Von Markus Holin

Wir, das Volk, wurden von euch zu lange belogen. Wir, das Volk, haben uns zu lange von euch blenden lassen. Wir, das Volk, stehen auf und werden euch jagen. #MRE! Vitus war wütend wie lange nicht. MRE, mir reicht es. Er sendet den Tweet ab und legt sich ins Bett. Schnell fällt er in traumlosen Schlaf.

 

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Am Morgen gilt sein erster Blick seinen Social-Media-Accounts. Nach seinem Tweet am Vorabend, hoffte er auf ein wenig positives Feedback. Zu seiner großen Überraschung hatten bereits mehrere Leute seinen Beitrag geliked und über ihre eigenen Accounts geteilt. Schnell gewannen sein Beitrag und Profil an Reichweite. Er setze einen weiteren Tweet ab, 

 

Ich fürchte mich nicht vor den Konsequenzen meines Handelns. Ihr seid es, die Konsequenzen für ihr Handeln fürchten müssen. #MRE!

 

Die Resonanz auf seine Tweets überraschte ihn. Klar, es gab da draußen noch mehr von seinem Schlag. Vor Jahren wandte er sich ab, von der Politik und seinen vorherigen Grundüberzeugungen. Jetzt sieht er überall die Gefahren. Spritpreise, Pandemie, Sicherheitspolitik, Großkonzerne. In Vitus Realität vergeht kein Tag, an dem er nicht belogen wird. Ein Leben als Opfer.

 

Vitus macht sich auf den Weg zur Arbeit. Unterwegs ist sein sein Handy keinen Moment still.

Kurz bevor er das Bürogebäude betritt, tippt er 

 

Freiheit! #MRE! 

 

und schickt den Tweet ab. 

 

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Der Arbeitstag lief im Zeitraffer ab. Maschinell erledigte er seine Arbeiten, immer wieder untermalt vom Vibrieren und Klingeln seines Handys. Seine Kollegen verdrehen nur noch die Augen wenn Vitus ausholt, um seine, wie er es nennt, Erkenntnisse mit Mitmenschen zu teilen. Die Grüppchen lösen sich dann schnell auf und jeder geht wieder seiner Arbeit nach. Für Vitus ein Glücksfall, sieht er doch die Verblendung in den Augen seiner Mitmenschen und es fällt ihm zunehmend schwer, eine Gegenposition zu akzeptieren. 

 

Ich habe es satt. Wenn wir nicht bald ALLE aufwachen, werden uns die Mächtigen dieser Welt töten. #MRE!.

 

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Es ist Abend. Seine Freunde warten schon auf ihn in der Kneipe. Er setzt sich an die Tafel, vor ihm steht bereits ein kaltes Bier. Sie stoßen an und es dauert nicht lange, bis sich die Themen auf das politische Tagesgeschehen konzentrieren. Schweigend lauscht er den Gesprächen seiner Freunde. Sie argumentieren, sie gestikulieren und nur kommen sie einer Lösung nicht näher. Für Vitus sind das die Beweise, die er immer wieder findet. Feige Leute reden nur, machen aber nichts. Er ist kein Weichei, er steht ein für das was er denkt. Also holt er auch an diesem Abend aus, steigert sich rein in seine Thesen und Ansichten. Nur noch er spricht, seine Freunde hören fassungslos zu. 

 

Später werden sie sich fragen, wie man Vitus helfen kann. Ob man ihn überhaupt noch wieder einfangen kann. Zu wirr waren seine Thesen und zu aggressiv seine Haltung. Es erfüllt sie mit großer Sorge, dass er nicht mehr die gleichen Werte teilt. Aber da ist Vitus bereits wieder zuhause an seinem PC. Er durchforstet Foren, tauscht sich mit Gleichgesinnten aus, findet Bestätigung. Es findet bald eine Demo statt. Mit großer Freude teilt Vitus Datum, Uhrzeit und Location über seinen Twitter-Account.

 

Kommt alle! Zeigt den Zusammenhalt, den dieses Land verloren hat. Wir sind viele. Unsere Stimmen sind laut und werden eure Lügen widerlegen! #MRE!.

 

Kurz bevor er sich ins Bett legt, schaut er sich seine Follower-Zahlen an. Innerhalb weniger Tage wurden aus 250 Followern, 4.500. Sein Hashtag #MRE! gehört zu den meistbenutzten in den letzten Tagen. Die Wellen der Euphorie schwemmen jeden Restzweifel beiseite. Er erreicht etwas. Vitus steht endlich für etwas. #MRE!, er lächtelt als der Schlaf die Kontrolle übernimmt.

 

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Die Stimmung auf der Demo ist friedlich. Es sind mehr Leute erschienen als zunähst angenommen. Gerechnet hatte er mit 400, gekommen zu sein scheinen mindestens 10.000. Er zückt sein Handy und beginnt zu filmen. Das kurze Video lädt er bei Twitter hoch, 

 

Das Herz auf der Zunge, die Wahrheit in der Hand. So stolz, Teil dieser Bewegung zu sein. #MRE!. 

 

Gleichgesinnte, überall. Vitus ist nun Teil einer homogenen Masse. Vereint in der Gewissheit, das Richtige zu tun. Er spürt es, hier entsteht etwas Großes. Keine Zeit nachzudenken. Zweifel verstummen, als er mit dem Mikrofon in der Hand die Bühne betritt. Das war so nicht geplant, aber der Sturm der Begeisterung hat ihn an diesen Ort getragen. Er reckt seine Faust in den blauen Himmel, 10.000 Augenpaare sind auf ihn gerichtet. Vitus holt tief Luft, „was hier passiert, was ihr hier tut, wird in die Geschichte eingehen! Wir werden uns keine einzige Lüge mehr anhören, keinem korrupten Politiker Aufmerksamkeit schenken. Wir sind nicht mehr Teil eines Lügengebildes, das kurz vor dem Einsturz steht.“ Vitus spürt, wie seine Worte in den Köpfen des Publikums nachhallen. Mit jedem Wort wird seine Stimme fester, sein Stand selbstbewusster. Jede Silbe aus seinem Mund ist nun eine Abrechnung, eine verbale Kriegserklärung an die Eliten. Es geht um den Deep State, es geht um die Macht der Konzerne, es geht um all die unerklärlichen Phänomene dieser Welt. 

 

„Wir sind die kritische Masse, wir sind hier um zu bleiben. Was Macht wirklich bedeutet, werden wir denen zeigen, die sich der Wahrheit verwehren. Lasst euch nicht einschüchtern, ihr seid stärker als die. Ihre Waffen mögen euch verletzen, aber eure Worte sind es die die Welt ins Wanken bringt. Folgt mir auf diesem Weg, kämpft an meiner Seite. MRE! MRE!“ Heiser brüllt Vitus immer wieder diese drei Buchstaben in die Nachmittagsluft. M-R-E. Der Widerhall der tausenden Stimmen raubt ihm den Atem. Seine Augen glänzen, als er unter donnerndem Beifall die Bühne verlässt. Vitus, der Volksheld.

 

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Es dauerte nicht lange, bis #MRE! unter den meisten der Tweets zu finden war. Vitus bekam Interviewanfragen von Gleichgesinnten und sprach auf vielen Kundgebungen. Er war der Rockstar der Szene und Kopf des Protestes. Ihm hörten die Leute nun zu. Seinen Job hatte er bereits gekündigt, sein altes Leben war somit vorbei. Von nun an gab es nur noch Vitus, den Kopf der Protests, den Anführer der Wut und Enttäuschung. 

 

Nur noch für euch. Von jetzt bis in alle Zeiten. #MRE!

 

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Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, dass sich sein Einsatz auszahlt. Politiker aller Parteien wollten sich den Sorgen der Protestierenden annehmen und in einen Dialog treten. So kam es, dass Vitus eigens Videokonferenzen mit den verhassten Repräsentanten eines Staates abhielt, den er ablehnte. Seine Argumente vermochte keiner zu entkräften. In Vitus’ Augen war es vergebene Mühe, niemand hörte ihm wirklich zu. Zu wirr seine Thesen, zu abgehoben seine Forderungen. Seine Vorstellung der Realität, war mit der Realität der Anderen nicht vereinbar. Nach jedem der Gespräche setze er Tweets ab. 

 

Wenn du reden aber nicht handeln willst, dann schweig besser! Für immer! #MRE!

 

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Die Bewegung war unaufhaltsam. Jede Woche wurden die Kundgebungen größer. Ebenso standen jede Woche mehr Polizisten an den Veranstaltungsorten. Was klein begann, war nun groß. Sehr groß und auch zu groß für Vitus. Der Ton der Kundgebungen wurde aggressiver, die Thesen noch schriller. Die Enttäuschten hatten ihrem Ärger Luft gemacht und wurden von den Wütenden verdrängt. Ihnen reichte Reden nicht mehr, sie wollten Taten. Für Vitus war das eine rote Linie, die er nie übertreten wollte. 

 

Zu spät, die Eskalation nahm ihren Lauf. Was als Protestkundgebung begann, schaukelte sich in kurzer Zeit zu einem beispiellosen Akt der Gewalt hoch. Nachdem Flaschen auf die Polizisten geworfen wurden, rückten diese an, um die Gruppen auseinander zu treiben. Dies entfachte noch mehr Wut bei den Menschen. Sie schlugen mit Fäusten und allen Gegenständen die sie in die Finger bekamen auf die Polizisten ein, Staatsdiener ohne Rechte. Ein wildes Durcheinander von Fäusten, Körpern und Schmerzensschreien durchschnitt die Idylle eines wunderschönen Tages. In seiner Verzweiflung sprang Vitus auf die Bühne und schrie in das Mikrofon, alle sollen sofort aufhören. Das habe er nie gewollt. Nicht so. Seine Worte verhallten ungehört im Chaos und die ungehemmte Wut entlud sich in immer heftigeren Wellen völlig entfesselter Gewalt. 

 

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Ob es Verletzte oder gar Tote gegeben hat, konnte Vitus nicht sagen. Er ist kurzerhand vor der Polizei geflüchtet, als diese mit Verstärkung anrückte. Vitus rannte, er rannte so schnell wie ihn seine Beine trugen. Als er an seinem Auto angekommen war, brach er in Tränen aus und sackte müde an der Fahrertür zusammen. Mit zitternden Fingern tippte er einen Tweet in sein Handy, 

 

Mich macht der Kampf stolz, aber nicht die Wahl der Waffen. Geht nach Hause, küsst eure Kinder und Frauen. Sagt ihnen wie sehr ihr sie liebt. Unser Kampf geht weiter! Für die Wahrheit! #MRE!.

 

Langsam und mit schmerzverzerrtem Gesicht erhebt sich Vitus. Hinter ihm hört er Schritte. Er spürt dumpfe Schläge in Rücken und Hals. Seine Beine sacken weg. Er blickt nach oben und schaut in ein schwarz maskiertes Gesicht, die Person hält in der einen Hand ein Messer. Mit der anderen Hand zeigt sie Vitus einen Tweet, wenn du reden aber nicht handeln willst, dann schweig besser! Für immer! #MRE!. Er hört die tiefe Stimme sagen, „du schweigst nun auch für immer“. Dann sieht er das Messer auf ihn herab rauschen. 

 

Stille.

 

Schwarz.