Von Katrin Thelen

Charlotte hörte es am „Klack“, mit dem sich die Schnallen des Koffers öffneten. Das war nicht ihr Koffer! Erst jetzt betrachtete sie ihn genauer: Er war klein, schwarz und noch fast ohne Kratzer. Wie er so dalag auf ihrem Bett von Zimmer 112 auf dem noch unberührten, weißen Bettlaken, sah er ihrem Koffer wirklich zum Verwechseln ähnlich. Doch nicht länger entging ihrem prüfenden Blick das fehlende Kofferschild, und statt muffigen Kellergeruchs verströmte dieser Koffer eine zarte Note betörenden Duftes, der aus den Ritzen drang wie ein nicht eingelöstes Versprechen.

Bei der Hektik in der Hotellobby vorhin hatte sie dafür keinen Sinn gehabt.

Ihr schoss die Röte ins Gesicht. Oh, nein, bitte nicht! So ein unvorhersehbares Ärgernis wie eine Verwechselung durfte nicht ihre sorgsame Planung zum Einsturz bringen!

Zum ersten Mal in ihrer Karriere war Charlotte aufgefordert worden, den Konzern, für den sie seit nunmehr drei Jahren arbeitete, auf einem nationalen Branchentreffen zu vertreten und einen Kurzvortrag zu ihrem aktuellen Projekt zu halten, eine echte berufliche Chance. Eine Gesundheitskasse war jetzt kein Börsenmagnat, das wusste sie auch. Aber mit einem gelungenen Auftritt hier konnte sie beim Rennen um die beste Position auf den Abteilungsleiterposten ein paar Positionen gut machen. Das durfte nicht in Gefahr geraten durch eine Banalität wie die falschen Schuhe oder fehlendes Deodorant.

Charlotte war keine eitle Frau und man hätte nicht vermutet, wieviel Mühe es sie gekostet hat, für den morgigen Tag auf dem Podium einen Look zusammenzustellen, der in ihren Augen die perfekte Kombination aus Seriosität, Kompetenz und Eleganz bot. Davon fiel ihr die Eleganz deutlich am schwersten, das wusste sie. Aber die Lebenserfahrung sagte ihr auch, dass eine glänzende Erscheinung das entscheidende Quäntchen zum Erfolg beitragen konnte.

Um die sündhaft teure Bluse, die sie sich zu diesem Anlass geleistet hatte, trauerte sie am meisten. Nicht nur, dass sie ihr morgen bei ihrem Auftritt vor den Oberen der nationalen Versicherungsvereinigung fehlen würde für den gewissen Glanz. Sie würde auch lange keinen weiteren Grund finden, sie zu tragen.

Wütend blickte sie auf den fremden Koffer. Wer nur war jetzt in Besitz ihrer Habseligkeiten? Um es herauszufinden, blieb ihr wohl nichts übrig, als in fremder Wäsche zu wühlen, um einen Hinweis auf die Person zu erhalten. Der Geruch sprach eindeutig für eine Dame. Vielleicht eine der wenigen anderen Frauen, die morgen anwesend sein würden? Die Sparte der Verantwortungsträger war noch immer sehr männerdominiert. Vielleicht konnte sie die Eine ja noch rechtzeitig ausfindig machen. Hoffnungsfroh öffnete Charlotte den Kofferdeckel.

Der Anblick, der sich ihr bot, verschlug ihr den Atem. Nein, die Person, der diese Sachen gehörten, interessierte sich nicht für Tabellenkalkulationen oder Outsourcingstrategien.

Wie von selbst griff ihre Hand nach einem obenauf liegenden Stück schimmernder Seide in aufreizendem Violett. Der Stoff war kühl und gleichzeitig geschmeidig und erweckte ihre Sinne. Er entpuppte sich als Negligé, das nicht für eine einsame Nacht designt worden war. Daneben lag ein mit viel Spitze umsäumtes Stück Stoff. Sie nahm es heraus. War es ein Kleid? Sie wusste keine Gelegenheit, diesen Hauch von Nichts je tragen zu können. Als sie nach einem mit Strasssteinen besetzten Teil aus schwarzem Samt griff, fühlte sie, dass es um etwas gewickelt war, das ebenfalls schwarz war. Sie sog einen intensiven Geruch nach Leder in ihre Nase.

Wie ein Kind, das am Weihnachtsmorgen durch das Schlüsselloch späht, zog der Inhalt des fremden Koffers sie in den Bann. Das unbekannte Ding aus Leder entpuppte sich als Peitsche mit  weichen Lederriemen. Noch mehr Teile aus Leder und mit Schnallen, deren Funktion sie nur schamvoll erahnte, boten sich ihr dar. Gebannt berührten ihre Fingerspitzen Seidiges und Metallenes. Mehrere transparente Verpackungen gaben den Blick frei auf das Sortiment verbotenster Spielzeuge der Abteilung 18 plus. Was machte man oder wohl eher frau mit diesen Kugeln an einem Kabel? Und dieser verchromte Haken … würde man wirklich … Charlottes Blick gierte weiter, fasziniert und angewidert zu gleichen Teilen.

Ein schwarzglänzendes Etwas machte sie so neugierig, dass sie es aus dem Koffer nahm. Der Stoff floss durch ihre Finger. Es war ein Onesie, ein Ganzkörperanzug, hauteng. Er war hoch geschlossen und bedeckte jede Körperstelle mit Stoff. Nur, dass der Stoff an den entscheidenden Stellen transparent durchscheinen ließ, was normalerweise verdeckt blieb. Charlotte stellte sich vor den bodenlangen Zimmerspiegel und hielt das ihr fremde Kleidungsstück vor den eigenen Körper. Wie es ihr wohl stehen würde? Sie zog ihre Hose und das Oberteil aus. Ob sie es mal…also, nur ganz kurz, so zur Probe, überstreifen könnte…? Allein der Gedanke trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht, stellte sie mit einem Blick in den Spiegel fest. Oder war es doch Erregung, die sie dort sah und verspürte?

Um welche Entscheidung sie auch immer gerungen hatte, das schrille Läuten des Telefons riss sie aus ihrem Gedankenspiel. Ertappt warf sie das Kleidungsstück in den Koffer und nahm atemlos den Hörer ab.

„Ja, bitte?“

„Hallo, schöne Frau! Spricht dort Charlotte Gmajner?“

„Äh, ja, am Apparat.“ Charlotte musste sich räuspern. „Und wer spricht dort, bitte?“

„Mein Name ist Elenor“, sprach die Stimme weiter. Sie klang samtweich und fast unverschämt angenehm. „Die Hotelrezeption vermutet, dass unsere Koffer vertauscht wurden.“ Kurze Pause in der Leitung, dann sprach sie weiter:

„Mal ganz abgesehen davon, dass ich den Inhalt meines Koffers in Kürze benötige, würde mich schon brennend interessieren, welche Frau mit einer Figur für Kleidergröße 36 heutzutage noch hautfarbene Baumwollunterwäsche und Hosen mit Bügelfalte trägt? Und damit habe ich noch kein Wort über geringelte Baumwollsocken verloren…“

„Die sind für nachts!“, rutschte es Charlotte empört raus, bevor sie sich eines Besseren besann und entrüstet hinzufügte: „Durchwühlen Sie da gerade meinen Koffer? Also, ich muss doch sehr…“

„Reg dich ab, Schätzchen“, unterbrach sie die Frau, die sich Elenor nannte – das konnte doch kein echter Name sein? 

„Deine Beautyprodukte dagegen sind wirklich ansehnlich, das muss man dir lassen, da hast du echt Stil“.

Sie stoppte kurz, als würde sie jetzt erst Charlottes Einwand wahrnehmen, und lachte ein kurzes kehliges Lachen, bevor sie fragte: „Du wirst mir doch nicht weismachen wollen, dass du meine Sachen noch nicht angeschaut hast? Das glaub ich dir nämlich nicht, Süße.“

Charlotte biss sich auf die Lippen, was weniger ein Schweigen war und weit mehr einem stillen Geständnis glich.

„Was hast du dir ausgesucht?“, fuhr die Stimme am anderen Ende der Leitung auch sogleich fort zu raten. Ihre Stimme wurde noch eine Spur rauer, als sie fragte: „Das Spitzennegligé? Oder traust Du Dich doch an das Bondage-Outfit? Mein Favorit für meinen nächsten Termin übrigens, deswegen brauche ich es auch schnell wieder“.

„Wer sind sie?“, hauchte Charlotte. Vor wenigen Minuten noch wollte sie ihre Augenmaske auflegen und mit dem Podcast für angehende Führungskräfte Kraft für den morgigen Tag tanken. Jetzt stand sie neben einem Koffer voller Versuchungen halb nackt vor dem Hotelzimmerspiegel und telefonierte mit einer wildfremden Frau, deren Stimme ihr eine angenehme Gänsehaut im Nackenbereich verursachte.

Immer hatte sie geglaubt, dass es oberstes Gebot ist, Situationen zu vermeiden, die sie nicht unter Kontrolle hatte. Diese hier fühlte sich allerdings ausgesprochen gut an. Ein Prickeln eroberte ihren Körper und wanderte langsam von den Fußsohlen in die Haarspitzen und ließ auch dazwischen nichts aus.

„Ich mache Dir einen Vorschlag: Ich besorge uns jetzt eine Flasche Sekt zum Anstoßen auf unsere wiedergefundenen Koffer und ein bisschen auf unser Kennenlernen, denn nichts im Leben geschieht ohne Grund, das kannst du mir glauben. Und Du probierst in der Zeit mal Dein Lieblingsoutfit an…ach, nur für den Fall, im Seitenfach sind die passenden Schuhe für den Onesie. Bis gleich.“

Unschlüssig stand Charlotte in ihrem Zimmer. Nie im Leben hatte sie einem aufregenden Sexleben eine Bedeutung zugestanden, das war irgendwie immer etwas für die anderen gewesen. Dabei war sie nicht ohne körperliche Emotionen und auch nicht ohne erotische Träume. Im Leben einer aufstrebenden Karrierefrau hatten die ihrer Meinung allerdings keinen Platz. Daran würde auch ganz sicher eine dahergelaufene Gewerbliche nichts ändern, denn nichts anderes würde Elenor sein.

Woher nahm sie nur das Selbstbewusstsein, das ihre Stimme ausgestrahlt hatte? Beim Öffnen des Seitenfachs fiel ein Stapel Flyer zu Boden. „Elenors Toy Shop For Honest People“, las sie. „Eine echte Geschäftsfrau, die ihr Ding durchzog!“, erkannte Charlotte mit plötzlicher Bewunderung.

Die Schuhe, die Charlotte neugierig aus dem Koffer geholt und mal kurz übergestreift hatte, waren aus feinem Leder gearbeitet und umschmeichelten ihren nackten Fuß. Nur ein wenig zu groß erschienen sie ihr.

Von wilder Entschlossenheit gepackt, griff sie den Anzug erneut aus dem Koffer und streifte ihn über. Der Stoff umschmeichelte ihre Beine kühl. Er umspannte ihren Po, der durch den transparenten Stoff auch für ihre Finger berührbar blieb. Da es keinen Sinn machte, unter diesem sündigen Anzug Slip oder BH zu tragen, fühlte sie beim Verschließen des strassbesetzen Reißverschluss die Kälte dieses Metalls an ihrer Hüfte. Unter dem Stoff stellten sich ihre Brustwarzen auf. Das Gefühl gefiel ihr. Sie spürte Erregung in sich wachsen. Die Frau, die sie jetzt im Spiegel sah, war ihr fremd, aber nicht unangenehm.

Es klopfte. Charlotte öffnete.

Elenor. Sie trug Charlottes Bluse! Charlottes Blick hing an dem glänzenden Piercing an ihrer Brustwarze, wie es durch den Stoff schimmerte.

„Wir brauchen Musik“, stellte Elenor nüchtern fest und schob sich samt Koffer an ihr vorbei ins Zimmer.

Der Duft von Elenors Parfüm umfing sie wie eine prickelnde Brise.