Von Carmen Diana Gaehr

Das Treppenhaus war menschenleer. Die Luft war abgestanden, es roch, als ob der Atem all derer, die seit Jahrzehnten hier ein und ausgegangen waren, zwischen den Stufen konserviert worden wäre.
Ich streckte instinktiv die Hand nach dem Lichtschalter aus, zögerte dann und meine Hand blieb in der Luft stehen, abwartend. Aber mein Gehirn gab keine klaren Anweisungen. Ich ließ den Arm wieder sinken. Es war besser, kein Licht zu machen. Ich blieb einfach stehen, rechts von mir klebten die Briefkästen an der Wand. Durch das Oberlicht über der Eingangstür fiel ein schwacher Lichtschein der Straßenlaterne vor dem Haus, ich sah die Stufen, die zum Hochparterre führten, fünf Stufen waren es. Dann folgte die alte Holztreppe, die sich wie eine geschmeidige Schlange durch das Treppenhaus wand und ich dachte an den, vom vielen Anfassen blank polierten, Handlauf des Geländers. Als ich die Wohnung besichtigt hatte, war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Eine Maisonettewohnung mit Terrasse, hoch über den Dächern der Stadt. Die Tatsache, dass es keinen Aufzug gab, hatte mich nie gestört. Ich liebte nicht nur diese Wohnung, ich liebte das ganze Haus, mit all den Spuren, die fast hundert Jahre und unzählige Bewohner hinterlassen hatten. Ich liebte mein freies Leben in dieser großen Stadt, meinen gut dotierten Job und ab und zu ein Abenteuer ohne Verpflichtung. Zu viel Nähe war nichts für mich, und wenn ein Mann sich in mich verliebte, beendete ich die Affaire.
Die schwere Tür aus Eichenholz mit den gedrechselten Verzierungen, die alten Bodenfliesen im Eingangsflur, schwarz mit weiß und an vielen Stellen gesprungen, die Holztreppe, deren Stufen in der Mitte abgeschabt waren von den vielen Füßen, die hinauf und hinab gegangen waren. Ich liebte den Sommer in der Stadt, wenn die Luft heiß und staubig war und ich vor der Hitze in meiner Wohnung in den Hinterhof flüchtete, auf die Bank unter den alten Birken und das Schattenspiel der Birkenblätter an der Hauswand verfolgte. Das Haus lebte und atmete, ich konnte das immer spüren, es hatte eine Seele. Jetzt aber schien es, als ob es die Luft angehalten hätte, es war so still, dass ich wie gelähmt war. Panik breitete sich in mir aus, stieg vom Bauch hinauf zum Herzen, das immer schneller schlug, schnürte mir die Luft ab und kam schließlich in meinem Kopf an.
„Du wirst jetzt die Treppe hochgehen,“ befahl mir mein Gehirn.
„Schritt für Schritt. Stufe für Stufe.“
Ich zwang mich, die ersten fünf Stufen hoch zu gehen, es würden noch weitere achtzig folgen, bis ich meine Wohnung im Dachgeschoß erreicht hätte. Ich spürte, wie das Haus mich beobachtete und hatte das Gefühl, dass es mich nicht mehr hier haben wollte. Ich kämpfte mich Stufe um Stufe nach oben, wie gegen eine unsichtbare Wand. Dann stand ich im Hochparterre und hielt inne, lauschte angestrengt ob es irgendein Geräusch gab in den Wohnungen rechts und links von mir, irgendein Zeichen, dass noch jemand wach war. Es blieb still. Langsam schlich ich auf Zehenspitzen zur Treppe, zog mich am Geländer Stufe um Stufe nach oben. Am ersten Treppenabsatz setzte ich mich auf den breiten Sims des Fensters, das zum Hinterhof zeigte. Die Birken waren kahl, der Boden mit abgestorbenen Blättern bedeckt. Das Mondlicht war schwach, der Hinterhof schien wie die Kulisse aus einem alten Schwarzweiß-Film. Ich sah einen hellen Fleck auf der Bank unter den Bäumen und wusste, das war Vilja, die schneeweiße Katze von Frau Olschewsky, Hochparterre links.
„Bring es hinter dich“, befahl mir mein Gehirn. „Geh weiter!“
Ich stellte mir vor, ich wäre ein Wesen ohne eigenen Willen, das den Befehlen eines unbekannten Generals, der in meinem Kopf wohnte, folgte.
„Steh auf!“ befahl der General.
Und ich gehorchte, schleppte mich weiter die Treppe hoch, lauschte auf jedem Treppenabsatz in das leere Treppenhaus hinein, suchte den Atem der Wände und das vertraute Gefühl des Ortes, an den ich gehörte. Auf jedem Stockwerk horchte ich vorsichtig an den Türen der Wohnungen, doch überall schienen die Bewohner zu schlafen. Es erstaunte mich, dass es offenbar eine Zeitspanne gab, in der alle im Haus schliefen. Niemand war wach, der das Knarren der alten Holztreppe hörte, meinen flachen Atem, meine vorsichtigen Schritte auf den Stufen.
Mit der Zeit hatte ich alle Bewohner des Hauses kennengelernt und ordnete sie in Gedanken paarweise an, so wie das Haus sie zusammengewürfelt hatte. Im Hochparterre wohnten Frau Olschewsky und die dicke Frau Müller. Die beiden Frauen stellten den perfekten Gegensatz dar.
Frau Olschewsky, klein und drahtig, mit silbergrauem Kurzhaarschnitt in der Wohnung links und gegenüber Frau Müller, die ihre Leibesfülle gerne in großgeblümte Kleider zwängte und ihre Haare feuerrot färbte. Dennoch waren die beiden ein Herz und eine Seele und Frau Stieglitz, die über Frau Olschewsky wohnte, hatte mir hinter vorgehaltener Hand erzählt, die beiden würden sich seit Kindertagen kennen und hätten beschlossen, zusammen alt zu werden. Frau Stieglitz war eine aufgetakelte Blondine, immer eine Spur zu stark geschminkt, die Haare etwas zu blond und die Hosen etwas zu eng. Gegenüber von Frau Stieglitz wohnte ein Ehepaar Mitte fünfzig, Ines und Harald, beide waren Lehrer. Sie waren begeisterte Läufer, vor ihrer Wohnung standen immer mindestens vier Paar mehr oder weniger schmutzige Laufschuhe und an der Wohnungstür hing ein Plakat des New York Marathon. Im zweiten Stock wohnte Alice Johnson, eine gebürtige Engländerin, die wegen eines Engagements am Ballett in der Stadt gelandet und hängengeblieben war. Sie war immer ganz in schwarz gekleidet, die rotblonden Haare zu einem strengen Dutt gedreht. Ihr gegenüber wohnte Siggi, ein ausgewiesener Motorradfan. Siggi trug seine ergrauenden Haare schulterlang und man sah ihn fast nur in schwarzen Lederhosen. Siggi war Opernliebhaber. Seine Liebe galt vor allem Pucchini und jeder im Haus kannte seine Lieblingsarie: „Nessun dorma“ aus Turandot. Auch auf dieser Etage war kein Laut zu hören, kein Tapsen nackter Füße, oder das Spülen einer Toilette. Ich schlich weiter nach oben, in den dritten Stock. Horchte an der Tür links, hinter der Sonja und Thomas schliefen. Die beiden waren freundliche Phantome, die keinen Eindruck hinterließen. Waren sie aus dem Sichtfeld verschwunden, hatte man sie bereits vergessen. In der Wohnung rechts lebte Dominik Fischer, er war der jüngste Hausbewohner, ich schätzte ihn auf Mitte dreißig. Auch ihn sah ich selten, er hatte sich zwar allen Nachbarn vorgestellt, als er eingezogen war, aber er hielt keinen weiteren Kontakt zu den anderen Mitbewohnern sondern ging seiner Wege. Auch im dritten Stock war nichts zu hören. Stille.
Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hatte, bis ich in dieser Nacht bei meiner Wohnung angekommen war. Es fühlte sich an, als hätte ich Stunden gebraucht um die Treppe hochzugehen, die Zeit floss zäh wie Sirup dahin. Ich stand in der obersten Etage, die einzige, in der nur eine Wohnung war, ich hatte das ganze Dachgeschoss für mich alleine. Ich zog den Schlüssel aus der Manteltasche und steckte ihn zitternd ins Schloss.
Ich wollte diese Wohnung nicht betreten – und doch hielt sich hartnäckig die aberwitzige Hoffnung in mir, alles wäre wie immer, wenn ich die Tür öffnete.
„Schließ auf“, befahl der General.
Ich gehorchte, drehte langsam den Schlüssel im Schloss. Ich erinnerte mich wie ich in der Küche gestanden hatte um mir einen Tee zu kochen. Der Fernseher lief, ich hörte mit einem Ohr dem Nachrichtensprecher zu. Es war Sonntagabend, ich hatte vorgehabt, den Krimi anzusehen und danach schlafen zu gehen. Dann war da dieses Geräusch gewesen, das nicht hätte da sein dürfen. Ein Schlüssel, der langsam im Schloss gedreht wurde. Ich weiß noch wie ich erstarrte und in Panik nach dem Brotmesser griff. Leise Schritte näherten sich, ich tat so als würde ich das nicht hören. Meine rechte Hand umklammerte das Messer, ich war angespannt vor Panik und doch ganz klar. Niemand außer mir hatte einen Schlüssel zu meiner Wohnung, niemand! In meinem Kopf rasten die Gedanken, in Sekundenbruchteilen spielte ich Horrorszenarien durch. Ich tat immer noch so, als ob ich nichts gehört hätte, hantierte mit dem Teebeutel und hielt das Messer fest. Ich spürte die Gegenwart des Unbekannten fast körperlich, ich spürte ihn näher kommen. Es gab nur eine Möglichkeit, ich musste ihn überraschen. Als ich das Gefühl hatte, dass er fast hinter mir war, drehte ich mich blitzartig um und rammte ihm das Messer bis zum Heft in die Brust, zog es heraus und stach noch einmal zu.
Er sank zusammen, knickte ein und stöhnte. Dann fiel er vor mir auf den Boden. Ich hatte das blutverschmierte Messer immer noch in der Hand und warf es angewidert in die Spüle. Der Mann lag da, die Augen erstaunt geöffnet, auf seiner grauen Fleecejacke breitete sich ein dunkler Fleck aus. Es war offensichtlich dass ich ihn getötet hatte. Das Entsetzen packte mich, ich kannte den Mann. Wie war er an den Schlüssel zu meiner Wohnung gekommen? Mein Körper fing an unkontrolliert zu zittern, kalter Schweiß brach mir aus. Ich wollte nur noch weg, raus aus der Wohnung. Ich stieg über den Toten, riss im Flur meine Jacke vom Bügel, den Schlüssel vom Haken und zog, noch halb im Gehen, meine Sneaker an, verließ die Wohnung und knallte die Tür hinter mir zu. Wie von Furien gehetzt rannte ich die Treppe hinunter und verließ das Haus. ich weiß nicht, wie lange ich ziellos durch die Straßen gelaufen bin bis ich plötzlich wieder vor dem Eingang stand.
Meine Wohnung war hellerleuchtet, der Fernseher lief noch, in meiner Küche auf dem Boden lag die Leiche. Plötzlich war ich wieder völlig klar. Jetzt, da ich der Katastrophe gegenüberstand, funktionierte mein Verstand besser als in den Stunden zuvor, als ich meinen eigenen Hirngespinsten ausgeliefert war.
Es gab nur einen Weg. Ich musste jetzt die Polizei verständigen.
Mechanisch wählte ich den Polizeinotruf.
„Guten Abend. Mein Name ist Miriam Wagner. Ich habe einen Mann erstochen.“

 

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