Von Franck Sezelli

»Noch einen Kaffee?«, fragte Barbara die Gäste. Sie und Herbert waren schon lange Kollegen bei der Kriminalpolizei. Die beiden trafen sich gern einmal, zusammen mit ihren Ehepartnern, um bei einem guten Essen den Arbeitsstress zu vergessen. Diesmal hatten die Unmuths eingeladen. Barbara hatte wie immer hervorragend gekocht. Das Bœuf Bourguignon hatte allen prima gemundet. Gerhard hatte die Vorspeise und das Dessert zubereitet.

Bei einer Flasche Wein nach dem Kaffee unterhielten sich die vier Freunde angeregt miteinander. Gegen alle Gewohnheit kam dann doch das Gespräch auf die Arbeit.

»Sag mal, Barbara, kommt dir der Alte in letzter Zeit etwas distanzierter vor als sonst?«, fragte Herbert. Die beiden Kriminalbeamten nannten ihren Dezernatsleiter immer so, wenn sie unter sich waren.

»Wenn du meinst, früher schien er mir freundschaftlicher, jetzt mehr nur so kollegial-sachlich.«

»Ich glaube, es ist der unaufgeklärte Mordfall von vor zwei Jahren. Der passt so gar nicht in unsere Aufklärungsquote, unsere Oberen machen wohl ordentlich Druck.«

»Ach, hört doch auf mit euren Problemen auf Arbeit, wir sitzen hier so gemütlich beisammen«, meldete sich die sonst eher ruhige Annemarie, die Frau von Kriminalhauptkommissar Herbert Feicht.«

Die Eheparner der Polizisten kannten den Fall natürlich, auch wenn sie nicht in die Details eingeweiht werden durften. Gerhard erinnerte sich gut an die blonde junge Frau. In seinen Gedanken erschien ihm ihr hübsches Gesicht mit den auffallend geschminkten Lippen und den großen blauen Augen. Das Bild von Carmen Preiwutt hing lange überall, auch im Finanzamt.

»Gibt es denn noch Hoffnung, den Fall nach so langer Zeit aufzuklären?«, fragte er.

»Mordfälle ruhen nie, man wird sehen.« Damit schloss Herbert den kurzen Disput ab, und die Runde wendete sich wieder erfreulicheren Themen zu.

 

»Was hast du?«, fragte Gerhard seine Frau, als sie wieder gestresst vom Dienst kam und auf seinen Bericht von der Tagesarbeit völlig unkonzentriert reagierte. Gerhard war Abteilungsleiter im Finanzamt, schon ihm selbst kam die Arbeit häufig langweilig vor. So war es kein Wunder, dass Barbara oft nur mit einem Ohr zuhörte, wenn er etwas erzählte. Diesmal hatte sie aber höchstens ein halbes Ohr für Gerhard übrig, der das natürlich merkte.

»Du erinnerst dich doch an den Fall Carmen Preiwutt vor drei Jahren?«

Gerhard horchte auf. »Ja, warum?«

»Vor ein paar Tagen wurde die Leiche einer jungen Frau gefunden. Wieder eine blonde, 23 Jahre alt, Kerstin Rohrbach. Wir wissen, dass auch sie mit dem Abendzug aus der Stadt gekommen war. Zuletzt wurde sie auf der Straße, die vom Bahnhof nach Kunzdorf führt, gesehen. Im nahen Wald in einem Gebüsch ganz in der Nähe des damaligen Fundorts haben Spaziergänger die Tote entdeckt.«

»Und warum bedrückt dich das so besonders? Du bist doch in der Mordkommission, da ist doch ein Leichenfund nichts Ungewöhnliches.«

»Aber zwei solche ähnlichen Fälle inerhalb kurzer Zeit kommen in unserer Gegend nun nicht so oft vor. Jedenfalls hat der Alte eine SoKo „Abendzug“ gegründet und Herbert als Leiter eingesetzt.«

»Deswegen bist du sauer?«

»Nein, nein, ich arbeite sehr gern mit ihm zusammen. Es ist nur, wir haben keinerlei Anhaltspunkte, wo wir ansetzen können.«

»Das wird schon mit der Zeit.« Gerhard versuchte, seine Frau zu trösten. Bei sich dachte er, dass es nicht sonderlich klug war, ein Mordopfer an der gleichen Stelle wie das vorige zu verstecken. »Komm, wir machen eine Flasche von unserem geliebten Corbières aus dem Urlaub auf.«

 

Barbara kam fröhlich und ein bisschen beschwipst nach Hause. Sie hatte mit den Kollegen auf ihre Beförderung angestoßen. Gerhard kam ihr im Flur entgegen und nahm sie in den Arm. »Habt ihr die neue Kriminalrätin zünftig begossen?«

»Klar, die Kollegen haben mir gratuliert. Sogar Herbert meinte es wohl ehrlich, auch wenn er gern selbst aufgestiegen wäre. Jedenfalls habe ich ein paar Flaschen Rotkäppchen springen lassen. Der Alte hat mich trotz der ausgelassenen Stimmung ermahnt. Er erwarte nun, nachdem mir die Leitung der Mordkommission übertragen wurde, endlich Ergebnisse im Fall „Abendzug“.«

»Ich denke, Herbert leitet die SoKo.«

»Das ist richtig, aber nun als seine direkte Vorgesetzte trage ich die Verantwortung.«

»Ich gratuliere dir auch ganz herzlich! Wollen wir ins Bett gehen? Ich kann uns ja noch die Flasche Crémant d’Alsace holen, die ich extra in den Kühlschrank gestellt habe.«

Später lag er über Barbara, die Hände drückte er über ihrem Kopf ins Kissen und starrte in weit geöffnete Augen. Was ist nur mit mir?, schoss ihm durch den Kopf. Manchmal habe ich das Gefühl, ich verliere die Kontrolle.

 

Barbara wirkte gereizt. In letzter Zeit konnte sie sich nicht mehr richtig entspannen. Gerhard war des Öfteren nicht zu Hause, wenn sie mal eher das Präsidium verlassen konnte. Auch dort herrschte Anspannung, lagen die Nerven blank. Vor einer reichlichen Woche war wieder eine blonde junge Frau verschwunden. Von Martina Drobner wusste man, dass sie mit dem Abendzug aus der Stadt kommen wollte, ihrem Freund hatte sie aus dem Zug noch eine SMS geschickt. Zeugen hatten sie noch im Bahnhof Kunzdorf aussteigen sehen. Sie war ja auch eine auffallende Erscheinung in ihrem engen Minirock und den hohen Stiefeln. Im Dorf war sie nie angekommen. Eine Leiche hatte man aber auch nicht gefunden. Vor allem das Waldstück an der Straße vom Bahnhof zum Dorf hatten Suchtrupps gründlich duchkämmt. Barbara hatte dem Drängen Herberts nachgegeben und den Vermisstenfall der SoKo „Abendzug“ zugeordnet.

Gerhard spürte die schlechte Stimmung zu Hause und ging seiner Frau aus dem Weg, igelte sich ein und grübelte. Ich kann doch nichts dafür. Das ist doch wie höhere Gewalt. Ich muss sehen, dass es Barbara wieder besser geht, muss mich mehr um sie kümmern. Sonst geht sie mir noch vor die Hunde. Ich bin doch kein schlechter Mensch. In der Nacht kam er Barbara fast wie ein kleiner Junge vor, er klammerte sich förmlich an sie.

»Was hast du, Gerhard?«, fragte sie besorgt.

»Nichts! Ich fühlte mich plötzlich nur irgendwie einsam. Aber ich habe ja dich …«

»Ja, du hast mich – und ich habe dich. Lass uns schlafen.«

 

In den letzten Wochen kam Gerhard seiner Frau immer mehr verändert vor. Er wirkte abwesend, als ob ihn etwas bedrückt oder stark beschäftigt. Probleme bei seiner Arbeit im Finanzamt gäbe es keine, beteuerte er. Nach dem Dienst kam er oft nicht gleich nach Hause. Manchmal verließ er das Haus auch noch einmal, nachdem er seine Tasche abgestellt hatte.

»Ich muss nochmal raus, frische Luft schnappen. Ich halte es hier nicht länger aus.«

»Aber warum denn, ist es wegen mir?«, fragte Barbara einmal, aber das verneinte er strikt.

»Mit dir hat das nichts zu tun. Es kommt von innen her, so eine Unruhe …«

 

Von einem Tag auf den anderen wurde die Aufmerksamkeit von Barbara als Leiterin der Mordkommission wieder einmal voll in Anspruch genommen, denn ein erneuter Vermisstenfall beschäftigte das ganze Dezernat. Die fünfundzwanzigjährige Julia Engeler ordnete sich in allen relevanten Merkmalen in die „Abendzug“-Serie ein. Sie war zuletzt auf der Straße vom Bahnhof Kunzdorf in den Ort gesehen worden, wie sie bei Regen in ein Auto stieg. Für die Zeugin war die Entfernung zu groß, um Genaueres zu erkennen. Nicht einmal zur Farbe des Autos konnte sie etwas sagen.

Allerdings konnte sich Barbara gar nicht richtig auf die Ermittlungen konzentrieren, weil sie sich ernsthaft Sorgen um ihre Ehe machte. Ihr war aufgefallen, dass Gerhard immer öfter allein unterwegs war, spät nach Hause kam.

So kam es, dass sie sich entschloss, ihm hinterherzufahren, als er nach dem gemeinsamen Abendessen ohne plausible Begründung das Haus verließ. Sie wollte endlich wissen, mit welcher Frau er sich wo trifft …

 

Eine Woche nach diesem verhängnisvollen Abend saß sie an ihrem Schreibtisch und grübelte. Warum genau hat sie geschossen? War sie eine Mörderin? Aus Wut über dieses Unfassbare? Jahrelang hat sie gar nichts bemerkt, hätte es für unmöglich gehalten. Und dann dieser Schock! Als sie ihren Mann entdeckte, wie er eine in Folie gewickelte Frauenleiche in diese Höhle hineinzog. Ja, er hatte die Hand ruckartig nach vorn gebracht … Sie hatte reflexartig als Polizistin gehandelt. Dachte sie wirklich, er wäre bewaffnet und wollte auf sie schießen? Eher nicht, er hatte ja schon angefangen, Erklärungen zu stammeln. Sie hatte also nicht professionell reagiert, hätte ihn festnehmen müssen. Aber war sie dazu in der Lage? Bei solch plötzlichen schrecklichen Erkenntnissen über ihren Ehemann! Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sie hat sich wohl bewusst dafür entschieden, ihn dafür einfach abzuknallen. Verdient hat es das Schwein!

Das geplante Treffen mit Herbert und Annemarie hatte sie abgesagt, weil Gerhard verschwunden sei. Im Dezernat munkelte man schon, sie sei verlassen worden. Wenn es das wäre! Es wird herauskommen … Der Mann der Leiterin der Mordkommission ein Serienmörder! Sie selbst muss sich verantworten und wird vielleicht auch wegen Mord verurteilt. Und auch, wenn nur Totschlag oder sogar Notwehr herauskommt, was soll‘s?

Sie hatte in der Höhle auch noch Martina Drobner, eingepackt und halb verwest, gefunden. Später erinnerte sie sich, dass Gerhard manchmal von einer Höhle im verwilderten Forst bei Walderloh erzählt hat, in der er sich mit anderen Jungen in der Kindheit oft versteckt hatte. Schließlich ist er im Nachbarort von Walderloh aufgewachsen. Im Karton mit seinen persönlichen Erinnerungen fand Barbara eine alte Kartenskizze, in der er die Höhle markiert hatte.

Jetzt nahm Barbara dieses Blatt, ging in Herberts Büro und legte es in den Aktenordner „Abendzug“. Sie war Polizistin! Es musste alles aufgeklärt werden …

An ihren Schreibtisch zurückgekehrt, lehnte sie sich in ihren Sessel, entsicherte ihre Waffe und atmete noch einmal tief durch. Den Schuss hörte sie schon nicht mehr.

 

 

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