Von Kornelia Wulf

Dünne Beinchen ragen aus dem staubigen Gespinst heraus. Wie Zuckerwatte gewickelt in Dreckkörnchen sieht das aus. Sanft wippt es, als Katie mit dem Finger daran tippt. Ihr Blick gleitet an dem Panzer entlang. Schokofarben glänzt er in dem Sonnenstrahl, der sich entlangstiehlt an der Sofalehne. Eine Monsterkaffeebohne, Katie kichert leise. Bestimmt kann die krabbeln. Allez, allez! Hopp, hopp! Los, hau ab! Doch. Kein Muchs. Stellt sie sich tot?

Das Wohnzimmer wackelt ein wenig, als sie sich hochstemmt. Da ist etwas, das in ihrem Kopf kreist, vielleicht ein Hula Hoop Reifen. Weit schlägt sie ihre Augen auf, starrt auf die verkratzte Front des alten Büfetts. In die Katinka ihre Krallen schlug, als die Hausmaus sich hinter dem Kühlschrank verirrte und die Rippen gewölbt unter räudigem Fell elendig verstarb. Ihr Blick wandert den Schrank hinauf. Oben links hängt die Tür an nur noch einem Scharnier. Und die gesplitterte Kante des Buchenfurniers verdeckt die einzige Pflanze im Zimmer. Der Rosenstängel – der aus dem Senfglas ragt – benötigt nie einen Tropfen Wasser. Und auch die Blüte – blutrot gefächert – verwelkt nicht im Sommer, erfriert nicht im Winter, weil sie aus Plastik gewachsen ist. Die Fäuste fest auf das Sofa gepresst, schaut Katie auf die Mulden im Federkernpolster. Wie die Förmchen von Lena, in denen sie Kuchen bäckt, denkt sie. Draußen im Sandkasten neben der Schaukel. In den der Dackel von gegenüber den Hintern hängt. „Drück, Waldi“, flötet Frau Mutzke, wenn sie ihn von der Leine lässt, „feste. Fein. Nochmal. Gleich gibt es Chappi.“ 

Eine Sau, wie sie im Buche steht, schimpft Mama immer.

Doch Katies Arme scheinen heute aus Gummi zu bestehen. Schon knicken sie ein, und die Schultern versinken in zwei vergilbte Sofablüten. 

Der Panzer wippt noch immer im Staub. Und hinter geschlossenen Augen tauchen die Käfer auf. Mit langen Fühlern hinter den Ohren. Angewinkelt die Beinchen, eng an Tomaten und Zwiebeln gepresst. Insekten-Schaschlik haben sie das im Fernsehen genannt. Beide Knie fest umschlungen, klebte Katies Blick am Bildschirm fest. Längst hätte sie schon im Bett liegen sollen. 

„Achtung!“, Frau Callas´ Stimme hatte getrommelt. Voll lässig übertönte sie die Pausenklingel. „Wir schreiben morgen das Diktat. Also, Spongebob muss heute früher in die Falle. Ich will, dass ihr ausgeschlafen kommt.“ 

Im Klassenraum dampfte ein Stöhnen auf. Die Callas gab mal wieder den General.

Und noch einmal ein Gewimmel aus schleimigen Leibern. Goldgelb frittiert unter kaffeefarbenen Panzern. Eiweiß-Pommes haben sie die im Fernsehen genannt. Während Mama schnorchelnd neben ihr lag, den Hals leicht geknickt auf der Sofakante. Das Ohr abgelegt auf dem linken Arm, schob sie ihr ein Kissen unter den Kopf. Sammelte all diese Täfelchen ein, wild verstreut zwischen Kippen und Rotzfahnen, – Blister, Katie, B-l-i-s-t-e-r, sagt Mama -, die viel schöner als die Alufolie in der Küchenschublade glitzern. Sie stürmte los, holte die Schere aus dem Bad. Die mit den scharfen, spitzen Blättern. Mit denen Katie sich nicht alleine die Nägel kürzen darf. Und die Zunge fest zwischen die Zähne geklemmt, schnitt sie die Bläschen aus, hinter denen man die Pillen sehen kann. Rote. Blaue. Weiße. Ganz viele von denen nimmt Mama ein. Eine rote, wenn sie schluchzt und weint. Und morgens schmeißt sie sich die blauen ein, wenn ihre Lider dick und verquollen sich nicht bewegen wollen. Katie muss dann den Kaffee kochen. Dick und schwarz muss der sein.

„Ab in die Schule“, nach dem ersten Schluck leiert Mama leise, als seien auch noch die Worte nicht erwacht. Doch manchmal bleibt selbst der Kaffee zu lahm. Dann nimmt Katie Mama kurz in den Arm, breitet die warme Decke aus. Singt `La le lu´, – hoffentlich hört das nur der Mann im Mond, denkt sie -, obwohl sie doch so schön singen kann. 

„Wie eine kleine Nachtigall“, sagt Frau Callas. Frau Callas, Katies Lehrerin. Die weiß alles. Wenn sie flache Brüste streifend die Decke unter Mamas Schultern stopft, bohren sich Spitzen in Katies Bauch. Die ragen aus Mamas Hose heraus, direkt über den Taschen, in denen sie ihre Tempos versteckt.

„Dünn bin ich geworden. Wie ein Gespenst. Pass auf mich auf, damit ich nicht durch die Türritze verschwinde“, flüstert sie immer. 

Halt deine Fresse, will Katie dann schreien,

doch unter der Decke wieder das Beben. Als bedrohe ein Stromschlag Mamas ewiges Leben. Sie schlägt die Hände fest auf die Ohren. Das Zähne aufschlagen kann sie echt nicht mehr hören. Katie rast zum Büfett, reißt am Scharnier, drückt aus dem Blister die Pille heraus. Und mit einer weißen in der Faust stopft sie Mama dann das Maul. Manchmal – an diesen Klagetagen – wenn schwarze Tinte den Himmel verstopft und die Lerche im Baum den Schnabel hält – MACH ENDLICH DEINE VERDAMMTEN AUGEN AUF -, pikst dieser spitze Keil im Magen. Katie huscht in ihr Zimmer, knallt die Tür. Summt La Le Lu, malt Linien mit dem Bleistift auf den Blister dazu. Bis aus ihnen ein Stern entsteht. Schnipp-Schnapp. Silberne Splitter trudeln auf den grauen Teppich herab. Und die Nase platt auf die Scheibe gedrückt kneift sie ein Auge zu. Mit dem anderen starrt sie durch das Pillenloch.  Dorthin, wo die Wolken wohnen. Hinter der dicken mit dem Elefantenrüssel steht der Kleine Prinz. (WANN WINKT ER MIR ENDLICH ZU?) Sein Planet ist rund. Nicht viel größer als der Pezziball, den Frau Callas manchmal aus der Turnhalle holt, auf dem sie Katie in der Pause hin – und her rollt.

„Du bist so verspannt“, sagt sie dann immer, „aber, keine Sorge. Das kriegen wir wieder hin.“

In der Deutschstunde hatte die Callas davon erzählt. Wie er ganz alleine lebt. Mit der Rose und dem bösen Affenbrotbaum. Und als das Schlangengift in seine Adern kroch, sprangen Tränen in das Blusenknopfloch. Frau Callas hat sie in den Arm genommen. Sie gewiegt wie ein dummes Baby.

In ihrem Bauch. 

Ein seltsames Grummeln. 

Ein stechender Schmerz beißt hinter dem Nabel, als seien der Leere Zähne gewachsen. Mit spitzen Fingern sanft wie Federflaum greift sie nach dem wippenden Panzer. Der schmeckt nach Erdnuss, haben sie im Fernsehen gesagt. Doch schon ertönt ein ekliges Knacken, als die kleinen Beinchen brechen. Windstärke 10 in Katies Magen, während die fette Monsterwelle herauf bis in die Kehle schwappt. 

Die Beine vor dem Sofa aufgestellt, spielt nun das ganze Zimmer Karussell. Fuß vor Fuß im Zwergenschritt ratscht ihr Arm über die Buchenfurnierecke. Leise schreit Katie auf – warum krächzt sie nur so -, und schleppt sich zur Spüle in die Küche. Holt sich das letzte Glas aus dem Schrank. Auf dem Weg zurück lässt sie es beinahe fallen. Ein dicker Schluck stürzt durch die Kehle und mit einem Röcheln in der Brust hustet sie in das Sofakissen. An den Lippen kann Katie sie spüren. Die Krümel zwischen den Baumwollfuseln. Und den Finger versenkt in der Sofaritze, puhlt sie nach verlorenen Brötchenbröseln. Wiegt das Häufchen in ihrer Hand – das ein bisschen nach Leberwurst stinkt -, und lässt es behutsam ins Wasser gleiten. Dass bloß nichts danebenfällt. 

Lebensmittel darf man nicht wegschmeißen.

In Sachkunde hatte die Callas von der Frau erzählt, die tief gebeugt über den Mülleimer Äpfel und Käse raubte. Containern nennt man das. Es wird nicht bestraft, aber einen Apfel mit braunem Fleck muss man nicht wegschmeißen. Katie schaut sich suchend um. Mist, sie hat in der Küche den Löffel vergessen. Die Lippen flattern, sie stöhnt laut auf. Sie schafft es nicht nochmal aufzustehen. Ein feines Gluckern in ihrem Bauch, als sie die Bröckchen mit dem Finger einrührt. Ein bitterer Schwall umspült die Zunge. Igitt – schmeckt das eklig. Ihr Blick wandert an dem Tisch entlang. Hinter dem Holzbein. Getigertes Fell. Starr und steif liegt Katinka da. Den Holzbankrücken langgezogen. Schenkel und Waden durchgedrückt bis zu den buschigen Katzensohlen. 

Wahrscheinlich Morgengymnastik, Katie überlegt, schon als Kind soll man damit anfangen, sagt Frau Callas. 

Von der Brust zum Bauch hinab kreisen Katies Finger. Noch immer sticht es hinter dem Nabel. Als breite sich dort ein Vogelnest aus, bewachsen mit dicken Dornen. 

Katies Zähne nagen am Daumen, als sie plötzlich Geschepper hört. Frau Stumpf scheint gerade den Tisch zu decken. 

Die Wände hier – dünn wie Papier, schimpft Mama immer, da hat man keine Privatsphäre mehr.  

Ihr Knöchel schabt über Raufaserknötchen. Nun. Feste klopfen. Erst letztens hat Frau Stumpf ihr ein Eis spendiert. Katies Hand rutscht an der Tapete herab. Ganz bald wird Mama kommen, sie weiß es genau. Stockend hält sie den Atem an. Jetzt, Tapp-Tapp, glaubt sie Schritte zu hören.

Mühsam rollt Katie den Kopf zur Seite, als sie die heisere Stimme hört.

„Das ist doch verboten, nein, ich denke nicht mal daran.“ Dieser rasselnde Husten. Dieses komische Pfeifen. Rotzt Hausmeister Pauly wieder auf unseren Schuhabstreifer?

Ewig qualmt der. Voll auf Lunge. Schlimm diese Sucht, mault Mama immer.

„Dann geben Sie halt mir den Schlüssel“, trommelt die helle Stimme, „jetzt, sofort! Frau Neu vom Jugendamt wird auch gleich hier sein.“

Ein weißes Gespinst spannt sich um ihre Haut. Katie streckt die trockene Zunge heraus. Ach, wie schade, der Zucker ist aus. Noch hört sie das scharfe Klicken im Schloss, bevor der Nebel die Ohren verstopft. Die Nasenlöcher lässt er frei. Pfefferminzatem dringt durch die dichte Schicht, setzt sich in den Riechhärchen fest. Katie stemmt die Lider hoch, schwer wie Bauklötze in der Spielkiste, schaut in Augen, veilchenfarben. Spürt wie zwei Hände, weich und warm, sich unter Schultern und Schenkel schieben. Eine Lufthängematte, denkt sie – und lässt sich fallen – heute bleibe ich einfach mal liegen.

„Sch, sch“, Frau Callas wispert, „kein Gramm mehr als eine Feder. Aber keine Sorge. Das kriegen wir wieder hin.“

Katie hebt den Daumen an auf dem Weg zum Flur. „Frau Callas, wir haben Katinka vergessen.“ Und während sie sich drehen, Lehrkörper, Hängemattenarme, tauchen vier Tatzen aus der Nebelwand auf. 

„Sch, sch. Da hilft nur noch warme Milch.“ 

Und Frau Callas Stimme verstummt. Mit geöffnetem Mund.

 

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