Von Marco A. Rauch

Tobias saß am Ufer eines kleinen Baches und beobachtete das Wasser, wie es spielerisch und unbeirrbar seinen Weg nahm. Er sah zu, wie sich kleine Pflänzchen beugten und wanden, sich bewegten und durch die Hand der sanften Strömung tanzten. Wie vergnügte Kinder des Flussbettes sahen sie aus, die sorglos ihrem Spieltrieb folgten. Sein Blick versank in den Reflexionen der Sonnenstrahlen, die durch ein Loch der dunklen Wolkendecke auf das Wasser trafen und eine unhörbare Melodie aus Farben und Formen spielten. Fast andächtig mischte sich ein feines, klares Blau in die Szenerie, das unaufhörlich leicht blinkte.

»Tobias?« Jemand trat neben den 11-Jährigen. Er hob seinen Kopf zu der unbekannten Frau. »Ja?«

»Bist du so weit?«

Unschlüssig drehte Tobias seinen Kopf zum Wasser und schwieg. Er beobachtete einen kleinen, silbernen Fisch, der friedvoll vorbei schwamm. Versonnen sah er ihm nach, wie er hinter der nächsten Biegung verschwand. Leichter Wind wehte einige Blätter übers Gras, ließ sie kurz ruhen, um sie abermals über die Halme vor sich her zu treiben. Tobias verzog die Mundwinkel und blickte zu der Frau. »Muss ich denn schon gehen?«

Sie streckte ihre Hand aus und nickte. »Es ist Zeit.« Ihr Blick war gütig und wohlwollend. Tobias spürte, sie würde ihn behüten. Er fühlte, sie wollte ihm kein Leid antun. Dennoch zögerte er, sah wieder zum Wasser, die kleinen Pflänzchen, wie sie im sanften Einklang tanzten. Fast, als gäbe es nichts zu fürchten. Als wären sie verspielte Sprösslinge des unaufhörlichen Wasserstromes, der sie mit zarter Hand umsorgte. Sein Blick wanderte zögerlich zu der Frau. »Ich will noch nicht gehen.«

Sie trat auf ihn zu, langsam und verständnisvoll, setzte sich neben ihn. Ganz sachte legte sie eine Hand auf seine Schulter. »Manchmal ist das so, Tobias. Manchmal endet etwas.« Sie betrachtete feuchte Steine, die rundgeschliffen vom Fluss der Zeit im Lichte glänzten. Sie beobachtete das klare Wasser, die kleinen Strudel und Bläschen, ein grünes Ahornblatt, das vertrauensvoll dem festgelegten Lauf des Baches folgte. Langsam drehte sie ihren Kopf zu dem Jungen, drehte ihn weiter zur Straße in einigen Metern Entfernung. Tobias folgte ihrem Blick. Beide sahen einander an. Der Junge senkte seinen Kopf. »Ich wollte doch nur spielen.«

»Das weiß ich«, antwortete die Frau und legte ihre Hand erneut sanft auf seine Schulter. Die Stelle erwärmte sich, behaglich und tröstend, fast wie die innige Umarmung einer liebenden Mutter. Eine Träne lief unvermittelt aus seinem Auge, rann die linke Wange hinab, verweilte kurz und tropfte herab.

»Kann ich nicht wieder zurück?« In seinen Augen lag Verzweiflung, als hätte er Hausarrest bekommen. Als wüsste er aus tiefstem Herzen, dass er einen Fehler, etwas Schlimmes getan hatte. Er suchte in ihren smaragdgrünen Augen nach einem winzigen Funken Hoffnung auf Erbarmen und Vergebung.

»Warum hast nicht auf deine Mutter gehört?« Die Frau sah ihn mit gütigem Blick an, ohne weitere Einblicke in ihre Absichten zu erlauben. Sie betrachtete die feuchte Spur auf seiner Wange, spürte die Schwingungen seiner Aura, das unruhige Zucken seiner Nervenbahnen, die in verzweifeltem Aufruhr um Anschluss flehten.

»Ich … ich wollte doch, aber dann kam Martin. Er hat gesagt, das ist leicht, er hat es selber schon so oft gemacht und ich soll kein Feigling sein, da habe ich mitgemacht.«

»Hat es dir Spaß gemacht?«

»Ja, am Anfang schon.« Wieder ging sein Blick zum Bach und sein Kopf sank noch weiter nach unten.

Die Frau betrachtete seine kurzen, braunen Haare, die kleine Narbe über der linken Augenbraue, seine dünnen Arme, die wie zarte Äste einer schutzbedürftigen Jungpflanze aus dem T-Shirt sprossen und seine Beine umschlossen. »Aber du wusstest, es ist gefährlich?«

»Ja.« Seine Lippen verzogen sich zu einem kindlichen Schmollen. Sein Blick haftete weiter am verträumten Spiel der Elemente.

Noch einmal drehte sie ihren Kopf zur Straße, beobachtete das hektische Treiben. Wieder folgte sein Blick dem ihren. Beide sahen einander an. »Hast du was daraus gelernt?« Sein Kopf neigte sich nach unten und er nickte stumm. In Gedanken verfluchte er seinen Freund Martin, der ihn dazu überredet hatte. Aber er verfluchte auch sich selbst, weil er nicht auf die mahnenden Worte seiner Mutter, vorsichtig zu sein, gehört hatte.

Die Frau spürte es und sie hörte ihn. Sie versuchte zu ergründen, ob er würdig war. Sie lauschte tief in sein Inneres, erspürte die Klänge seiner Seele, nicht die lauten. Das ruhige Wispern, das zarte Flüstern der uralten Anteile, die sich hinter den lauten Schreien der verzweifelten Gegenwart verbargen. Sie erforschte die Melodie seiner Seele. Entschlossen legte sie beide Hände auf seine Wangen. Der ernsthafte Ausdruck in ihren Augen ließ Tobias zusammenzucken. »Sprich mir nach: Ich werde niemals wieder ein Seil an einem Quad festmachen und mich auf dem Skateboard ziehen lassen. Ich werde niemals wieder Dummheiten machen, die mich in Gefahr bringen. Ich werde die Lehren aus dieser Erfahrung zum Wohle aller nutzen!«

Der Junge zuckte abermals zusammen, ihre Worte krochen wie beständiges Flüstern in seine Eingeweide und widerhallten dort mit tausend fremden Stimmen. Er schluckte und sprach ihr nach. Als er es tat, fuhren die Worte direkt in seine Seele und bildeten einen Keim auf einer unbefleckten Stelle. Die Frau nickte ihm zu, lächelte sanft und deutete mit dem Kinn. »Geh, Tobias. Lebe.« Im selben Augenblick entwich ein gelblich schimmerndes Licht aus ihrem Finger, tänzelte kurz in der Luft und verschwand in Tobias Körper.

Sofort stand Tobias auf, seine Beine bewegten sich, als hätten sie einen Befehl erhalten. Doch er hatte ihn nicht gegeben. Er zögerte einen Moment, spürte eine Frage in seinem Inneren, aber auch das Flüstern des Schicksals, das ihn zu sich rief. Die Frau nickte erneut und hob leicht ihre Arme. Tobias begann zu schweben, glitt wie von einer unsichtbaren Leine gezogen zur Unfallstelle und sah sich selbst dort liegen sah, umringt von Sanitätern. Einer drückte seine Hände kraftvoll immer wieder auf die Brust des Jungen vor sich. »Noch immer kein Puls!«, raunte die Frau neben ihm. Der Mann keuchte, beendete seine Bemühungen und schüttelte den Kopf. Eine unheilvolle Stille der Verdammnis legte sich über die Szenerie wie dunkle Vorboten einer neuen Wahrheit. Einen Moment schwebte Tobias in der Luft, betrachtete seinen Freund Martin, der etwas abseits stand, mit bleichem Gesicht, den Kopf zu Boden gesenkt. Dann glitt Tobias zurück in seinen eigenen Körper und ging augenblicklich in ihm auf. Nur einen Moment später öffnete er die Augen und hustete müßig den schmutzigen Staub aus seiner Lunge. Die Männer und Frauen, die eben noch resigniert ihre Köpfe hatten hängen lassen, stießen Jubelschreie aus, umringten Tobias, drückten ihn und dankten Gott für dieses Wunder, an das keiner mehr geglaubt hatte. Es war einer dieser Tage, der den Frauen und Männern vom Rettungsdienst noch lange in Erinnerung bleiben sollte. 

Nicht weit davon entfernt stand eine Frau am Bach und beobachtete die Szenerie mit zufriedenem Blick. Sie lächelte milde, als sie das Wort Gott hörte. Sie wusste, sie würde Tobias sehr, sehr lange nicht mehr gegenübertreten müssen. Wie zum Gruß legte sie zwei Finger an die Stirn, zog sie weg und war augenblicklich verschwunden.

 

Auf den Krankenhausaufenthalt folgte Hausarrest, doch der war für Tobias nicht das Schlimmste. Kurz darauf starb seine geliebte Australian Shepherd Hündin Tammie an Nierenversagen. In ihren Augen sah er Frieden, als sie einschlief. Fast, als wäre sie … gefragt worden. Doch die Seele des Jungen erbebte an jenem Tag. Der Anteil, der Tammie in sich trug, verwuchs mit dem Keim seiner jüngst gesprochenen Worte und begann zu sprießen. Wie von einer schicksalhaften Bestimmung gerufen, verbrachte Tobias mehr Zeit mit Lernen, studierte Medizin und widmete sein Leben den Schwachen und Kranken. In dieser Aufgabe fand er eine Zufriedenheit, die wie ein Versprechen auf sonnige Tage zu seinem Begleiter wurde. Jahre später saß er in seinem Büro und las ein Krankenblatt.

»Hallo Tobias.«

Verwundert drehte er seinen Kopf und schaute zu ihr. Sie sah genauso aus wie damals. Unverändert. Er glaubte zu wissen, was sie wollte. Dennoch fühlte er sich unvorbereitet. »Ist es Zeit?«

Sie nickte, streckte ihre Hand aus und lächelte gütig. »In deinem Wirken ist der Spross erblüht.«

Verunsichert stand Tobias auf, ging zu ihr und ergriff ihre Hand. Ein gelblich schimmerndes Licht erhob sich aus seiner Brust, tänzelte in der Luft und fuhr in ihre. Einen Moment sah sie ihn an, fast wie eine stolze Mutter, dann lächelte sie und sagte: »Deine Güte ist ihr Tribut.« Während Tobias grübelte, verschwand sie. 

Ein paar Tage später las er in der Zeitung von ein paar Hundewelpen, die ein Mitarbeiter der Tierkörperverwertung gerade noch vor dem Verbrennen hatte retten können. Die Tiere waren vom Zoll in einem leeren Ölfass auf einem LKW gefunden, für tot gehalten und zur Anlage gebracht worden. Wie durch ein Wunder lebten alle drei und saugten gierig an den Fläschchen, die der Veterinär mitgebracht hatte.

 

Sie hatte sich ein Stück der zweiten Chance zurückgeholt, das in seiner Seele gewachsen war, und anderen zuteilwerden lassen. Endlich verstand Tobias. Ein jedes Leben fordert einen Tribut. Seinen hatte einst Tammie erbracht.

Erschüttert stand er auf, fuhr zum Tierheim und adoptierte die drei Welpen. Zu Hause suchte er das schönste Foto von Tammie heraus, ließ es vergrößern, rahmen, einen Spruch darauf anbringen und hängte es ins Wohnzimmer gegenüber der Tür, damit jeder, der den Raum betrat, sogleich das große, schmucke Gedenkfoto sah, mit den Worten: Wenn etwas aus dem Ruder läuft, erkennst du wahre Freunde.

 

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