Von Peter Burkhard

Julia starrte mit zitternder Hand auf ihr Smartphone. „Aber ich war überzeugt, dass es sich um einen Jungen handelt. Und jetzt?“
„Das ist dein Problem. Die Abmachung war klar.“ Der Typ am anderen Ende gab sich unnachgiebig und verächtlich.
„Wie hätte ich denn wissen können, dass es sich um ein Mädchen handelt? Die Mutter saß auf der Parkbank und nannte das Kind Sascha. Shit, verdammter! Wie kann man nur ein Mädchen Sascha nennen?“
„Dein Fehler, behalt einfach die Göre.“ Ein heiseres Husten folgte dem dümmlichen Vorschlag.
„Oder such dir einen anderen Abnehmer.“ Wieder hustete der Kerl. „Aber melde dich auf keinen Fall wieder, bevor du einen Schwanzträger auf Lager hast.“
Die Verbindung brach ab. Julia betrachtete verstört ihr verstummtes Handy und knallte es auf die Tischplatte.
Im Nebenraum begann Sascha zu plärren.

* *

„An alle Einheiten: Zwei, drei, eins. Ich wiederhole: Zwei, drei, eins, Kindesentführung im Zentralpark.“
Die Beamtin der Einsatzzentrale beorderte mit ruhiger Stimme drei Polizeifahrzeuge und einen Rettungswagen zum Ort des Geschehens. Kurz darauf waren alle Parkeingänge in beide Richtungen gesperrt und nur wenig später trat das Ermittlerteam unter der Leitung von Moira Berner auf den Platz.
„Ich habe ihr eine Beruhigungsspritze gegeben, Sie können mit ihr sprechen.“ Der Sanitäter nickte der Hauptkommissarin zu und begann seine Sachen zu verräumen.
Ermittlerin Berner schüttete einen Rest Hafermilch ins Gras und stopfte den leeren Pappbecher in ihre Jackentasche. Flüchtig überflog sie den Personalausweis der weinenden Mutter, bevor sie sich dieser zuwandte und sich vorstellte.
„Sind Sie bereit, mit mir zu reden? Verstehen Sie mich? Ich muss Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen.
Können Sie mir den Ablauf schildern? Bitte versuchen Sie die Person zu beschreiben und wie diese Ihr Kind an sich nahm!“
Nach einigen verstörenden Augenblicken hob die junge Frau ihr tränen- und make-upverschmiertes Gesicht.
„Sie glauben also, dass die Dame im Sportdress die Entführerin war, und dass sie ihren Schwächeanfall nur vorgetäuscht hatte, um Sie wegzulotsen? Nochmals, damit ich es richtig verstehe: Sie liefen zum Brunnen, um Wasser für die Frau zu holen. Als Sie nach kurzer Zeit zurückkamen, war der Kinderwagen leer und Sascha war weg. Und die Unbekannte?“
„Die ging da hinunter.“ Die verzweifelte Mutter zeigte mit bebender Hand in die Richtung eines kleinen Kiosks.
„Ich bin ihr über die Wiese nachgelaufen, bin aber gestolpert und fast hingefallen. Ich habe sie aus den Augen verloren, sie ging zu schnell.“ Wieder begann die junge Frau zu schluchzen und zu zittern.
„Und, hatte sie Ihr Kind bei sich?“
„Ja sicher!“ Die Stimme der Befragten überschlug sich. „Wo hätte Sascha sonst sein können, sie hat sie entführt!“
Mitten in der längeren Befragung schnaufte ein zweiter Ermittler heran und fuhr dazwischen. „Wir haben möglicherweise die Gesuchte. Sie wurde unweit des Parkausganges Nord aufgehalten.“
Er schob sich vor seine Chefin und flüsterte ihr zu: „Vom Säugling keine Spur.“
„Und mein Kind? Wo ist Sascha? Haben Sie meine kleine Sascha gefunden?“ Die Reaktion der leidenden Mutter glich dem Aufjaulen eines Hundes, bevor sie zusammensackte und vor sich hin wimmerte: „Ich will doch bloß mein Mädchen zurück.“ Moira Berner ging vor ihr in die Hocke und legte ihre Hände auf die schlotternden Knie der bedauernswerten Frau.
„Noch nicht. Versuchen Sie sich zu beruhigen, wir werden alles nur Erdenkliche tun, um Ihr kleines Mädchen zu finden.“
An ihren Kollegen gewandt erwiderte die Hauptkommissarin: „Okay, Herbie, lass die aufgegriffene Zeugin aufs Revier bringen und wir fahren da jetzt ebenfalls hin.“

* * *

„Verdammt, sei endlich still.“ Julia presste zwei Tabletten aus der Aluverpackung und schluckte sie angewidert herunter. Als sie das halb leere Glas abstellte, fiel ihr Blick auf ihre verletzte rechte Hand und ließ sie erschaudern. Da waren noch immer Blut und tiefe Schrammen, Spuren ihrer Flucht durch die dornigen Parkhecken, mit dem Säugling im Arm. Im Badezimmer wusch sie sich Gesicht, Arme und Hände, während Sascha geplagt von Hunger im Zimmer nebenan schrie.
Die Entführerin war auf das Geplärre vorbereitet. Die Kleine war bereits das vierte Baby, welches es dank ihres Geschicks in eine andere, nach ihrem Ermessen bessere, Welt schaffen sollte. Hin zu Eltern, die weder Mühe noch Kosten scheuten, um sich bedenkenlos ihren egozentrischen Kinderwunsch erfüllen zu können.
Wenig später schlummerte die Kleine gesättigt und mit einer wohligen Wärme im Bauch auf einer Wolldecke am Boden. Julia ließ sich auf ihr Sofa plumpsen, stopfte sich eine liegen gebliebene, halbwegs geschmolzene Praline in den Mund und schlief ein, kaum dass die Schokolade ihren Magen erreicht hatte.
Mitten in der Nacht, es war kühler geworden und stockfinster, schreckte die Schlafende auf und beleuchtete mit der Taschenlampe des Handys das schlafende Kind. Doch bevor sie sich auch nur einen einzigen Gedanken zu ihrer beschissenen Situation machen konnte, hatte sie der Schlaf wieder übermannt.

 

Es war zwanzig vor acht, Sascha spielte mit ihren Füßchen. Der penetrante Geruch durchnässter Windeln verbreitete sich im Raum. Julia saß bereits auf dem Sofa, als erste Sonnenstrahlen durch die matten Scheiben eines Fensters auf ihren geöffneten Laptop fielen. Nervös und hastig googelte sie nach nahe gelegenen Standorten in der Region. Der nächste befand sich in einem Klinikum, nur gerade sechsundzwanzig Kilometer von ihrem Zuhause entfernt. Die junge Frau lehnte sich erleichtert zurück. Beidhändig strich sie sich ihr wirres Haar aus dem Gesicht und stieß einen derart überlauten Seufzer aus, dass Sascha erschrak und zu wimmern begann.
Im Traum war ihr die Lösung ihrer vertrackten Situation erschienen und als sie durch das Quengeln des Kleinkindes wach wurde, war ihr sofort klar, wie sie Sascha loswerden konnte. Sie wollte sich des lästigen Balgs schleunigst entledigen und hätte auch jede andere Chance dazu ergriffen.
Unvermittelt sprang Julia auf, brühte sich frischen Kaffee und kümmerte sich widerwillig um das unruhige Bündel.

* * *

Irgendwie schien ihr Schutzengel sie aus den Augen verloren zu haben. Mit blockiertem Vorderrad und ohne schützenden Helm schlug Julia, Gesicht voran, auf dem steilen Kiesweg auf, der vom angrenzenden Wald zum Klinikum hinunterführte. Wie von einem spitzen Eisen durchstochen schoss ihr ein heftiger Schmerz durch die rechte Hand und der Lenker des Rades bohrte sich unterhalb der Brustrippen in ihren Bauch. Die verschnürte Schachtel, die sie auf dem Gepäckträger mitführte, flog über sie hinweg, überschlug sich mehrmals und landete im Geäst einer kleinen Fichte.
Nach einigen Momenten der Besinnungslosigkeit rappelte sich die Gestürzte auf und schleppte sich mit blutverschmiertem Gesicht zum Unterholz, aus dem Saschas Winseln drang.
„Wo bist du?“ Die Verletzte kroch unter die sperrigen Äste des Nadelbaumes und bekam ein Stück Pappe zu fassen. Mit größter Mühe zerrte sie das kleine Menschlein mitsamt einer alten Decke aus dem zerfetzten Karton und drückte es an ihre schmerzende Brust.

 

Aus den halb geöffneten Fenstern des Speisesaals drang das Klappern von Besteck und verhaltenes Gelächter. Seltsamerweise bemerkte niemand die junge Frau, welche mit letzter Kraft und vor Schmerzen stöhnend, über die weitläufige Parkanlage des Klinikums wankte, bevor sie neben einer Parkbank zusammenbrach und das Kind unter sich begrub.
Als sie wieder die Augen aufschlug, wusste Julia nicht, wie lange sie auf dem Boden gelegen hatte. Regen hatte eingesetzt und die Wassertropfen liefen ihr wohltuend über ihre bloßen Körperstellen. Sascha regte sich nicht.
Noch immer benommen irrte ihr kraftloser Blick zum großen Gebäude, glitt über dessen Mauern, Fenster und Eingänge. Nichts, nicht der geringste Hinweis auf das, was sie suchte.
Sie mühte sich aufzustehen. Torkelte, nicht sicher, ob der Säugling noch lebte, zu einer kleinen Treppe, an deren Fuß sie Sascha in der durchnässten Decke deponierte.
„Das ist alles, was ich für dich tun kann, du elendes Balg. Verdammt, schau mich an, das alles geschieht deinetwegen!“ Sie hielt ihre linke Hand an den Bauch. „Es tut so unglaublich weh.“
Ohne zurückzublicken, zog sie sich schleppend, wie ein angeschossenes Stück Wild zurück in den Schutz des nahe gelegenen Waldes.

* * *

„Nein, die Joggerin ist raus aus der Sache, das ist geklärt. Die war plötzlich in Eile und ließ den Kinderwagen einfach unbeaufsichtigt stehen. Die Entführung muss also binnen weniger Sekunden, bevor die Mutter zurückkam, geschehen sein und niemand will etwas gesehen haben.“
Die Hauptkommissarin schüttelte den Kopf. „Ja klar, wir bleiben dran.“
Kaum hatte sie aufgelegt, als das Telefon erneut klingelte.
„Ja, am Apparat.“ Ihre entspannte Mimik wich blitzartig, ihre Gesichtszüge erstarrten.
„Ja gut, wir kommen. Halten Sie sich bereit!“
Die Ermittlerin ließ alles stehen und liegen. „Auf gehts, Herbie, wir fahren zum Klinikum am Stadtrand.
Eine mysteriöse Geschichte, sehr mysteriös.“

 

Mit großen Schritten erklomm Moira Berner die Treppe zum Haupteingang des Hospitals, an deren Ende die Ärztin bereits wartete. Herbert, ihr schwergewichtiger Assistent, folgte ihr keuchend.
Drinnen im Bereitschaftsraum erklärte die Medizinerin den Grund ihres Anrufs: „Es ist ein kleines Mädchen, wenige Wochen alt. Es lag mit zerrissenen Kleidchen und in eine nasse, mit Dreck verschmierte Decke gehüllt am Fuß einer Treppe. Mein Kollege untersucht das Kind gerade. Es war völlig durchnässt und schien unterkühlt, aber äußerlich nicht schlimm verletzt zu sein.“
Die Ärztin ging zum Fenster und öffnete dieses einen Spaltbreit. „Vermutlich hat die Mutter unsere Babyklappe gesucht, aber nicht gefunden.“
Die Hauptkommissarin sprang auf. „Das war nicht die Mutter. Führen Sie mich bitte zum Fundort und du, Herbie, kümmerst dich um das Kind.

Herrgott, wenn ich mich da nur mal nicht irre.“

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