Von Regina W. Egger

Mit einem Ruck näherte sich von hinten der Liftsessel. Alma und ich zappelten nervös, schon fühlten wir die Sitzkante in der Kniekehle und schauten uns entschlossen an. Dann ließen wir uns in den Stuhl plumpsen. Geschafft! Mit mulmigem Gefühl spürten wir, wie die unsichtbare Kraft des Antriebsmotors uns über die verschneite Winterlandschaft hinweg auf den Berg hinaufbewegte. Unter uns die Tannen, tiefhängend ihre Äste.

Wir spähten nach vorn zu den Klassenkolleginnen, beide erfahrene Schifahrerinnen und nicht wie wir aus einem Dorf, in dem man bestenfalls auf Holzbrettln mit Kabelbindung über einen flachen Hügel gerutscht war. Nun aber wollte es das Credo der Chancengleichheit, weit verbreitet in den siebziger Jahren in österreichischen Gymnasien – oder war es doch der Schiindustrie und dem Wintertourismus geschuldet – dass auch wir, völlig ungeübt in der Kunst des Schilaufs, an einem Schikurs teilnehmen sollten.

„Schau mal, die da vorne haben sowas, wo sie die Schier draufstellen können. Aber wir haben nichts“, wies mich Alma auf den vermeintlichen Mangel am Liftsessel hin.

„Ja“, pflichtete ich ihr bei, nachdem ich vergeblich versuchte hatte, unter dem Sitz nach einem Fußraster zu tasten.

„Und außerdem finde ich es gefährlich, dass man so frei sitzt, ohne eine Absperrung. Schau einmal, wie hoch es runtergeht, wie leicht könnte man da aus dem Sessel purzeln.“ 

Ich wies auf die unter uns verlaufende Piste, auf der mit eleganten Schwüngen, die ersten Schulkollegen bereits talwärts wedelten.

Um unserer Angst beizukommen, begannen Alma und ich zu singen. Wir entschieden uns für The Boxer von Simon & Garfunkel, und plärrten lauthals „Lie la lie“ über den weißen Hang. Das half ein wenig, die Unsicherheit zu überspielen. Im Überspielen waren wir Weltmeister, wurden wir doch häufig zum Gespött der Mitschüler, und galt es auch da, nicht zu zeigen, wie sehr man sich kränkte.

Wir konnten eben nicht mithalten mit den Kindern der Ärzte, Lehrer, Kaufleute und Kaffeehausbesitzer in der kleinen Bezirksstadt. Wir waren die Landpomeranzen. Und allein das bedeutete, dass man Freiwild war, und folglich ungestraft verhöhnt werden konnte. Ein Grund fand sich immer, sei es die Kleidung, der Dialekt oder der Vorname. Die Fantasie unserer Schulkollegen kannte keine Grenzen.  

 

Nachdem wir einige Strophen des Boxer durchhatten, erreichten wir die Bergstation und glitten vom Sessel, fingen uns unsicher mit den Stöcken ab und rutschten mit steifen Knien zur Turnlehrerin.

Die musterte uns verächtlich und entschied dann: „Ihr zwei seid die einzigen, die keine Ahnung vom Schifahren haben, so können wir euch nicht einmal in die letzte Gruppe aufnehmen. Aber die Kollegin hat sich bereiterklärt, mit euch ein wenig zu üben, damit ihr die Grundbegriffe lernt.“

Dabei wies sie mit dem Stock auf die Biologielehrerin, die ein wenig abseitsstand und uns freundlich zuwinkte. Bislang hatte ich sie nur als Vermittlerin von Kristallstrukturtypen und dem Bauprinzip der Desoxyribonukleinsäure erlebt.

In den nächsten Stunden sollte ich sie als eine mit Eselsgeduld ausgestattete Pädagogin kennenlernen, die Alma und mich im Stemmpflug in Richtung Tal dirigierte. Denn natürlich war es auf der steilen Piste unmöglich, so zu fahren, wie wir es von unseren oststeirischen Hügeln her gewohnt waren, „im Schuss“ nämlich. Und obwohl wir uns abmühten der Biologin zu folgen, stürzten wir etliche Male, sodass die Abfahrt für uns dreimal so lange dauerte wie für die Mitschüler, die lachend an uns vorbeiflitzten.

Wenigstens klärte sich bei der nächsten Liftfahrt aber das Rätsel um den fehlenden Fußraster auf. Ich bestieg diesmal mit der Lehrerin den Sessellift, die mit gewandter Geste den Schließbügel über unserem Kopf herunterzog, der den Sitz verriegelte und nun auch die Fußstütze zum Abstellen der Schier unter uns bildete. Diesen Schließbügel hatten Alma und ich bei unserer ersten Fahrt gar nicht bemerkt.

Wieder etwas gelernt, dachte ich.

Leider ging das mit dem Erlernen des Schilaufens nicht so rasch und reibungslos vonstatten, und so waren wir auch die Letzten, die am Ende des anstrengenden Nachmittags endlich den Bus erreichten, der uns zurück ins Quartier bringen sollte.

Die Schulkollegen johlten, als wir einstiegen.

„Die Almkuh kommt! Und hinter ihr der Marterpfahl!“ Unschwer zu erkennen, hatten die lieben Mitschüler Almas Vornamen in Almkuh verwandelt und zu meinem Vornamen Martha war ihnen sinnigerweise nur der Marterpfahl eingefallen, nachdem sie wahrscheinlich mein Martyrium auf der Schipiste beobachtet hatten. Keiner der anwesenden Lehrer griff in das ausgelassene Treiben ein, nur als die Klasse ganz außer Rand und Band geriet und mir auch noch die Mütze vom Kopf zog und durch den Bus schleuderte, brüllte die Turnlehrerin, dass „jetzt aber Schluss sei.“

So ging das auch an den folgenden Tagen. Die Mitschüler tobten, wenn sie uns sahen, und suchten einander mit witzigen Bemerkungen über unseren Fahrstil zu übertreffen. Aber immer knapp, bevor die ganze Bande drohte, komplett überzuschnappen, sprach die Lehrerin ein Machtwort.

Langsam identifizierten wir uns so sehr mit dem „poor boy“ im Boxer, dass wir daraus ein „girl“ machten und verbissen unser „I am just a poor girl though my story’s seldom told…“ in die frostige Winterluft hinausstießen.

Irgendetwas musste sich ändern, so viel war klar. Schließlich war morgen Abend die lange angekündigte Hüttengaudi und wir hatten es satt, auch da noch zum Gespött der Mitschüler zu werden. Außerdem hatte ich ein Auge auf meinen Schulkollegen Michael geworfen und hoffte, ihm bei diesem Fest näherzukommen.

„Wir könnten uns eine Flasche Martini besorgen“, raunte Alma mir zu. „Dann werden wir lockerer.“

„Ja, aber erwischen lassen dürfen wir uns nicht!“, räumte ich ein.

Also beschlossen wir die Flasche im Hof bei den Müllcontainern zu verstecken und immer nur für kurze Zeit den Partykeller zu verlassen, wenn wir das Gefühl hatten, uns Mut antrinken zu müssen.

Zum Glück wehte am nächsten Morgen der Schnee in großen Fetzen vom Himmel, und die Biolehrerin entschied, dass Alma und ich im Quartier bleiben sollten.

Mit uns zwei Tollpatschen auch noch einen Tag beim Tiefschneefahren zu verbringen, dafür reichte nicht einmal ihre Leidensfähigkeit aus.

Nun aber hatten wir genügend Zeit, Alkohol zu besorgen und uns auf den Après-Ski Abend vorzubereiten. Wir duschten ausgiebig, föhnten uns beinah eine Stunde lang die Haare, probierten Kleidungsstücke an und verwarfen unsere Wahl gleich wieder. Schließlich entschieden wir uns doch für Jeans und Rollkragenpulli. Unseren kindhaften Gesichtern aber gaben wir den letzten Schliff, indem wir die Augen mit schwarzem Kajalstift umrahmten. Eindeutig der Gipfel der Verwegenheit!

Im Partyraum, einem spärlich ausgestatteten Kellerraum des Gasthauses, dröhnte bereits Dancing Queen von Abba aus den Lautsprecherboxen.

Unsere Klassenqueen Charlotte, genannt Charly, wirbelte inmitten ihrer Hofdamen und unter den bewundernden Blicken der Jungen über die Tanzfläche.

Alma und ich schlichen indes ins Freie zum Müllplatz. Rasch würgten wir ein paar große Schlucke des widerlichen Gesöffs hinunter und begaben uns dann wieder zurück in den Partykeller. Die Musik hatte gewechselt, jetzt trällerten Agnetha und Anni-Frid Fernando. Meine Knie waren weich und es grummelte ein wenig in meinem Bauch, aber tapfer mischte auch ich mich unter die Tanzenden. Natürlich hatte Charly sich bereits Michael geschnappt. Aber ich hatte keine Zeit mir darüber Gedanken zu machen, denn schon forderte mich Joachim auf, mit ihm zu tanzen. Na gut, besser als gar nichts. Er war zwar kleiner als ich und gefiel mir nicht sonderlich, aber in der Klassenhierarchie stand er einige Ränge über mir.

Alma stand indes mit hängenden Schultern an der Theke und schaute uns zu. Niemand hatte sie bislang zum Tanzen aufgefordert.

Egal, für mich ging es jetzt los. Da tippte mir Alma auf die Schulter und zischte: „Eine schöne Freundin bist du!“

„Bitte nicht jetzt! Lass mich in Ruhe.“

Ich widmete mich voll und ganz meinem Tanzpartner und absolvierte Chiquitita, Take a chance on me und Money, Money, indem ich meine Gliedmaßen rhythmisch hin und herschwang.

Dann setzte der absolute Heuler ein: Samba pa ti von Carlos Santana.

Die Aufforderung zum „eng tanzen“! Mir wurde schwummrig, denn schon hatte Joachim die Arme um mich gelegt und hauchte mir seinen heißen Atem in den Nacken. Es flimmerte vor meinen Augen, und ich wusste nicht, ob die Ursache der Alkohol war oder die schlechte Luft, oder Joachims Körper, der sich immer enger an mich drängte.

Da fiel mir Alma wieder ein. Ich hatte sie schon länger nicht gesehen. Wo war sie?

Abrupt löste ich mich von Joachim und murmelte eine Entschuldigung. Ich brauchte dringend frische Luft und einen Schluck Martini. Und ich musste Alma finden.

Als ich zu den Müllcontainern hetzte, sah ich sie, vornüber gefallen im Schnee, daneben die leere Flasche. Sie rührte sich nicht.

Augenblicklich war ich hellwach. Ich zog sie hoch und rieb ihr das Gesicht mit Schnee ein, sie verdrehte die Augen und lallte etwas, dann kotzte sie los. Gleich darauf verließen sie wieder die Kräfte und sie sank auf den Boden. Mein Herz hämmerte wie wild. Kalter Schweiß trat mir aus den Poren. Was tun? Die Lehrer verständigen?

Da sah ich am Eingang die Turnlehrerin, die sich gerade eine Zigarette anzünden wollte. Mit wilden Armbewegungen bedeutete ich ihr herzukommen. Sie ließ den Tschick sofort fallen und eilte zu uns.

Alma wurde mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert und wieder ausgenüchtert zusammen mit mir in den Zug nach Hause gesetzt.

Erleichtert sanken wir im Abteil auf unsere Sitze. Wir waren mit einer Verwarnung und der vorzeitigen Heimreise davongekommen. Und Alma hatte einen neuen Spitznamen: Almrausch.

Der Zug ruckelte und draußen flogen ein Stück blauer Himmel, ein paar kahle Bäume und einige geduckte Bauerhöfe vorbei.

Wir lehnten uns zurück und sangen. Bridge over troubled water…

 

V2/ 9926 Zeichen inklusive Leerzeichen