Von Raina Bodyk

Wäre es ein Märchen, finge es an mit: ‚Es war einmal‘. Jedoch, mag es Sie auch noch so verwundern, es ist eine wahre Geschichte über den lautersten Mann, den Sie je kennenlernen werden, tiefgründig wie der unendliche Ozean. Körperlich nicht sehr groß, eher unscheinbares Äußeres, mit schütteren Haaren, die Stirn in teils tiefe Falten gelegt. Eine richtige Denkerstirn. Und das ist er: ein Denker. Stellt über alles, was ihm vor Augen, Ohren, Nase kommt, profunde Überlegungen an. Er studiert jedes Geschehen von allen Seiten, untersucht Position und Gegenposition – differenziert, kritisch, analytisch. Von Zeit zu Zeit macht er zierliche, kryptische Notizen in seiner akribischen Schrift auf Endlospapier, welches sich wellenartig um seinen Schreibtisch schiebt. Selbstverständlich hat er mehrere Zeitungen abonniert, um nichts zu übersehen oder falsch auszulegen. Immer häufiger lassen ihn in letzter Zeit böse Gerüchte über mögliche ‚Fake News‘ nicht zur Ruhe kommen, ja verhindern den benötigten Schlaf.

Sein Vater, ein zu Unrecht verkannter Gelehrter, gab ihm den Namen Thaddäus, was ‚der Beherzte, der Mutige‘ bedeutet. Früher, In der Schule, sorgte das für reichlich Hohn und Gelächter. ‚Herzchen‘ war noch einer der netteren Spottnamen. Aber das lief wie Wasser an ihm ab, erkannte der Knabe doch schon in zartem Alter, wie verschieden er von den anderen Jungen war. Ja, um die Wahrheit zu sagen, wie überlegen er ihnen war.

Außer Klugheit hat Thaddäus einen äußerst ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Gäbe es nicht bereits das Wahlrecht für Frauen, würde er mit aller Kraft und Überzeugung dafür kämpfen. Auch, dass sie studieren dürfen, findet er angemessen. Es befriedigt ihn zudem ungeheuer, dass Frauen endlich die Wechseljahre beim Mann anerkennen, anstatt diesen ständig als Hypochonder oder notorischen Fremdgeher zu verurteilen.
So hat ihm auch nichts mehr Genugtuung bereitet als das Gendersternchen, durch das eine geschlechtergerechte Sprache erreicht wird. Frauen und Männer tauchen endlich gleichwertig in einem Wort auf. Sicher, das ist umständlich – aber gerecht!

Wie er so aufmerksam die Journale liest und seine präzisen, privaten Statistiken zu Auffälligkeiten macht, entdeckt er Ungeheuerliches. Kaum zu fassen, dass das noch niemandem aufgefallen ist! Es ist vollkommen eindeutig! Seine Zahlen beweisen es: Nachmittags und abends geschehen mehr Unfälle als am Morgen, unabhängig von Wochenenden, Ferien oder Berufsverkehr. Dieses Rätsel treibt ihn seither Tag und Nacht um. Wie ist das möglich? Eigentlich ist man nach dem Aufstehen und einer frisch gebrühten, duftenden Tasse Kaffee in Bestform. Alle Sinne stehen auf Konzentration. Tatendurst bahnt sich an.

Endlich kommt ihm an einem Mittwoch die Erleuchtung. Er erinnert sich genau an diesen, ja, man muss es so sagen, historischen Moment: Es war der Tag, an dem er sich in der Früh ausnahmsweise einen besonders langen Spaziergang durch den frühlingserwachenden Park gönnte und er einige Bekannte traf, die ihm ein fröhliches ‚Guten Morgen’ zuriefen.

Natürlich, das ist es!

Unverzüglich stellt Thaddäus einen weitschweifigen, mit unzähligen Beispielen gespickten Antrag bei Gericht, beigefügt zum Verständnis seine Statistiken.

*

Die acht respektheischenden Richter des Bundesverfassungsgerichts schauen in ihren scharlachroten Roben und weißen Jabots fragend von ihren erhöhten Sitzen auf ihn hinunter.

„Sie sind also Herr Thaddäus Haarspalt. Ehrlich gesagt, verstehen wir nicht ganz, warum und womit Sie sich an das oberste Gericht des Landes wenden. Der dicke Aktenordner, den Sie uns übersandt haben, hat uns eher verwirrt als Erkenntnis gebracht.“

„Entschuldigen Sie, Euer Gnaden. Äh, Verzeihung, ich bin ziemlich nervös. Ich meine natürlich, Euer Ehren. Ich war überall, beim Verwaltungsgericht, Sozialgericht, sogar beim Finanz- Straf- und Arbeitsgericht. Niemand wollte meinem Anliegen Gehör schenken. Sie müssen mir einfach zuhören.“

Einer der Gesetzesvertreter wendet sich grinsend an seinen vor sich hin träumenden Nachbarn: „Das kann ich mir denken! Die haben sich bestimmt einen Spaß daraus gemacht, den Möchte-Gern-Weltverbesserer zu uns zu schicken.“

„Wie lautet also Ihre Beschwerde gegen ein bestehendes Gesetz?“

„Nun ja, Herr Richter, es ist eigentlich keine Beschwerde. Es geht auch nicht, nun ja, um ein Gesetz. Es braucht sozusagen eine Änderung der Sitten und Gebräuche.“

„Kein Gesetz? Dann sind wir nicht zuständig!“

„Aber irgendwer muss mir doch zuhören! Es geht um Menschenleben!“

„Sie haben mich gehört! Die Sitzung ist geschlossen.“

Herr Haarspalt, empört über so viel Unverstand, springt von seinem Stuhl, der selten so viel Ungestüm erlebt hat, auf, klammert sich an die Empore, versucht vergebens, sich daran hochzuziehen. Laut gellt er hinauf, wo ihm die Gesetzeshüter bereits ihre roten Rücken zukehren.

„Das geht nicht! Warten Sie! In Artikel 2, Absatz 2 des Grundgesetzes heißt es, ich zitiere: ‚Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.‘ Sie sind verpflichtet, mich anzuhören.“

Leises Stöhnen mischt sich mit dem ächzenden Knarren der altehrwürdigen Stühle, als sich die geplagten Vertreter der Verfassung wieder niederlassen und dem Erzürnten widerwillig Gehör schenken

„Also schön. Ihnen geht es darum, jedenfalls besagen das die eingereichten Unterlagen, das gebräuchliche und ebenso höfliche wie freundliche ‚Guten Morgen‘ abzuschaffen? Daran findet sich weder etwas auszusetzen noch Gesetzwidriges.“

Endlich hört man ihn an! Beflissen kramt der Kläger in seiner verbeulten Aktentasche und zieht dicke Stapel Papier, gefüllt mit erschreckend langen Zahlenreihen, heraus.

“Hier, mit diesen Statistiken, die ich höchstselbst erstellt habe, kann ich beweisen, dass die Häufigkeit von Unfällen im Straßenverkehr, im Haushalt, sowie ärztliche Fehler, Vertragsbrüche, Verbrechen, Amokläufe und so weiter, nachmittags und abends rapide zunehmen.“

„Das mag ja sein, aber das ist sicherlich nicht von diesem Gericht zu ändern und hat kaum etwas mit dem von Ihnen monierten Gruß zu tun.“

„Doch, genau das! Es springt doch geradezu ins Auge!“

„Mir nicht!“, flüstert der Rotgewandete, der vorhin schon gelästert hat.

„Verstehen Sie denn nicht, meine Herren Richter? Mit dieser Höflichkeit machen Sie die Menschen glauben, dass sie zwar einen guten Vormittag haben. Aber was ist mit dem Nachmittag zum Beispiel? Wissen Sie, ich habe alles zu diesem Thema gelesen. Sie haben vielleicht noch nicht von der selbsterfüllenden Prophezeiung gehört?!“

„Jetzt werden Sie unverschämt, Herr Haarspalt. Sie schrammen haarscharf an einer Verwarnung wegen Ungebührlichkeit vorbei.“ Das unterdrückte, leise Kichern im Hintergrund nimmt Thaddäus in seinem überschäumenden Eifer nicht wahr.

„So war das doch nicht gemeint. Wenn Sie meine vollgestopften Bücherregale sähen, wüssten Sie, dass ich mich wahrhaft bemühe, mich in allem, was lesbar ist, schlau zu machen. Ich kenne mich in fast allen Gebieten besser aus als jeder Fachmann! Das kann ich mit Fug und Recht behaupten.“

„Wenn Sie meinen … Aber wieso sind Sie der erste, der da einen Zusammenhang festzustellen meint?“

„Nach meiner These ist die Lösung viel zu naheliegend, als dass man so einfach darauf kommt. Sie werden es nicht glauben, aber selbst ich habe eine Weile gebraucht.“

„Ist das wahr?!“

Thaddäus verhaspelt sich fast in seinem leidenschaftlichen Verlangen nach dem Verständnis der Richter. „Es gibt unzählige Beispiele für das Phänomen. Wenn etwa jemand zu einem Hellseher geht und hört, dass er in dieser Woche einen Unfall haben wird, wird er immer daran denken, unsicherer fahren und schon ist es passiert. Oder nehmen Sie Placebos. Wer daran glaubt, dem helfen sie ebenso gut wie die echten Medikamente. Das Gerücht von einer Bankenpleite lässt ihre Kunden ihr Geld abziehen. Die Bank gerät folglich tatsächlich in eine Krise.“

„Ja, Herr Haarspalt, das ist ja alles bekannt. Sie werden es nicht glauben, sogar uns!“

„Daraus folgt aber doch, wenn Sie den Morgengruß verbieten und nur noch ein ‚Guten Tag‘ zulassen, dass niemand mehr glaubt, nur in der ersten Tageshälfte vor Unheil geschützt zu sein. Sie werden feststellen, es wird weniger Schlimmes passieren!“

„Wir werden uns jetzt zur Beratung zurückziehen. Sie hören von uns. Guten Tag, der Herr!“
Kopfschüttelnd, etwas von ‚psychisch nicht auf der Höhe‘ – ‚Witzbold‘ – ‚Wichtigtuer‘ – ‚außer Kontrolle geratener Prozessierwahn‘ murmelnd, zieht sich das erlauchte Gremium zurück.

Der Kläger, berauscht von seinem, wie ihm scheint, beeindruckenden Auftritt, eilt nach Hause und sehnt ungeduldig das positive Urteil des Gerichts herbei.

Wäre diese Geschichte tatsächlich ein Märchen, stände jetzt hier der berühmte Schlusssatz: ‚Und wenn er nicht gestorben ist, wartet er noch heut‘.

*

Aber da es keines ist, studiert Herr Haarspalt, angestachelt von seiner unbestechlichen Gewissenhaftigkeit, weiter aufmerksam seine Zeitungen und Bücher, erstellt neue, entlarvende Listen, entdeckt wiederum Skandalöses.

Hatte ihm einst das Genderzeichen viel Genugtuung bereitet, fällt ihm nun dessen Ungenügen auf. Wenn man dankenswerterweise eine Geschlechterkennzeichnung in der Sprache einführt, warum dann so ganz und gar halbherzig? Gesetzesmäßigkeit muss her!

Drei Arten Substantive, drei Geschlechter: männlich, weiblich, sächlich. Korrekterweise würde das bedeuten: das Torte, das Tisch, das Sommer, der Männchen, die Mädchen …
Tiere haben auch mindestens zwei Geschlechter.

Was ist mit ‚Menschheit‘? Da sie noch nicht ausgestorben ist, ist sie kaum nur weiblich! Bräuchte man für solche Oberbegriffe gar ein neues Geschlecht?

Sein Herz rast, sein Blick verfinstert sich. Ihm schwindelt. Erst jetzt werden ihm allmählich die unendlichen Dimensionen dieser Angelegenheit klar. Er wird beweisen, dass er seinen Namen nicht umsonst hat! Beherzt und mutig wird er an alles denken, jeden Eventualfall berücksichtigen, damit endlich Ordnung in die Köpfe kommt. Wo Ordnung ist, ist auch das Vernunft, das Ruhe, das Strukturiertheit.

*

An das Bundesverfassungsgericht

Sehr geehrte Damen und Herren Richter,
hiermit möchte ich beantragen, die deutsche Grammatik …

 

Ihr Thaddäus Haarspalt

 

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