Von Theres Pötzsch

Als sie die Kneipe betrat, war es draußen noch hell. Ihr Date war etwas spät dran und so hatte sie Gelegenheit, einen Tisch im schummrigen hinteren Teil zu besetzen.

Nach wenigen Minuten kam er. Vincent und sie waren die ersten Gäste und deshalb völlig ungestört, sie hatte also Hoffnung, dass sie einander bald annähern würden. Doch Vincent saß ihr gegenüber, weit zurückgelehnt auf seinem Stuhl, Grübchen in den Wangen, verwuscheltes Haar, die Hände auf seinem Schoß. 

Obwohl er keine klassische Schönheit war, fand sie ihn sehr attraktiv. Ihr gefiel, dass er jungenhaft und zugleich sehr reif wirkte. Er hatte eine etwas linkische Art sich zu bewegen, wie ein Fünfzehnjähriger, der zu schnell gewachsen ist. Im Kontrast dazu stand seine sonore Bassstimme, die an Vorleser in alten Hörbüchern erinnerte. Auch in seinem Gesicht passte nichts zusammen: die roten Wangen nicht zu den farblosen, schmalen Lippen, das kräftige Kinn nicht zu der zierlichen Nase, die Fältchen auf der Stirn und an den Augen nicht zu dem vollen, an wenigen Stellen ergrauten Haar. Sie mochte, wie sich der Kaumuskel an seinem Kiefer abzeichnete, sie hätte die Stelle gerne geküsst. Und seine gepflegten Hände, kräftig, aber nicht grobschlächtig, wie gerne hätte sie sie gehalten.

„Was hast du so gemacht?“, fragte er.

„Gestern habe ich meine Eltern besucht. Wir waren wandern, das heißt, wir sind auf den nächsten Berg gestiegen, sage und schreibe 330 Meter über dem Meeresspiegel!“

„Beeindruckend! Gab´s auch ein Gipfelkreuz?“

„Tatsächlich, das heißt irgendeinen Pfahl, wo die Höhenmeter draufstehen, vom örtlichen Heimatverein in die Bergspitze gerammt.“

Vincent musste kichern und ihr gefiel, dass sie ihn zum Lachen bringen konnte. Sie überlegte, was sie noch erzählen könnte, etwas Lustiges vielleicht, aber ihr fiel vor Aufregung nichts ein. 

Vincent zog seinen Pullover aus, dabei rutschte ihm das T-Shirt kurz über den Bauch, ein blasses, weiches Stück Haut ohne ein einziges Haar. Eigentlich nicht sehr spektakulär, und doch musste sie unwillkürlich nach Luft schnappen, bekam einen trockenen Mund. Sie konnte nicht anders als sich vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, diesen Bauch fest an ihrem zu spüren, die Haut wäre zart und etwas kühl. 

Er begann zu erzählen, wie er zu seiner Wohnzimmerlampe gekommen war. Über kleinanzeigen war er auf ein Angebot der Kategorie „Zu verschenken“ gestoßen, ein unauffälliges Modell aus hellem Stoff, möglicherweise von IKEA. Er hatte die Lampe bei einem Ehepaar in einem Randbezirk abgeholt. Dieses schien ziemlich bestürzt darüber, dass er zu dem Treffen angelaufen kam. Ob er weit weg geparkt hatte? Es seien doch Parkplätze vor der Haustür frei, dann müsse er das Ding nicht die ganze Strecke schleppen. Vincent entgegnete, die Lampe sei so schwer nun auch wieder nicht sei und klärte das Paar auf, dass er gar kein Auto besitze und mit dem Bus gekommen sei. Aber wie er die Lampe im Bus zu transportieren gedenke, hatte die Frau gefragt, die kurz davor schien, ihre Fassung zu verlieren. 

„Ganz einfach, ich nehme sie in die Hand, laufe zur Haltestelle und steige in den Bus.“ 

Nach der Übergabe hatte er sich bedankt und sei losmarschiert, die Blicke des kopfschüttelnden Ehepaares noch im Rücken spürend.

Halb ernst, halb im Scherz echauffierten Vincent und sie sich über die Engstirnigkeit städtischer Autofahrer. Auf diese Weise lenkte Vincent einen Großteil des Gesprächs: er lieferte witzige Anekdoten, bei denen er wenig von sich preisgab, aber an die man das nächste Thema problemlos anknüpfen konnte. 

 

Sie hatten sich über eine Dating-App kennengelernt, bei der sie sich vor kurzem angemeldet hatte. In der Kategorie Ich suche nach … hatte Vincent Weiß ich noch nicht angegeben. Zur Begrüßung hatte er sie wie eine alte Freundin umarmt. Vincent verstand es, charmant zu sein, statt plump zu flirten, war interessiert und unterhaltsam. Bei ihm fiel es ihr leicht, aus dem Nähkästchen zu plaudern, weil er die richtigen Fragen stellte und an passenden Stellen zu eigenen Anekdoten ausholte. Er hatte eine Vorliebe, Kurioses aus seinem Alltag zu berichten, was sie häufig zum Lachen brachte. Schon beim ersten Bier war sie sich sicher gewesen, dass sie ihn wiedersehen wollte. 

Wie nebenbei hatte sie ihm Komplimente gemacht, die unerwidert geblieben waren, was sie sich mit Schüchternheit erklärte, ebenso seine vorsichtige Art, sich zu bewegen, als habe er Angst etwas umzustoßen oder jemanden versehentlich anzurempeln. Dieser Befangenheit musste man eben umso forscher begegnen. Umso überraschter war sie, dass er die nächsten Schritte unternahm. Beim zweiten Drink lehnte er sein Knie gegen ihren Oberschenkel, beim dritten streichelte er ihre Hand. Mehr traute er sich offenbar nicht, verlegen lächelte er sie an. Sie küsste ihn beim vierten Drink. Den Kuss erwiderte er zärtlich, jedoch nicht zögernd. Den Rest des Abends verbrachten sie knutschend. Zwischendurch hielten sie für Momente inne, in denen Vincent zufrieden grinste. Sie musste ihn dann gleich wieder küssen, legte eine Hand auf seinen Nacken und streichelte die Haare an seinem Hinterkopf.

Es war bei vier Drinks geblieben und er hatte sie nicht zu sich eingeladen. Sie war hingerissen und betrunken genug, dass sie zu ihm gegangen wäre, aber nicht zu betrunken, um selbst einen Vorschlag dieser Art zu unterbreiten. Danach hatte er ihr geschrieben, wie schön es gewesen sei, und etwas unkonkret, dass sie das Ganze wiederholen sollten. Sie schrieb, dass sie es auch schön gefunden habe und das mit der Wiederholung eine gute Idee sei.

Nach drei Tagen kribbelnder Verliebtheit, in denen sie kaum einen Bissen hatte essen können, wandelte sich ihre Vorfreude auf ein weiteres Date in Enttäuschung, denn er hatte ihr nicht noch einmal geschrieben. Eine Woche lang versuchte sie, ihn zu vergessen, dann fragte sie nach einem Treffen, sie wolle eine neue Kneipe ausprobieren. Wenigstens wollte sie Gewissheit. Vincent sagte am nächsten Tag zu. Vergeblich versuchte sie, ihre Erwartungen gering zu halten. Sie freute sich auf diesen Freitagabend, wie ein Kind auf seinen Geburtstag.

 

„Ich bin vor ein paar Tagen die Runde zum Hainer See gefahren, die du mir empfohlen hattest. Wirklich schön. Bin im Schnitt 25 Stundenkilometer gefahren“, sagte er.

Sie überlegte, ob sie eine gemeinsame Radtour vorschlagen sollte, aber sein Tempo schreckte sie ab. Und sie fand, er hätte sie fragen sollen, wenn ihre Vorschläge ihm schon gefielen. 

Vincent sagte, dass er durch die Arbeit zu viel vor dem Rechner sitze und sehr verspannt sei. Er steckte die Hand in den Halsausschnitt seines T-Shirts und rieb sich über die Schulter. Dabei entblößte er seine runde Schulter und einen Teil seiner glatten Brust, ein Anblick, der ihr Herz sofort schneller schlagen ließ. Bevor sie wieder die Kontrolle über sich gewinnen konnte, hatte sie Vincent schon angeboten, sie könne doch später seine Schultern massieren, sie sei ziemlich gut darin. Statt etwas zu erwidern, bedachte er sie mit einem Blick, der zu fragen schien: Warum sagst du das? Dabei machte er große Augen und die Falte über der Nasenwurzel vertiefte sich, als bemühte er sich, nicht die Stirn zu runzeln. Die kurze Gesichtsentgleisung mündete in einem charmanten Lächeln und einem Themenwechsel.

Später wurde der Laden richtig voll, jeder einzelne Platz war besetzt. Die gefällige Loungemusik wurde lauter gedreht. Endlich rückte Vincent näher und erzählte von seiner geplanten Auszeit im Sommer oder Herbst, einer zweimonatigen Südamerikareise. Dabei stellte er seine Ellenbogen auf den Tisch, den Kopf zwischen den Händen. Sie hätte sich nur vorbeugen müssen, um ihn zu küssen, erinnerte sich, wie kratzig seine Bartstoppeln sich an ihren Lippen angefühlt hatten, wie weich das Haar an seinem Hinterkopf gewesen war. Sie hoffte, er würde in den nächsten Minuten wieder ihre Hände nehmen, sie endlich küssen.

Dass er vorhatte, für längere Zeit zu verreisen, schmerzte sie, aber bis dahin waren es noch einige Monate. Während er ausführte, wie schwierig es gewesen war, seinen gesamten Jahresurlaub mit einem Schlag zu beantragen, überlegte sie, ob sie diesmal die Initiative ergreifen sollte. Es konnte doch kaum Zufall sein, dass er sich jetzt annäherte, unmöglich konnte ihm entgangen sein, welche Wirkung seine unbedarften Entblößungen auf sie gehabt hatten.

„Meinen Respekt hast du“, sagte sie. „Dafür, dass du deinen Plan durchziehst, obwohl deine Vorgesetzten Bedenken geäußert haben. Die meisten Leute trauen sich das nicht und träumen höchstens davon. Ich bin auch schon mehrmals länger gereist und diese Erfahrungen sind auf jeden Fall wertvoller als hundertprozentige Sicherheit bei der Arbeit. Und überhaupt, was gibt einem schon Sicherheit …“

Sie stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch, legte ihre Hände übereinander. Wenn er nicht zurückweichen würde, würde das bedeuten, dass er sie küssen wollte, sich aber nicht traute, den ersten Schritt zu machen. Vincent rückte nicht weg. 

„Ich habe eher Bedenken, ich könnte im Sozialen einiges verpassen, den Anschluss verlieren. Ich bin ja noch nicht so lange in der Stadt“, sagte er. Dann erzählte er, wie überraschend leicht es gewesen sei, hier Leute kennenzulernen.

Sie konnte kaum noch zuhören und lachte nur hin und wieder, wenn es passend erschien. Schließlich fasste sie sich ein Herz und legte ihre Hand an seine Linke, mit der er sein Kinn stützte. Sofort verstummte er. 

„Darf ich?“, fragte sie nachträglich. Dass er nichts erwiderte, interpretierte sie als Zustimmung. Er ließ seinen Arm sinken, sie umfasste seine kräftige, angenehm feste Hand. Seine Hand war warm, und auch beim letzten Mal hatte er warme Hände gehabt. Sie wollte es genießen, aber es irritierte sie, dass es ihnen die Sprache verschlagen hatte. Von der Spannung, die entsteht, kurz bevor man sich küsst, war nichts zu spüren, zerstreut spielte er mit ihren Fingern. Sie fragte sich, ob sie den nächsten Schritt dennoch wagen sollte.

 

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