Von Hans-Günter Falter

Wenn Tag und Nacht Geschwister sind

Träume hängen auf der Leine, atemlos im kalten Wind,
wenn Tag und Nacht Geschwister sind.

Die Bö vertreibt verquer den Mond,
der schon so lang am Himmel wohnt.
Aus seinem Mund saugt sich ein Wort,
sie zieht daran, nimmt es ihm fort.

Die Nacht begegnet heut dem Tag,
wo der doch noch im Schlafe lag.
Taumelnd, krachend sinkt er ein,
will nun der beste Freund ihr sein.

Die Dunkelheit umschwirrt ihn leise,
bei der beschwerlich, langen Reise.
Was bleibt vergeht, es kann nicht fort,
was geht, das bleibt, am andren Ort.

Ein Traum versickert mit dem Tag,
die Nacht allein schafft´s, wenn sie mag.
Sie zieht ihn hoch, aus seinem Grab
begibt sich hin, wo er fast starb.

Die Zeit hat Raum, was soll geschehen?
Ein Traum ist da, liegt in den Wehen.
Der Anfang kommt und hat kein End,
selbst wenn das End am Anfang ständ.

Wenn Tag und Nacht Geschwister sind,
dann träumt der Traum im kalten Wind.
Träumt von der Bö und von dem Mond,
der nun mit ihr am Himmel wohnt.

*

 

Mit gewaltiger Kraft schiebt er sich voran, immer weiter und weiter. Ein Ende ist nicht in Sicht. Seit Jahrtausenden gleitet sein Eis, trotz seiner enormen Masse, gleichmäßig, aber entschieden dem Ziel entgegen. Immer sanft auf einem Film aus Schmelzwasser gleitend. Mit den Rändern schabt er an den Felsen und trägt schmirgelnd Millimeter um Millimeter davon ab, rundet die Form weiter.

Jetzt ist er mit großem Getöse vom Gletscher abgebrochen und ins Meer gestürzt. Untergetaucht und kurz darauf wieder durch die Oberfläche gestoßen. Eine kleine, unwirkliche Formation aus ewigem Eis, die den längsten Teil der Ewigkeit nun hinter sich gelassen hat, schaut verstohlen schaukelnd aus dem Wasser empor. Fühlt sich abgestoßen.

Jahrelang war er Teil des Gletschers, wurde langsam aber stetig tiefer und tiefer ins Tal gedrückt. Dabei rutschte er sanft über den Untergrund, der seit Jahrtausenden von den Eismassen abgeschliffen wird. 

Fast reibungslos rollte er über den glatten Film aus schmelzendem Wasser, das ein Teil von ihm war und sich stetig unter ihm bildete.

Er ergoss sich also ins Meer, entlud seine Energie ekstatisch mit großem Spektakel und kam danach langsam zur Ruhe, schaukelte noch eine Weile, bevor er stoisch in der kalten See zur Ruhe kam. Zusammen mit anderen, zuvor abgebrochenen, kantigen Brocken, mit denen er sich nun das Schicksal der zu Eisbergen mutierten Gletscherfragmenten teilte.
Sein Schicksal kennt er. Zuerst werden sich seine Kanten runden, bevor er langsam an Masse verliert und sich stetig mit dem Meer vereinigt; eine homöopathische Dosis von ihm wird.  

Die arktische Kälte verschwindet langsam und er wird Teil der Meeresströmungen.

 

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