Von Ingo Pietsch
Donnerstag, 16 Uhr
Pausenraum eines Supermarktes
Der Personaltrainer Uwe hatte sein Flipchart aufgebaut und einige Unterlagen auf dem Tisch verteilt.
Heute Nachmittag würden noch drei weitere Mitarbeiter/innen, die an der Kasse arbeiteten, im besseren Umgang mit Kunden geschult werden.
Da waren Sieglinde, Kassiererin, Marion, 2. Kraft in der MoPro-Abteilung und Ben, Auszubildender im letzten Lehrjahr.
Nacheinander trafen sie ein und setzten sich an den Tisch.
„Hallo, ich begrüße euch zu unserer Kassenschulung und bin schon ganz gespannt, euch kennenzulernen und mit euch zusammenzuarbeiten.“
Ben nippte an seinem Energy-Drink, Sieglinde blickte auf ihre Art ängstlich drein und Marion war damit beschäftigt, ihre lackierten Fingernägel anzustarren.
„Ihr werdet euch sicherlich fragen, warum ihr geschult werdet, wenn ihr schon so hervorragende Arbeit leistet.“
Ben verschluckte sich.
„Jeder hier im Unternehmen durchläuft diesen Kurs, damit ihr Neues dazulernt und Altes auffrischen könnt.“
Niemand antwortete.
Uwe schrieb mit einem Stift „Dunkles Geheimnis“ auf das Flipchart. Dann ging er zur Fensterbank, setzte sich darauf und drehte den Stift zwischen seinen Fingern.
„So, um das Eis etwas zu brechen, möchte ich, dass jeder von uns ein dunkles Geheimnis von sich preisgibt.“
Sieglinde rutschte auf ihrem Stuhl nervös hin und her und Ben musste leise aufstoßen.
Marion beäugte das Flipchart nachdenklich.
„Möchte jemand von Euch anfangen?“, fragte Uwe und lächelte dabei.
Keiner sagte etwas.
Ben drückte seine Energy-Drink-Dose leicht ein und Marion putzte ihre Nase.
„OK, dann beginne ich mal“, meinte Uwe und blickte die drei Anwesenden energisch an: „Es ist schon ziemlich lange her, da passierte mir etwas, womit ich eigentlich zur Polizei hätte gehen sollen. Und zwar“, er schwang seinen Stift ein wenig wie ein Dirigent, „stand ich mit meinem Auto auf einem vollen Parkplatz, so wie hier und weil es so eng und ziemlich windig war, knallte meine Autotür an die des Autos neben mir. Es gab keinen sichtbaren Lackkratzer und da war auch nur eine klitzekleine Beule. Mit hochrotem Kopf musterte ich meine Umgebung, aber da war niemand, der es bemerkt hatte und da beging ich Fahrerflucht. Bis heute ärgere und schäme ich mich, das nicht gemeldet zu haben.“
Uwe wartete kurz und fragte dann: „Habt ihr schon mal was Ähnliches erlebt?“
„Aha, dann waren Sie das also an meinem Auto?“, erwiderte Marion sarkastisch. „Hier auf dem Parkplatz passiert das ständig.“
Uwe grinste und sagte gedehnt: „Ich denke eher nicht. Ich bin zum ersten Mal hier.“
Es entstand eine peinliche Pause.
„Dann mache ich wohl mal weiter“, sagte Marion, „sonst kommen wir hier erst morgen Früh wieder weg.“
Uwe wollte etwas erwidern, aber da legte Marion schon ohne Unterbrechung und Luftholen los: „Kennt ihr das, wenn euer Mann“, sie schielte zu Ben hinüber, „oder eure Freundin, am Ende des Tages nach Hause kommt, ihr euch den Hintern aufgerissen habt, dass die Wäsche und der Abwasch erledigt sind und ihr noch den Rasen gemäht habt und er oder sie sich einfach aufs Sofa schmeißt und den Fernseher anstellt; euch keines Blickes würdigt, nach dem Essen fragt und das Tag für Tag? Und ihr euch eigentlich nur nach ein wenig Zweisamkeit und Aufmerksamkeit sehnt?“
Ehe jemand etwas antworten konnte, fuhr sie fort: „Irgendwann war ich mal so sauer, da habe ich ihm aus voller Wut ein Gulasch gemacht und zwar aus Hundefutter. Und wisst ihr was? Es hat ihm super geschmeckt! Er meinte sogar, das wäre das beste Gulasch gewesen, das er je gegessen hat! Billiger hätte ich ihm das nicht kochen können. Das habe ich ein paar Mal gemacht, bis er eine leere Dose im Müll gefunden hat. Wir haben über das Essen kein Wort mehr verloren, uns aber gegenseitig ausgesprochen – und es hat funktioniert. Es läuft zwischen uns so gut wie noch nie.“
„Danke an dich, Marion, das war sehr ehrlich von dir.“ Uwe machte sich Notizen in ein kleines Schreibheft. „Wer möchte als nächstes? Sieglinde? Ben?“
Sieglinde nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse und hielt sie mit beiden Händen fest umklammert. Langsam und bedächtig erzählte sie ihre Geschichte: „Vor ein paar Jahren war mein Sohn wieder einmal in der Einfahrt mit seinem Motorrad beschäftigt. Eigentlich sollte er sich darum kümmern, dass er einen anständigen Job oder wenigstens eine Ausbildungsstelle bekommt. Er lag mir schon seit seinem eh nicht so tollen Schulabschluss auf der Tasche und bemühte sich um rein gar nichts. Er ließ sich einfach nur aushalten. Ich machte auch seine Wäsche und, und, und, aber von ihm kam nicht mal ein einfaches Danke zurück.“
Sieglinde standen die Tränen in den Augen: „Als er dann einmal ohne Motorrad unterwegs war, habe ich ein paar Ölflecken unter den Motorblock gespritzt. Er hat fast eine Woche lang die gesamte Maschine auseinander genommen. Bis ich ihm dann davon gebeichtet habe. Ich dachte erst, er würde vor Wut explodieren, aber er meinte, ich hätte ihm damit das Leben gerettet. Bei der Inspektion hat er einen ganz feinen Riss im Tank entdeckt. Er hilft mit jetzt ein bisschen im Haushalt. Mehr kann ich auch nicht erwarten, aber das Verhältnis zwischen uns ist auch besser geworden. Ich habe noch nie jemandem davon erzählt, dass ich so etwas je getan habe.“
Marion starrte Sieglinde verblüfft an und knuffte sie leicht in die Seite: „Das hätte ich echt nicht von dir gedacht.“
„Du scheinst ja sonst kein sooo schlimmer Finger zu sein, Sieglinde. Ich danke auch dir für deine Offenheit.“ Wieder schrieb Uwe etwas auf. „Und was ist mit dir, Ben?“
Ben spielte an den Bändern seines Hoodys und kaute Kaugummi. Er schreckte auf, als er angesprochen wurde, da er anscheinend gehofft hatte, nicht auch an die Reihe zu kommen.
„Ähm“, er kaute weiter und überlegte: „Ich bringe in meiner Freizeit Leute um.“
„Das, äh, ist aber ein sehr dunkles Geheimnis. Ist das ein Hobby?“, hakte Uwe nach.
Sieglinde und Marion blickten Ben mit offenen Mündern an und rückten mit ihren Stühlen ein Stück von ihm weg.
„Wie kann ich mir das vorstellen?“, wollte Uwe wissen.
Ben erklärte kauend: „Ich schreibe in meiner Freizeit Kurzgeschichten. Und da stirbt schon mal der eine oder andere.“
Uwe nickte und die beiden Kolleginnen entspannten sich wieder.
„Gibt es auch Lektüre von dir, die man kennen sollte?“
„Nein, ich schreibe das eher so für mich. Aber es gibt so eine Geschichte, die heißt Mord im Supermarkt.“ Ben kippelte mit seinem Stuhl.
„Und woher bekommst du deine Inspiration?“ Uwe war jetzt neugierig geworden.
„Naja, ich arbeite im Lebensmitteleinzelhandel. Da wird über kurz oder lang wahrscheinlich jeder irre.“
Sieglinde nickte nur, Marion lachte laut auf und Uwe klatschte laut in die Hände: „Herrlich. Ich denke wir werden hier heute eine super Atmosphäre haben. Dann legen wir mal los.“
Er schrieb noch etwas in sein Heft und steckte es sich in seine Brusttasche.
Die Schulung hatte allen Beteiligten Spaß gemacht und die Zeit war wie im Flug vergangen.
Draußen hatte die Dämmerung begonnen und die Parkplatzbeleuchtung sprang an.
Uwe machte sich auf den Weg zu seinem Auto, das in der hintersten und der am spärlichsten beleuchteten Ecke stand.
Uwe hatte seine Aktentasche auf das Autodach gelegt und wühlte in seinen Taschen nach dem Schlüssel.
Es klickte, als Uwe den Knopf gedrückt hatte und das Auto war entriegelt.
Atemwolken umspielten sein Gesicht und er freute sich schon darauf, gleich im warmen Auto zum Hotel zu fahren.
Ehe er einsteigen konnte, spiegelte sich eine weitere Person in den Autoscheiben.
Uwe fuhr herum. Ben stand mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze hinter ihm.
Nebel umwaberte Uwes Gesicht, weil dieser so heftig atmete. „Du hast mich zu Tode erschreckt!“, entfuhr es ihm.
„Sorry, war nicht meine Absicht. Ich wollte Ihnen noch danken.“
„Gerne, aber wofür denn genau?“
Ben zückte unter seinem Hoody ein Messer hervor und rammte es Uwe in den Magen. Der war vor Schreck und Schmerz nicht mehr fähig, um Hilfe zu rufen und sackte langsam in sich zusammen.
Ben fing ihn auf.
Von weitem sah es so aus, als umarmten sich zwei Bekannte.
Ben riss das Messer wieder heraus und hievte den Sterbenden ins Auto.
Dann hauchte er ihm ins Ohr: „Vielen Dank für die Inspiration!“ Ben zog Uwes Notizheft aus der Brusttasche, schlug die Tür zu und verschwand in der Dunkelheit.
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