Von Miklos Muhi

Intoleranz ist ein Beweis für Impotenz

Aleister Crowley

 

Das Herz von Martin Kellner schlug schneller. Ulrich Lügenmund kam auf die kleine Gruppe zu. Martin unternahm große Anstrengungen, damit für Roland Weichwig sein Interesse verborgen blieb. Er war mit ihm zusammen, doch dieser behandelte ihn wie eine Gummipuppe, so wie Martin selbst Gernot Möhrenlos, wenn er versuchte, auf seine Kosten zu kommen. Den minderwertigen Ersatz hatte er satt.

 

»Martin, ich will etwas in den Mund«, sagte Roland.

»Sofort, Liebes«, antwortete er und knöpfte seine Hose auf.

Roland griff hinein, in die eingenähte Innentasche, und holte sich Zigarette und Feuerzeug heraus.

 

Martin seufzte. Sein Partner war einflussreich. Er hatte immer Glimmstängel und blaue Pillen zur Verfügung. Das Schnorren war seine Art, Dominanz außerhalb von Bett, Dusche oder Toilette zu zeigen. Potenzmittel hatten alle bitternötig, damit überhaupt etwas lief. Ein Bruch mit Roland kam nicht infrage.

 

»Ich habe in meiner Hose auch was anderes, Süßer«, säuselte Martin hoffnungsvoll.

»Lass es stecken. Ein anderes mal vielleicht«, knurrte Roland.

 

Martin erinnerte sich gern an die Verstecke, in denen es zwischen Ulrich und ihm hin und wieder nicht funkte, sondern blitzte.

 

»Halo Herzilein!«, rief Mario Ulrich zu und winkte. Dieser reagierte nicht und setzte sich wortlos neben ihn.

 

Mario Güller, die dämliche Schlampe wachte eifersüchtig über seine Beziehung mit Ulrich. Gerne hätte Martin ihn aus dem Weg geräumt. Dass sie beide der Debilitären Bewegung angehörten, verkomplizierte das Ganze zusätzlich. Stutenbissigkeit hatte unter Kameraden keinen Platz.

 

»Was geht?«, fragte Ulrich und Martin starrte auf seinen Mund. In seiner Hose regte sich etwas. Ohne die Pillen blieben solche Regungen im Millimeterbereich.

 

Ulrich war extrem geschickt und gehörte der Organisation Armleuchter fummeln im Dickicht an. Allein davon wurde Martin geil.

 

»Wo ist Hans-Ulrich? Er sollte schon längst hier sein, aber echt hey«, sagte Mario.

 

Ulrichs Gesicht verfinsterte sich. Trotz fester Beziehung waren die Marios Fehltritte Richtung Hans-Ulrich nicht zu übersehen.

 

»Ich habe keine Ahnung, wo er sich wieder sich polieren lässt«, murmelte Gerrit Pfui, der Partner von Hans-Ulrich. Ihre Beziehung stand auf weichen, tönernen Füßen. Letzterer besorgte ihm alles, was er sich wünschte, doch dieser änderte seine Meinung oft darüber, was ihm gefiel oder nicht. Gerrit war in dieser Hinsicht Roland nicht unähnlich. Die zwei verstanden sich ausgezeichnet, hauptsächlich unter der Dusche.

 

»Ich denke, es ist an der Zeit, Spaltung und Spannungen zwischen uns zu beenden und ineinander aufzugehen«, sagte Martin.

»Ich bin seit Tagen in niemandem aufgegangen«, murmelte Roland.

»Da kann man etwas tun«, meinte Gerrit, der gerade angekommen war.

»Oh ja, das kann man«, pflichtete er bei. »Harte … ehm … Arbeit bringt immer seine Samen … ich meine Früchte.«

»Wir müssen diesen Zustand, der nur denen in die Hände spielt, ein für alle Mal beenden und die Normalität wiederherstellen.«

»Wie soll denn das gehen?«, fragte Martin.

»Repenetration!«, rief Ulrich. Die Anwesenden applaudierten. »Schluss mit der Spaltung von Debilitären und Armleuchtern! Es ist an der Zeit, dass wir wieder echte Kameraden werden!«

»Her mit den Pillen«, sagte Gernot Möhrenlos.

»Du bekommst keine. Wozu denn?«, fragte Roland und alle lachten, bis auf den Betroffenen. Die Aussicht auf eine weit gefasste Vereinigung ließ ihn den derben Scherz, der eine gehörige Portion Wahrheit innehatte, tolerieren.

 

Roland verteilte die blauen Pillen und alle schluckten sie.

»Wollen wir nicht hineingehen?«, fragte Martin. »Wir haben noch eine halbe Stunde, bis es richtig losgeht. Und hier werden wir von denen beobachtet.«

»Sind wir erst einmal vereinigt, können die uns nichts mehr anhaben. Dann werden wir die grünen Horden dahin zurückschicken, wo sie hergekommen sind!«, rief Ulrich. »Wer ist mit mir?«

»Ich! Ich! Ich!«, sagte Martin, stand auf, trat zu ihm und küsste ihn. Dieser erwiderte den Kuss. Die ganze Spannung fiel von ihnen ab.

Roland nahm Gerrit in die Arme und flüsterte etwas in seine Ohren. Sein Gesicht strahlte vor Freude und er strich über seinen festen Po.

Mario und Hans-Ulrich schauten sich an. Bald passte kein Stück Papier zwischen ihren Körpern.

 

Die Aufregung ließ die Pillen schneller wirken und alle waren dabei, zum wesentlichen Teil der Vereinigung zu kommen.

 

*

 

»Sofort aufhören!«

 

Der Ruf aus den Lautsprechern widerhallte zwischen den Betonwänden der Gebäude der Anstalt. Einige Türe öffneten sich und Pfleger in grüner Krankenhausuniform strömten heraus.

 

Als die Pillen ihre volle Wirkung entfalteten, waren alle in Einzelgummizellen gesperrt und man durchsuchte ihre Wohnzellen. Das Gefundene stellte kleinere Apotheken und Tabakläden in den Schatten.

 

*

 

»Das war ein Fehler, liebe Kollegen«, sagte Dr. Spielmann.

Die anderen Ärzte im Raum schwiegen. Der unbegrenzte Freigang im Hof und die Möglichkeit, kaum bewacht Besucher zum Empfangen, wirkten nicht wie gehofft.

»Ich schlage vor, die Patienten vorerst in der Isolierung zu belassen«, meinte Dr. Brenner. »Wir machen uns daran, eine andere Art von Umgang mit solch schweren Fällen auszuarbeiten.«

»Wer ist wir?«, fragte Dr. Spielmann. Dem Direktor war das schiefgegangene Experiment peinlich und es gefährdete seine Karriere.

»Ich werde mit den Kollegen reden und Ihnen die Liste mit den Mitgliedern des Ausschusses, der alles ausarbeiten soll, vorlegen. Ist übermorgen zu spät?«, fragte Dr. Brenner.

»Nein, das ist völlig in Ordnung. Bitte entschuldigen Sie meine Wortwahl, wir sind ja in einer Irrenanstalt, die ich seit zwanzig Jahren leite, aber solche Spinner habe ich noch nie gesehen.«

»Ich frage mich, ob in der Geschichte dieser Einrichtung schon solche Experimente durchgeführt wurden. Wir haben ein riesiges Archiv voller nicht digitalisierten Aufzeichnungen. Wir wissen es nicht …«

Man diskutierte die Sachlage. Für eine vollständige Digitalisierung wären externe Ressourcen vonnöten, die man zu beantragen hätte. Deren Bewilligung stand auf einem anderen Blatt. Dr. Spielmann versprach, sich darum zu kümmern und über alle nötige Hürden der Bürokratie zu springen.

 

*

 

Im Heim für Demenzkranken nannte man ihn nur Professor. Dr. Mitleufer, ehemaliger Nervenarzt und langjähriger Leiter der psychiatrischen Klinik der Stadt, war eine Art von Berühmtheit. Seine langen und oft wiederholten Ausführungen über seine Arbeit erfüllten die anderen Bewohner mit Respekt und Ehrfurcht. Für das Personal waren sie nur nervenaufreibendes Gelaber.

 

Oft erzählte er von seinem Experiment zur Behandlung und Unterbringung gemeingefährlicher Psychotiker. Die Patienten hatten vergleichsweise viel Freiheit und bekamen oft Besuch.

 

Das Ergebnis war eine Katastrophe. Bevor die Insassen auf nimmer Wiedersehen abgehauen waren, haben sie sich mit Syphilis angesteckt und die Organisation Nörgelnde Soziophaten, Dreckige, Arbeitsscheue Prunksüchtige gegründet.

 

Als Dr. Mitleufer starb, galt sein letzter klarer Gedanke seinem gescheiterten Experiment und der Hoffnung, dass seine Nachfolger seine Fehler nicht wieder begehen würden.

 

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