Ich setze mich auf den Bürgersteig, vergrabe mein Gesicht in meine Hände und spüre wie meine Tränen in die Handflächen laufen. Ich weiß nicht wie lange ich so dasitze. In einem Moment war noch alles in Ordnung und auf einmal soll der Tod in die Mitte meines Lebens springen? Hätte ich etwas anders machen können? Auf einmal packt mich jemand am Arm. „Ihr geht es gut. Sie ist stabil.“ „Sie lebt!?“, antworte ich? Der junge Sanitäter erklärt mir, dass sie wieder ansprechbar ist. „Wir waren gerade noch rechtzeitig da. Keine zwei Minuten später hätten wir wahrscheinlich nichts mehr tun können.“ Der junge freundliche Mann erzählt mir noch minutenlang was passiert ist. Doch ich kann ihm nicht mehr folgen. Ich merke wie ich in mich zusammensacke und einfach erleichtert bin. So kannte ich meinen Körper bisher nicht. Anscheinend komme ich auch erst in meiner Wohnung wirklich wieder zu mir. Ich kann mich an die Minuten zuvor nicht richtig erinnern. Nur ein Gedanke kommt mir nun direkt. Ohne die Schaufensterpuppe wäre ich doch niemals in diese Richtung gelaufen. Hat sie der Dame das Leben gerettet? Ich bin sehr müde und denke noch lange darüber nach. Solange bis ich dann auch irgendwann eingeschlafen bin.

 

Ich werde erst wieder am nächsten Morgen wach. Mein Blick geht auf die Uhr. Es ist 07:53 und Montag. „07:53! Mist, ich muss um 08:00 im Büro sein!“ Ich springe aus dem Bett und versuche innerhalb von 5 Minuten zu duschen, meine Zähne zu putzen und mir ein Hemd zu bügeln. Alle drei Tätigkeiten führe ich entsprechend schlecht durch, sodass das Ergebnis demnach aussieht, als ich die Wohnungstür verlasse. Ich bin schon eilig auf dem Weg zur Arbeit und laufe an meiner neuen Freundin, der Schaufensterpuppe, vorbei. Trotz des Zeitdrucks nehme ich mir die Zeit und bleibe vor dem Schaufenster stehen.

 

Die Arme hängen runter. Definitiv, da scheint sich jemand jeden Tag einen Spaß zu erlauben. Doch nun, da sie in keine Richtung zeigt, hat sie keine Botschaft mehr für mich? Trotz der Hektik und vieler Menschen, die an mir gestresst vorbeilaufen, bleibe ich gelassen davorstehen. Sie muss mir doch bestimmt etwas mitteilen können. Ich blicke tief in ihre Augen und meine wahrzunehmen, dass sie mit ihren Augen nach links schaut. „Geht doch! Dann mal nach links!“, denke ich mir. Ich dreh mich nach links und möchte loslaufen, als ich plötzlich heftig mit jemanden zusammenstoße. Es ist eine junge Dame, die bereits den Inhalt Ihrer Handtasche auf dem Boden zusammensucht. Sie trägt ein blaues Kleid und darüber eine dünne grüne Jacke. Sie hat braune Haare und passend zur Jacke auffällige grüne Ohrringe. Da sie noch auf den Boden rumkrabbelt, erkenne ich Ihr Gesicht nicht. Die Situation ist mir ziemlich peinlich, weswegen ich ihr direkt helfen möchte. Ich finde noch ein Packung Kaugummi und Taschentücher, die ich auf den Knien in die Hand von ihr reiche. Dabei blicke ich zu ihr auf und bleibe an ihren wunderschönen grünen Augen hängen und vergesse dabei, dass ich eigentlich spät dran bin. Doch das ist mir in diesem Moment unwichtig. Nachdem ich auf den Beinen wieder stehe, schauen wir uns kommentarlos an und fangen beide an zu lachen.

Philipps Worte kommen mir in den Kopf: „Einfach mal das Glück selbst in die Hand nehmen.“

Ich überlege kurz, nehme all meinen Mut zusammen und frage sie einfach: „Darf ich dir einen Kaffee als Entschuldigung ausgeben? Sie schaut mich an. „Ein simples “Tut mir leid“ hätte auch gereicht, aber den Kaffee nehme ich natürlich sehr gerne“, antwortet sie mit einem süßen Grinsen. Unvorbereitet wie ich bin, muss ich ihr gestehen: „Ich weiß aber nicht wo.“ Sie lächelt mich an, hebt Ihren linken Arm der Straße entlang und sagt:“ Komm, ich zeig dir den Weg.“ Ich lächle auch und antworte: „Zeig mir den Weg.“

 

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