Von Martina Zimmermann

Bin ich wirklich schon so alt?

Ich stehe vor dem Spiegel und schaue mich an. Ich sehe eine Frau, sie war einmal schön, doch die Zeichen der Zeit sind deutlich zu sehen. Früher habe ich immer geglaubt, dass die Menschen damit klar kommen sollen. Es sind schließlich Zeichnungen des Lebens.

Heute weiß ich, das Leben rinnt so schnell vorbei. Einfach außer Kontrolle. Manchmal möchte man es anhalten um daran teilzunehmen.

So wirklich und nicht mechanisch und wie ferngesteuert einfach zu funktionieren.

Ich versuche mich zu erinnern, an bestimmte Situationen, doch dann ist da nur Leere.

Warum fällt es mir nicht ein? Warum empfinde ich gerade für diesen Lebensabschnitt nicht das, was man erwartet? Ich fühle nichts und versuche krankhaft meine Gedanken in die Richtung zu lenken, doch in meinem Hirn passiert nichts.

 

Dafür fällt mir ein, wie ich früher mit meiner Mutter zum  Einkaufen ging. In dem kleinen Laden bei uns auf der Straße. Dort bekam ich immer eine Scheibe Wurst. Ich machte brav einen Knicks und bedankte mich artig. So hatte ich das gelernt.

Mein Vater hatte mir das eingebläut. „Was sagt man?“, kam es heraus geschossen. Und wenn ich nicht sofort reagierte, dann spürte ich seine flache Hand in meinem Nacken. Ich brauchte nicht lange um zu lernen. Spätestens nach der zweiten Lasche in den Nacken, bei der ich mich fast überschlug, lernte ich es.

Warum fällt mir diese Episode jetzt ein? Wie lange ist das her? Ich habe jahrelang nicht mehr darüber nachgedacht und jetzt, genau als ich mich an die Einschulung meiner Tochter erinnern möchte, da sind diese Bilder in meinem Kopf.

Aber wo ist die Einschulung? Warum ist so ein Ereignis nicht gerade greifbar?

Ich versuche meine Gedanken zu sortieren. Denke an Anna … Meine geliebte Anna …

 

Sie ist mittlerweile eine gestandene Frau. Mein Kind, wie sehr ich sie liebe.

Aber warum ist die Erinnerung weg? Warum fällt es mir nicht ein?

Wie war es damals als sie zur Kommunion kam? Ach ja, sie bekam einen Hasen geschenkt, er sollte Sternchen heißen. „Ich weiß es noch“, schreie ich mir selber zu und lächel, weil einige Gedanken scheinbar noch funktionieren.

„Was für ein Glück“, hauche ich erleichtert.

Die Falten haben nicht alles aus meinem Kopf gedrückt.

Dieses alte Gesicht, ist mein Gesicht …

 

Ich hatte immer so viel Wert auf die Pflege gelegt, aber scheinbar kann man dem Zahn der Zeit, der an der körperlichen Substanz nagt, nicht entfliehen.

Ich schaue mich lange an, stehe immer noch vor diesem Spiegel.

Plötzlich sehe ich in meinen Augen dieses  Funkeln. Es war schon immer da.

Dieser Schalk, der in mir sitzt und darauf wartet  heraus zu brechen und irgend etwas anzustellen.

 

Dabei fällt mir ein, wie ich früher mit meinem Cousin, beim Zelten, die Kirschen von Nachbars Baum gestohlen habe. Was hatten wir einen Spaß, aber nur solange, bis der Nachbar uns erwischte.

Die Kirschen waren lecker …

Am nächsten Tag versteckten wir uns, aus Angst, er könnte uns in seiner Wut bestrafen. Zwei Tage später fühlten wir uns schon wieder sicher. Gott sei Dank mussten wir nicht büßen.

Warum fällt mir das jetzt ein? Ich bin uralt und habe schon lange keine Kirschen mehr gegessen und gerade auch keinen Hunger darauf. Aber dieser Geruch, der steigt mir in die Nase, als stände ich neben dem alten Kirschbaum. Ich kann mich erinnern wie die Zweige angeordnet waren und auf welchen Ast man zuerst steigen musste, um dann auf den nächsten zu klettern.

Ich bin vierundachtzig Jahre alt und denke an klettern und Kirschen klauen.

 

Mittlerweile bekomme ich Angst. Warum fällt mir nichts ein, was bedeutend war?

Meine Hochzeit, oder der Tod meines Mannes? Ist es nicht komisch?

Warum denke ich an diese Episoden?

 

Ich versuche meine Gedanken erneut zu ordnen und mich zu erinnern.

Wie es war als Anna die ersten Schritte gemacht hatte.

Ich sah meine Tochter vor meinem geistigen Auge.

Wie süß sie war. Für mich das schönste Kind auf dieser Erde.

Anna setzte ihre kleinen Beinchen ganz zaghaft voreinander und ich hielt sie an ihren kleinen Fingern fest, so dass sie vor mir her tippelte und sie lachte dabei vor Freude.

Ich hielt sie fest, aber wann konnte sie alleine laufen? Es war doch ein bedeutendes Ereignis damals. Warum kommen mir diese Erinnerungen nicht?

 

Dann schießen die Gedanken durch meinen Kopf. Wie sie im Sandkasten saß und ihren Sandkuchen in den Mund nahm und ihn aufessen wollte. Ich lache bei der Vorstellung.

Jedes Kind hatte so etwas bestimmt einmal versucht. Dann fiel mir ein, wie ich mit meinen Geschwistern im Sandkasten saß und wir die schönsten Kuchen backten.

Alle drei, aßen wir den selbst gebackene Kuchen auf.

Ich weiß es noch, wie der Sand zwischen meinen Zähnen knirschte und wie er schmeckte. Mein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, doch mein Bruder schaute mich eindringlich an. Er wollte, dass ich mir nichts anmerken ließ und in meiner Rolle blieb.

Angeekelt spielte ich mit. Ich wollte keine Spielverderberin sein und aß brav den Sandkuchen.

Später schimpfte meine Mutter mit uns. Aber wir fühlten uns heldenhaft und stark.

 

Ich lächel und dabei bemerke ich, dass eine Falte währenddessen, nicht mehr so tief scheint.

Sie glättet sich förmlich. Ich muss öfter lachen, denke ich.

„Habe ich genug gelacht in der Hetze des Lebens?“, frage ich mich.

Es gab Zeiten, da hatte ich nicht so viel zu lachen, fällt mir gerade ein.

Als ich oft krank war. Das hatte ich schon fast vergessen. Diese vielen Krankheiten, die mich immer wieder ausbremsten. Ich wollte so viel, doch mein Körper wollte es nicht.

Wir standen ständig im Krieg zueinander.

Gedanklich wollte ich so viel erreichen, aber immer wieder kam etwas dazwischen.

 

Ich erinnere mich an die Jahre, als ich meine Mutter pflegte und mich selber dabei aufgeben musste. Es war selbstverständlich für mich, aber diese Jahre bekommt man nicht zurück. Sie sind vergangen ohne viel zu lachen. Reisen oder Ausflüge zu erleben, war nicht möglich. Auch etwas Spannendes oder Schönes, war kaum drin. Stattdessen war ich umgeben von Leid und Pein.

 

Es fällt mir ein, dass jede Falte seine Bedeutung hatte. Das Leben hat sich in mein Gesicht gebrannt und mich gezeichnet und zu der Frau gemacht, die ich geworden bin.

 

Doch nur bestimmte Gedanken kommen mir in den Sinn.

„Kann es sein, dass unser Verstand uns steuert um uns zu schützen?“, frage ich mich.

„Vielleicht hat alles seinen Grund!“

Wir sollen an das denken, was uns in den Sinn kommt. Gedanken, die uns berieseln …

Nichts erzwingen …

Das Leben hat mir seine Vorgaben gemacht und ich musste es bespielen so gut ich konnte.

Eine Figur auf einem großen Spielbrett …

Manchmal war ich vorne und manchmal hinten. Ab und zu musste ich aussetzen. 

Oftmals konnte ich gewinnen und manchmal habe ich verloren.

 

Alles hat seine Zeit …

„Vielleicht schaffe ich es jetzt, als alte Frau, die Spielfigur selber zu ziehen und

mich nicht mehr von den Regeln beherrschen zu lassen?

 

Ich wünsche es mir, denn die Zeit verrinnt so schnell…!“

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