Von Bernd Kleber
Es klingelt! Wohnungstür! Ich allein und schon sehr spät. Wer läutet denn unangemeldet um zwei Uhr dreißig? Würde ich nicht noch am Rechner sitzen, hätte ich es vielleicht im Schlaf gar nicht gehört.
Ich erhebe mich. Mein Herz pocht jetzt albern, ist ängstlicher als ich.
Ich gehe gemächlich zur Tür. Nichts überstürzen. Wo ist mein Handy? Nehme es mit auf den Weg. Wieder! Erneutes Klingeln. Nachdrücklicher? Mist.
Ich schleiche die letzten Meter und schiebe den Spion auf. Dunkel. Und ein blasses Gesicht. Schönes Gesicht eines Mannes. Fein gezeichnet, aristokratisch würde man vielleicht sagen. Braucht der Hilfe?
Ich räuspere mich. „Wer ist da?“
„Mach auf. Ich habe dringend zu reden!“
Das war ja nun nicht die Antwort auf meine Frage nach dem „wer“. Ich gehe einen Schritt zurück. Ich knete meine Unterlippe. Lasse es sofort wieder sein, weil das ja nichts hilft. Eine Entscheidung muss her. Ich räuspere mich.
„Haben Sie mal auf die Uhr gesehen. Wer sind Sie bitte. Ich öffne, wenn es einen triftigen Grund gibt.“ Und ich lüge: „Außerdem bin ich nicht angezogen!“.
„Du lügst!“
Na nun laufe ich hektisch bis zur Küchentür und wieder zurück.
„Wenn du nicht öffnest, komme ich so rein. Aber erschrick nicht!“
Will der die Tür eintreten? Ich öffne.
Das Gesicht, in welches ich blicke hat mein Vertrauen und ich schelte mich dafür im Geiste, naiv zu sein.
„Um was geht es?“
„Lass mich rein, ich erkläre dir alles.“
„Wieso sollte ich einen fremden Typen um diese Zeit in meine Wohnung lassen?“
„Du hast keine Wahl.“
Ich denke rasant schnell nach, was mir schwerfällt. Ich zähle Namen auf, von Menschen, zu denen ich ungerecht war, mich gestritten habe. Überlege von wem ich den schönen Bildband über Michelangelo geliehen hatte, der meinen Glastisch dekoriert. Wann hatte ich mich bei meiner Nachbarin über ihre zu laute Countrymusik beschwert?
Der Mann tritt an mir vorbei, geht bis ins Wohnzimmer und nimmt Platz. Ich habe keinen Grund die Arme zur Verteidigung zu heben. Ich schaue hinaus in den Flur, leer. Gehe dann auch ins Zimmer, nachdem ich kopfschüttelnd die Wohnungstür schließe.
Da sitzt er und schaut mich ohne zu blinzeln an, abwartend. Ich bleibe stehen und schaue zurück. Irgendwas ist komisch, ich bin so entspannt. Müsste ich nicht zetern und brüllen, zumindest aber mehr Fragen stellen?
„Kann ich Ihnen etwas anbieten?“, rutscht mir nun heraus. Ich glaube mir selbst kaum.
„Ein stilles Wasser nehme ich gern. Kann aus der Leitung sein.“, kommt bescheiden die Antwort. Er hat sich zurückgelehnt, ein Bein über das andere geschlagen, Sein Kinn in die Hand des aufgestützten Armes gelegt. Er wirkt entspannt und als warte er auf etwas, auf mich, auf meine Reaktion? Ich drehe mich um und gehe in die Küche.
Im Wohnzimmer, nein, in der gesamten Wohnung habe ich keine Schätze oder Wertgegenstände. Abgesehen von einem modernen Flat-TV, auf den ich wegen seines Kinoformates sehr stolz bin. Einige meiner Freunde hatten mich schon veralbert deswegen, er sei zu groß für das kleine Zimmer und ließe tief blicken, was meine Hobbys anbelangt. Ob ich darauf die „Bachelorette!“ sehen würde?
Ich lasse das Leitungswasser ablaufen, bis mein darunter gehaltener Finger Kälte spürt. Dann Wasser ins Glas und wieder zurück in mein Wohnzimmer, welches im Moment irgendwie okkupiert erscheint.
Ich stelle dem Mann das Getränk hin und sehe ihn wieder mit hochgezogenen Augenbrauen an. Als er nicht reagiert und genüsslich am Gefäß genippt hat, zucke ich mehrmals mit den Schultern.
„Na, nun los, wir gehen jetzt. Ich habe genug Zeit verspielt hier.“
„Wie? Wir gehen jetzt? Es ist mitten in der Nacht. Ich gehe nirgendwohin um diese Zeit. Sagen Sie mir bitte wer Sie sind und was sie wollen!“
Ich wurde tatsächlich energischer.
Er hebt die Hand. Ich schweige!
„Na ja, es ist immer das Gleiche. Niemand will gehen, wenn es soweit ist.“
Das klingt jetzt irgendwie merkwürdig, denke ich noch und mir wird flau im Magen. Was meint er? Ich ahne es, bin mir ziemlich sicher. Aber das ist doch wohl ein schlechter Scherz.
„Ich rufe jetzt die Polizei!“, wage ich zu reklamieren. Er lächelt.
„Heiner, du bist dran. Heute ist dein Tag. Ich bin ja nur der Botschafter, der Kurier sozusagen. Es tut mir ja um manch Einen auch leid und du wirkst nett, aufgeschlossen.“
„Mein Tag, ein Tag, was soll das bedeuten, sprechen Sie doch nicht in Rätseln und äußern Sie sich jetzt endlich.“
„Ich bin der, den Ihr „Der Tod“ nennt. Klingt jetzt grauslich, ist aber so und ich betone, ich habe mir das nicht ausgesucht!“
„So ein Quatsch! Also zufällig weiß ich, dass auf der Erde jede Sekunde zirka 1,76 Menschen sterben. Und Sie sitzen hier seelenruhig herum! Hätten ja dann Einiges zu tun.“
„Na ich sage mal so, im Tod zählt die Zeit nicht mehr. Du musst dir das wie eine mehrfache Spektralprojektion vorstellen. Ich bin sozusagen Multitasking-fähig und arbeite parallel bei mehreren Erdenmenschen gleichzeitig. Aber das führt jetzt zu weit, ich bringe dich jetzt rüber. Komm!“
„Wo rüber, Moment!“, insistiere ich und sehe mich hektisch im Zimmer um. Ich schaue aufs Display meines Mobilphones, wie auf einen Rettungsring, bereit zu wählen.
„Ich lebe ja noch! Und Sie reden Quatsch. Verabschieden Sie sich jetzt, sonst rufe ich die Polizei!“ Endlich bin ich wohl wach geworden, denke ich und drehe mich zur Tür. Zur Not kann ich in den Hausflur um Hilfe rufen. Vorausgesetzt jemand von den Nachbarn hört mich überhaupt und reagiert dann auch.
„Bleib hier, wir brauchen keine Türen mehr.“, summt der Mann und seine Augen leuchten. Jetzt bekomme ich aber wirklich Panik. Ich laufe in die Küche und öffne eine Bierflasche. Setze sie an und trinke in gierigen Schlucken. Er steht nun auch in der Küchentür. Ich setze ab und frage, ob er auch eins will. Er schüttelt den Kopf.
Ich trinke noch einen Schluck. Dann bücke ich mich blitzschnell zu den leeren Flaschen und hebe eine hoch, wie eine Keule. Es rinnt die Restneige an meinem Arm entlang, die sehr gärig riecht. Ich schüttle mich, kann aber das Rinnsal jetzt nicht abwischen. Ich schwinge die Flasche, rase auf den Mann zu. Der guckt wie eine Comicfigur, über dessen Zeh ein Panzer rollt und ich schlage die Flasche auf seinen Kopf. Das kracht, das Glas splittert, der Fremde guckt immer noch so und fällt dann nach hinten um wie ein gefällter Baum. Rums! Das klang als würde der Mann wie zehn von seiner Statur wiegen.
Vom Wohnzimmer her, wird es nun hell und dunkel. Ich denke, es brennt darin, obwohl die Lichtverhältnisse zu gleichmäßig wechseln.
Ich steige über den Mann, gehe ins Wohnzimmer und traue meinen Augen nicht. Es wird Tag und Nacht in so rasantem Tempo, dass ich mich an der Sessellehne festhalte. Darum kann ich mich jetzt aber nicht kümmern. Ich gehe zurück, zu dem von mir erschlagenen Mann und besehe seinen Kopf. Nichts zu entdecken. Ich sehe kein Blut, keine Beule. Und beschließe einen Krankenwagen zu rufen.
Ich wähle die 112. Eine Ansage ist zu hören, dass diese Nummer nicht mehr in Betrieb ist. Ich laufe hinaus in den Flur und klingele bei meiner Nachbarin. Niemand öffnet oder rührt sich. Ich klopfe sogar und rufe „Hilfe! Hilfe!“. Nichts. Ich gehe zurück in meine Wohnung. Der Mann schlägt die Augen auf. Das Sonnenlicht im Wohnzimmer verschwindet, wie es um diese Uhrzeit sein sollte. Der Besucher erhebt sich schwungvoll. Dann sagt er mit ruhigem Ton: „Mach das nie wieder, du bringst alles durcheinander. Und nun komm. Wir können uns in der Zwischenwelt nicht zu lange aufhalten.“
„Wieso?“
Der Typ verdreht die Augen. „Das ist hier keine Quizshow!“.
„Aber ich möchte wissen, was der Quatsch soll. Sie machen mir Angst.“
„Komm, wir gehen jetzt!“
„Nein!“
„Du musst. Du kannst doch nicht einfach ablehnen!“
„Ich muss gar nichts. Ich will erst wissen, wieso ich mitgehen soll, wohin, was eine Zwischenwelt ist, wieso Sie keine Beule am Kopf haben, warum es hell und dunkel wurde und wo Sie mit mir hingehen wollen. Und außerdem“, ich gehe dichter auf ihn zu, erhebe den Zeigefinger, „kann ja da jeder kommen, bitte weisen Sie sich aus und zeigen Sie mir ein Zertifikat, dass Sie überhaupt berechtigt sind oder eine Art Haftbefehl oder was man sonst haben muss.“
„Ich muss gar nichts zeigen, du kommst mit, wir gehen jetzt!“
„Nein!“
Er kommt auf mich zu und will meine Hand greifen. Ich ziehe meinen Arm zurück und springe über die Couch auf die andere Seite der Möbel. Dann rufe ich wieder „Nein, nein, nein!“.
„Mach jetzt kein Theater! So etwas habe ich ja noch nie erlebt.“
„Nein!“
Ich laufe wieder in den Korridor, greife nach meinen Schlüsseln und renne aus der Wohnung. Er dicht hinter mir her.
„Nimm meine Hand!“, brüllt er.
„Nein!“
Nach einigen hundert Metern, er hat mich nicht eingeholt, bleibe ich stehen, stütze meine Arme auf meine gebeugten Knie und keuche. Ich habe entsetzliches Seitenstechen. Er kommt nun auch und keucht.
Ich finde Luft zu reden: „Passen Sie auf, wir machen Folgendes. Ich kläre meine Freundschaft, entschuldige mich für meine Unverschämtheit, dann vertrage ich mich mit meinem Bruder, gebe den Bildband an meine Kollegin zurück“, mir war eingefallen, dass der Michelangelo von Bärbel ist, „und kündige die Versicherungen, Strom, Gas, den Telefonanschluss, und die Zeitung. Dann schreibe ich einen kleinen Abschiedsbrief. Ich finde jeder aus meinem Bekanntenkreis hat ein nettes Wort zum Abschied verdient. Ich kaufe eine Grabstelle und kläre mit dem Bestattungsunternehmen die Kosten. Dann gehen wir beide. Ist das okay für Sie?“
„Okay, mach aber schnell!“, sagt der und ich bin plötzlich wieder in meiner Wohnung, huste würgend und eine Erdnuss fliegt im hohen Bogen durch das Zimmer. Ich ziehe tief Luft, als hätte ich tagelang nicht geatmet. Dann sehe ich mich im Zimmer um, lausche, gehe durch alle Räume, alles leer und ruhig.
In der Küche nehme ich das offene Bier, was am Waschbecken steht und setze mich damit in den Sessel. Ich schalte den Fernseher ein und lächele.
V2/9825