Von Herbert Glaser

(Bei dem folgenden Text handelt es sich um die Fortsetzung der Geschichte „Endspiel“ vom September 2018.)

 

 Schwärze. Undurchdringliche Schwärze.

Sie öffnet die Augen und sieht … nichts.

Lauscht angestrengt.

Kaum vernehmbares Rauschen aus der Wand.

Wasser, das in den Rohren singt.

Wo ist sie, wie hierhergekommen?

Woran erinnert sie sich?

Sie heißt Clara, ist 32 Jahre alt und Webdesignerin.

Was war gestern?

Auf dem Weg zum Supermarkt fiel ihr eine junge Frau auf.

Dezent gekleidet und doch unübersehbar attraktiv.

Genau sein Typ!

Clara verfolgte die Unbekannte eine Weile bis …?

Dann nichts mehr.

Nun ist sie hier.

Sie tastet den Untergrund ab, auf dem sie liegt.

Weich, bequem.

Ein Bett.

Erfühlt etwas Klebriges. Zieht sofort die Hand zurück.

Ihre Augen haben sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, erahnen einen winzigen Lichtschimmer.

Mühsam stützt sie sich auf die Ellenbogen.

Vorsichtig, um dieses eklige Etwas nicht noch einmal zu berühren, setzt sie sich an die Bettkante und steht auf.

Mit ausgestreckten Händen schlurft sie auf das Licht zu.

Verursacht mit dem Fuß ein metallisches Geräusch, zuckt zurück, geht in die Hocke.

Ihre Finger berühren einen kalten, spitzen Gegenstand.

Eine Schere.

Und daneben …

Ein Schuh.

Ein Bein.

Ein Stuhl.

Jemand sitzt vor ihr.

Regungslos.

Ein Voyeur?

Der Entführer?

Ruckartig steht sie auf und eilt auf den Lichtschein zu.

Ein Fenster.

Verschlossen.

Durch die Ritzen einer heruntergelassenen Jalousie dringt Sonnenlicht.

Ihre Hände suchen an der Wand.

Da.

Hektisch zieht sie den Rollladen halb hoch und realisiert, dass sie sich im ersten Stock befindet.

Ihr Blick schweift durch den Raum.

Oh mein Gott … nein!

Auf dem Stuhl sitzt reglos eine Person.

Gefesselt.

Blutüberströmt.

Die Frau von Gestern?

Die Frau von Gestern!

Clara hält eine Hand vor den Mund und versucht, ihren Puls aus der Erdumlaufbahn zurückzuholen.

Hilfe!

Sie reißt das Fenster auf und schreit.

Niemand zu sehen.

Auf dem Zimmerboden … ein Handy.

Der Notruf.

Sirenen bereits, während sie noch tippt.

Schwere Schritte im Treppenhaus.

Splitternd springt die Tür aus den Angeln.

„Auf die Knie und Hände hoch! Ich will Ihre Hände sehen, Ralf!“

Der Lauf des Maschinengewehres fixiert sie.

„Das muss eine Verwechslung sein. Ich heiße Clara. Die Frau braucht Hilfe!“

Zitternd kommt sie der Aufforderung nach und sinkt in sich zusammen.

Zwei Beamte legen ihr Handschellen an.

Ein Sanitäter untersucht die Frau auf dem Stuhl, schüttelt den Kopf.

Der Einsatzleiter lässt die Waffe sinken. „Das Opfer ist Karin Sattler. Ihr Freund hat uns alarmiert, nachdem er einen Anruf von ihrem Handy bekam. Sie wurde hier in ihrer Wohnung überfallen. Dabei lief offensichtlich etwas aus dem Ruder. Bei dem Täter handelt es sich mutmaßlich um Ralf Dengler.“ Er zeigt auf die mit Handschellen gefesselte Person. „Vor zwei Tagen geflohen aus einer Psychiatrischen Klinik. Dissoziative Identitätsstörung. Unberechenbar und gefährlich.“

Dengler richtet sich langsam auf und beginnt zu grinsen.

„Clara ist einfach zu nett. Sie will immer nur helfen. Aber so läuft es nicht.“

Ralfs Gesichtszüge erinnern an den Joker aus Batman.

„Mein Therapeut freut sich bestimmt schon auf uns.“

V1