Von Siegfried Reitzig

Christiane vergewisserte sich kurz, ob die Büros, die sie – heute wie jeden Dienstag in jeder Woche – zu putzen hatte, auch wirklich nicht besetzt waren. Das war wichtig, denn wenn noch jemand außer ihr anwesend war, konnte sie nicht in Ruhe arbeiten, und vor allen Dingen hatte sie dann keine Gelegenheit, ihrer kleinen, heimlichen Leidenschaft zu frönen, die ihr diese Arbeitsstelle wertvoller machte, als das Geld, das sie hier als Raumpflegerin verdiente.

Als Christiane festgestellt hatte, dass sie allein war, atmete sie tief durch, schloss die Tür zum Treppenhaus von innen ab und ließ den Schlüssel stecken. Auch das war wichtig, denn so konnte jemand, der hier um diese Zeit doch noch arbeiten wollte oder auch nur etwas vergessen hatte, nicht überraschend hereinkommen, sondern musste erst klingeln – das sorgte für eine private, sogar ein bisschen intime Atmosphäre in den ansonsten ganz auf zweckdienliche Betriebsamkeit ausgerichteten Räumen.
Nun kam allerdings erst die Arbeit dran, denn Christiane wusste, dass sie leicht die Zeit vergessen konnte, wenn da wieder etwas war, in dieser Schublade im letzten Büro – etwas für sie ganz allein …

Christianes Herz klopfte spürbar schneller, als sie nach einer Stunde vor dem bewussten Schreibtisch stand, und ihre Blicke zunächst aufmerksam suchend über das Chaos aus Stiften, Papieren und Büroutensilien wanderten, denn manchmal fand sich schon dort ein erster Hinweis darauf, dass es im Inneren dieses Tisches etwas zu entdecken gab.
Die Putzarbeit war dabei nicht der Grund für ihren schnelleren Puls, sondern es war dieses Gefühl von Spannung und Heimlichkeit, welches sich immer einstellte, wenn sie sich diesem Schreibtisch näherte.
Nachdem es nun heute zwischen Kaffeetassen und Aschenbecher nichts Bemerkenswertes zu sehen gab – Christiane hatte weder einen Zettel mit einem Satzfragment gefunden, noch einen von diesen sinnlichen Champagnertrüffeln – öffnete sie vorsichtig die mittlere Schublade.
Diese kleinen Zettel, auf denen scheinbar sinnlose Worte standen, sammelte sie seit Wochen und versuchte, das Gedicht zusammenzulegen, welches möglicherweise darin verborgen war – leider bisher erfolglos.
Die Trüffel waren besser, die durfte sie sofort essen, und das war schon oft eine gute Einstimmung auf den Schubladeninhalt gewesen, denn Christiane ist eine sehr sinnliche Frau – in jeder Beziehung.
Als sie die Schublade weit genug herausgezogen hatte, wurde in ihrem hinteren Drittel eine Bildermappe sichtbar, die auf der Vorderseite mit den Buchstaben C und M versehen war und deren Deckblätter von zwei Schleifenbändchen zusammengehalten wurden.
Christiane nahm die Mappe heraus und strich sanft mit den Fingerspitzen über ihre Oberfläche.
Sie lächelte, als ihre Gedanken noch einmal zu dem Zeitpunkt wanderten, als diese Schublade mit ihrem Inhalt begann, wichtig für sie zu werden.

Alles hatte vor etwa zwei Jahren mit dem Telefonkabel angefangen, das jemand beim Schließen seiner Schreibtischschublade achtlos eingeklemmt hatte. Als Christiane nun voller Schwung mit dem Staubsauger über das Kabel fuhr, verhakte es sich am Gerät und die Schublade flog auf.
Sie wollte sie gerade wieder schließen – ärgerlich über diese Unterbrechung ihrer Reinigungsarbeit – als ihr Blick zunächst flüchtig, aber dann mit geradezu magischer Kraft angezogen, an einer nur zum Teil sichtbaren Zeichnung hängenblieb, die in der Schublade lag.
Christiane konnte nicht anders, und obwohl natürlich klar war, dass sie an fremden Papieren nichts zu suchen hatte, zog sie das Bild heraus – und war völlig überrascht und gleichzeitig fasziniert.
Es war eine Aquarellzeichnung mit zarten Konturen und zurückhaltenden Farben – was sie aber darstellte, war alles andere als zurückhaltend, es war ein prächtig aufgerichteter, praller Männerschwanz!
Christiane ließ diesen, wie sie fand, höchst erfreulichen Anblick auf sich wirken und war ganz gefangen vom Ausdruck der Zeichnung, die viel Lebendigkeit und Kraft ausstrahlte, gleichzeitig aber so zart und weich wirkte. Der Schaft dieser mächtigen Rute ragte aus einem dunklen Haarbusch hervor und war ganz leicht nach oben gebogen. Die Eichel quoll üppig aus der von ihr zurückgedrängten Vorhaut, war schön proportioniert und der Künstler oder die Künstlerin hatte es verstanden, ihr genau den Hauch von Glanz zu geben, den Christiane auch bei einem lebendigen Teil dieser Art sehr zu schätzen wusste.
Dieses Bild strahlte etwas aus und weckte es auch – jedenfalls bei Christiane – es war Lust auf Sinnlichkeit, Lust auf Sex!

Nun gab es allerdings einen ganz besonderen Grund für Christianes großes Interesse, und der war ihr eigenes Hobby, das sie voller Leidenschaft pflegte, wenn auch bisher nur im Verborgenen. Sie malte und zeichnete selbst erotische Bilder, die sich an Schönheit und Ausdruck durchaus mit diesem überraschenden Fund messen konnten, jedoch waren es bisher nur weibliche Motive gewesen – und niemand hatte sie je zu sehen bekommen.

Christiane hatte damals eine Idee, die ihr zunächst fast albern vorkam, die sie aber dennoch in die Tat umsetzte, und die dann eine ganz eigene Dynamik entwickelte …
Als erstes konnte sie es sich nicht verkneifen, einen Kommentar zu hinterlassen – einen Hinweis auf ihr unerlaubtes Anschauen diese kleinen Kunstwerkes, der gleichzeitig eine Anerkennung enthielt:
„Schweinkram!“ schrieb sie mit dünnem Bleistift unter das Bild – und dahinter
„aber wahnsinnig gut … C“.

Sie beendete damals ihre Arbeit in ganz anderer, fast euphorischer Stimmung und als sie später zu Hause geduscht hatte und sich entspannte, fiel ihr die Idee wieder ein und sie holte ihre eigenen erotischen Kunstwerke hervor.
In dem Karton befanden sich etwa 20 Bilder und ein Büchlein mit Geschichten und Gedichten, von denen die meisten auch etwas mit Sex oder Sinnlichkeit zu tun hatten.

Christiane hatte damals eine Bleistiftzeichnung ausgewählt – das Aktmotiv einer Frau, die dem Betrachter zugewandt breitbeinig auf einem Stuhl saß und so den Blick auf ihre leicht geöffneten Schamlippen gewährte. Der Gesamteindruck des Bildes war offen und heiter und Christiane hielt es für eines ihrer gelungensten Werke.
Diese Zeichnung nahm sie in der nächsten Woche mit zur Arbeit und legte sie in die Schublade des unbekannten Erotik-Künstlers im letzten Büro – dass es ein Mann sein musste, hatte Christiane mittlerweile aus den breitgelatschten Sandalen der Größe 46 geschlossen, die unter dem Schreibtisch standen.
Das Bild, das ihr so gut gefallen hatte, war verschwunden, was ja zu erwarten gewesen war.
Was allerdings passieren könnte, wenn Christianes „Antwort“ – denn als solche empfand sie es und so lautete auch der Titel, den sie ihrem kleinen Kunstwerk gegeben hatte – entdeckt wurde, war nicht vorherzusehen.
Natürlich war es ein gewagtes Spiel, denn der Personenkreis, der nach Büroschluss Zugang zu den Räumen hatte, war begrenzt, und wenn ernsthafte Nachforschungen angestellt würden, musste Christiane sicherlich mit ihrer Enttarnung rechnen. Aber es ritt sie der Teufel, und wie man heute sagen kann, hatte sie die Situation richtig eingeschätzt.

Über diese Schublade entwickelte sich seitdem ein lebhafter künstlerischer Austausch und die Reaktion auf Christianes „Antwort“ fand sie prompt eine Woche später in Form einer weiteren Aquarellzeichnung.
Dieses Werk zeigte wieder diesen Männerschwanz – Christianes Erfahrung sagte ihr sicher, dass es sich um dasselbe edle Teil handelte – und zwar in einem unschuldig ruhenden und zurückgezogenen Zustand.
Auch dieses Bild wirkte sehr sinnlich und anregend auf Christiane, die ihre Phantasie spielen ließ und sich prompt vorstellte, dass ihre „Antwort“ nicht unbeteiligt war an der dokumentierten Penis-Veränderung … wäre ja immerhin möglich …

Christiane schwelgte in Erinnerungen und hatte noch immer die Bildermappe in den Händen, als eine Stimme ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ:

„Hallo, ich weiß, dass du da bist!“

Sie schoss hoch, knallte die Schublade zu und schaltete den Staubsauger ein, obwohl der schon gar nicht mehr an der Steckdose hing!
Der Schock saß tief, denn sie hatte völlig selbstvergessen vor sich hingeträumt und musste erst mal wieder in der Gegenwart ankommen.
Wer war da? Es konnte überhaupt niemand da sein!!
Erst als sie die rote Kontrollleuchte des Anrufbeantworters registrierte, wurde ihr klar, dass außer ihr wirklich niemand im Raum war – jedenfalls nicht physisch.
Aber wer wusste, dass sie hier war, und meinte der Anrufer wirklich sie?

„Schau bitte mal in die oberste Schublade – zur Abwechslung…“ quäkte die Stimme erneut aus dem Kasten unter dem Telefon und hatte einen amüsierten Unterton.
Dann räusperte sich der Mann und sagte zögernd: „Ich werde auch dort sein …“ – es knackte leise, und dann kam nichts mehr.

Christianes Herz klopfte immer noch heftig – das war er gewesen – er, der seine erotischen Bilder immer mit „M“ signierte und mit dem sie seit zwei Jahren aufregende sinnliche Zeichnungen austauschte!
Nie hatte sie daran gedacht, dass sie sich einmal persönlich begegnen würden – und nun dies!?

Sie öffnete sofort die oberste Schublade, wie der Anrufer angeordnet hatte und fand dort eine Eintrittskarte. Es war das Billett für eine Ausstellung in der hiesigen Kunsthalle. Ein bisher unbekannter Künstler hatte einen Förderpreis gewonnen und durfte so seine Werke und die einer weiteren Künstlerin, deren Name nicht genannt war, einem großen Publikum präsentieren – es handelte sich um erotische Malerei im weitesten Sinne.
Christiane war natürlich interessiert, das war ja klar. Am gleichen Abend noch ging sie hin!

In der Eingangshalle hingen die ersten Bilder – Tuschezeichnungen und zum Teil auch Aquarelle.
Christiane dachte noch, dass die Werke an Deutlichkeit und Direktheit nichts zu wünschen übrigließen, als ihr ein Aquarell besonders auffiel – eine Ahnung stieg in ihr hoch, sie schaute genauer hin und erbleichte!

„Schweinkram“, stand mit dünnem Bleistift unter dem Bild, und dahinter „aber wahnsinnig gut … C“.

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