Von Ursula Riedinger
Der ganze Tag war herrlich gewesen. Langsam wurde es dämmrig. An den meisten Zelten waren Girlanden von kleinen Kantonsflaggen oder Schweizer Fähnchen befestigt. Auch traditionelle Lampions mit Sonnen, Sternen oder Schweizer Kreuz waren zu sehen. Ihre Zeltnachbaren, Herr und Frau Heil aus Wiesbaden, die jedes Jahr am 1. August hier campierten, hatten ihren Wohnwagen mit der hessischen Flagge, aber auch mit vielen kleinen Schweizer und blau-roten Tessiner Fähnchen geschmückt.
Am Morgen hatten sich wie immer frische Brötchen aus dem kleinen Mercato geholt und vor dem Zelt gefrühstückt. Um diese Zeit war die Luft noch angenehm kühl, für den Nachmittag hatte der Radiosprecher hohe Temperaturen von über 30 Grad vorausgesagt. Die Mutter nahm das Kind an der Hand und ging mit ihm zum ausgedehnten flache Sandstrand, wo die Maggia ein Delta geschaffen hatte. Der Vater wollte dann nachkommen. Sie wusste, dass ihr Mann zuerst in aller Ruhe vor dem Zelt sitzen und eine Zigarre rauche wollte. Das machte nichts, sie setzte sich mit dem kleinen Mädchen auf den Sand und baute mit ihm eine Sandburg. Rundum standen vollendete und unfertige Burgen, die schon bald von stetigen Wellen wieder weggetragen werden würden. Als der Vater kam, badeten sie alle drei in der flachen Bucht, das Kind zwischen sich an den Händen haltend. Es jauchzte und lachte. Jetzt war das Kind zwar wieder sauber, aber dafür bis zu den blonden Locken durchnässt.
Nachdem die Mutter dem Kind trockene kurze Hosen und ein Matrosenhemd übergestreift hatten und sich selbst umgezogen hatten, machten sie sich ins nahe Städtchen auf, um in ihrem Lieblingsgrotto Mittag zu essen. Der Kinderwagen musste mit, denn die Kleine wollte auf dem Hinweg immer laufen, auf dem Rückweg würde sie wie immer müde in den Wagen setzen, wo ihr die Augen zufielen. Sie tranken ein kühles Bier und bestellten bei Giorgio das lokale Menü, Polenta mit Fleischvogel. Wenn das Mädchen gegessen hatte, streifte es mit anderen Kindern im Garten herum, versuchte die halbwilden Katzen zu streicheln oder setzte sich auf die Schaukel.
Sie blieben so lange im Schatten sitzen, bis das Grotto schloss, und machten sich dann auf den Rückweg zu ihrem Zelt. Sie dösten vor sich hin, das schlafende Kind neben sich, bis es kühler wurde. Der Mann befestigte auch an ihrem Zelt Fähnchen und Lampions, während die Frau sich zum Waschhaus aufmachte, um das Gemüse für die Suppe zu waschen. Das Kind war wieder hellwach und half, die Zutaten ins kochende Wasser zu werfen. Während sie assen winkten sie Heils zum Gruss zu. Es war ein schöner Tag gewesen.
Der Vater zündete die Lampions an und das Kind staunte. Ringsherum überall diese Lichtlein! Die Mutter hatte noch ein paar belegte Brötchen mit Ei und mit Schinken gemacht, die sie gemütlich zu einem Bier verzehrten. Kurz gingen sie rüber, um mit Heils anzustossen.
«Schönen 1. August!»
«Danke, Ihnen auch.»
«Wann geht’s dann wieder nach Hause?»
Übermorgen schon, mein Mann muss wieder zur Arbeit.»
Um 20 Uhr gingen sie zu dritt zum See, um einen Blick auf das Feuerwerk in der nächsten Bucht zu erhaschen, aber es war doch sehr weit weg. Das Kind schlief fast im Stehen ein und sie betteten es auf seine Matratze im Zelt.
Die Frau ging auf einen Schwatz beim Zelt auf der anderen Seite vorbei, wo Burris aus Bern feierten, die mit ihren vier Kindern hier waren. Sie mochte Frau Burri sehr gut und tauschte sich mit ihr gern über die Kleine aus, da Burris ein Mädchen im gleichen Alter hatten.
Der Mann ging zur Toilette, traf dort Vittorio, einen Italiener, den sie schon länger kannten, der aber wenig Deutsch konnte. Trotzdem konnten sich die beiden Männer mit Bruchstücken aus Deutsch und Italienisch immer bestens verständigen.
«Che bella festa!»
Vittorio zeigte auf die Fahnen und Lampions. Der Mann nickte.
«Du und ich fischen? Pesce. Morgen, domani?
Gelegentlich waren sie zusammen fischen gegangen. Beim Wort pesce strahlten Vittorios Augen.
«Si, domani, buona notte.»
Frau Heil hatte sich zum Schlafen in den Wohnwagen zurückgezogen, auch wenn ringsherum noch gefeiert und geschwatzt wurde. Herr Heil sass vor dem Wagen und liess den Tag ausklingen. Im engen Wohnwagen war es besser seiner Frau nicht im Weg zu stehen, auch wenn sie es gut miteinander hatten.
Der eine Lampion beim Zelt gegenüber war schon ausgegangen, der andere würde gleich folgen. Die beiden Schweizer gegenüber waren noch nicht zurück bei ihrem Zelt, also besser ein Auge darauf haben. Dann nickte Herr Heil kurz ein. Als er wieder aufschreckte, weil ihm seine Frau etwas zurief, roch er etwas.
Der Lampion war nicht ausgegangen, die kleine Flamme der Kerze hatte ein Loch ins Papier des Lampions gefressen. Das Feuer erfasste die ganze Laterne, brannte nun lichterloh und züngelte nach oben, der Schnur entlang, die ihn gehalten hatte. Blitzschnell hatte das Feuer das Zelt erfasst und breitete sich aus. Flammen schossen aus dem First.
Die Leute ringsum wurden aufmerksam, einige schrien auf, andere kamen bereits mit Decken gerannt.
Die Mutter hatte sich umgewandt. Als sie die Flammen sah, rannte sie los. Noch bevor sie ihr Zelt erreicht hatte, schrie Frau Heil: «Das Kind!»
Und dann ging alles ganz schnell. Herr Heil sprang auf, rannte rüber, nur wenige Meter, stürzte sich ins Zeltinnere, wo er mit zittrigen Fingern den Reissverschluss des Innenzelts öffnen musste, und zog das immer noch schlafende Mädchen an den Füssen aus dem Zelt, bevor die Flammen das Innenzelt erreicht hatten.
Die schockierten Eltern waren jetzt beide da und Herr Heil legte das Kind in die Arme seines Vaters, während ein Teil des Zelts zusammenbrach unter dem Ansturm der Löschdecken. Die Mutter schluchzte.
Das Kind öffnete seine Augen, erschrak ein wenig ob all den Leuten ringsum, die es anstarrten. Dann war es wach und blickte zum Sternenhimmel hinauf: «Ah, schöne Laternen!»
Heils, von da an Gerda und Manfred, halfen am nächsten Tag beim Flicken des Zelts.
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