Von Agnes Decker

 „Ganz nackt?“ Isabella spürt, wie die Hitze in ihrem Gesicht hochsteigt. Mit offenem Mund starrt sie Rosa an, die ihr gegenübersitzt und sie angrinst.

„Mensch, Isa. Natürlich auch splitterfasernackt. Je nachdem halt, was gewünscht wird. Du musst dir einfach nur vorstellen, dass es wie beim Arzt ist. Und nach dem ersten Mal hast du dich schon daran gewöhnt.“ Rosas Grinsen wird breiter. „Und, es ist leicht verdientes Geld. Du hast doch gesagt, dass du dringend einen Nebenjob suchst.“

„Wie, ich meine du…“, Isabella räuspert sich. „Ich meine, wie lange machst du das schon? Du hast nie davon erzählt.“

„Seit zwei Monaten. Klar, ich hab’s nicht an die große Glocke gehängt, will mir ja das Geschäft nicht kaputt machen lassen. Aber jetzt, wo zwei ausgestiegen sind und dringend Neue gesucht werden…“, Rosa tickt mit dem unteren Rand ihres Bierkruges an Isabellas Wasserglas.

Das Klirren lässt Isabella zusammenzucken. „Und wie kommst du gerade auf mich?“ Sie schüttelt den Kopf, schaut an sich herunter.

„Mensch Isa, es kommt doch nicht auf einen perfekten Body an. Je natürlicher, desto lieber ist es ihnen. Also, überleg es dir. Hier ist die Visitenkarte. Du, ich muss.“ Rosa legt ein paar Geldstücke auf den Tisch, schiebt ihre Hefte in die Aktentasche und steht auf. „Du kannst mich jederzeit anrufen. Tschau.“ Damit dreht sie sich um und geht mit schwingenden Hüften zwischen den eng mit Studierenden besetzten Tischen durch. Ein paar junge Männer drehen sich um und schauen ihr hinterher.

Isabella legt die Visitenkarte vor sich auf den Tisch und schaut sie lange an. Rosa hat gut reden. Schon im Gymnasium war sie eines der beliebtesten und hübschesten Mädchen. Dabei ist sie überhaupt nicht arrogant. Immer freundlich und kumpelhaft. Isabella seufzt. Mit hochrotem Gesicht wühlt sie in ihrem Rucksack und befördert nach einiger Zeit ein abgegriffenes schwarzes Portemonnaie heraus. Nicht nur das, auch der Rucksack, in dem sie täglich ihre Bücher und Hefte zur Uni transportiert, hat einmal bessere Zeiten gesehen, ebenso die Jeans, das marineblaue Sweatshirt, die Sneaker, und, und, und… Wenn nur das Geld nicht wäre. Und ständig wird alles teurer. Gestern erst hat sie einen Brief mit einer fetten Mieterhöhung erhalten. Isabella winkt der Bedienung. Nachdem sie bezahlt hat, steht sie auf, hängt sich den abgewetzten Rucksack über die Schulter. Als sie sich durch die gedrängt Sitzenden und Stehenden windet, schaut ihr niemand hinterher. 

Wie in Trance geht Isabella durch die Straßen, besteigt die Straßenbahn. Ganz nackt, geht es ihr immer wieder durch den Kopf. Und alle schauen mich an. Ihr Körper kribbelt bis in die Zehenspitzen. Ganz splitterfasernackt. Ich. 

Zuhause angekommen, fällt ihr Blick auf einen weißen Briefumschlag, den jemand wohl unter der Tür durchgeschoben hat. 

„Verehrte Frau Siemes, die Miete für den letzten Monat ist noch fällig. Außerdem Ihre Einverständniserklärung zur Mieterhöhung. Wenn Sie beides nicht bis zum…“ Isabella lässt das karierte und handschriftlich beschriebene Stück Papier sinken. Sie weiß schon, wie der Satz zu Ende geht. Frau Schmitz, ihre Vermieterin, droht wieder einmal mit der Kündigung. 

Zögernd zieht Isabella die Visitenkarte aus der Hosentasche. Schaut sie lange an. Dann wählt sie die Nummer.

„Meyersohn“, meldet sich eine tiefe, rauchige Stimme. 

„Siemes, ich, hmm, ich habe Ihre Nummer von einer Studienkollegin, die sagte mir, dass sie, ja, dass sie noch jemanden suchen…“, stammelt Isabella und überlegt, ob die Stimme wohl zu einem Mann oder einer Frau gehört. Auf jeden Fall jagt sie ihr einen wohligen Schauer über den Rücken. 

„Wie schön. Kommen Sie doch gleich morgen vorbei und wir lernen uns kennen und besprechen das Nötige. 11.00 Uhr? Wenn Sie mögen, können Sie gerne auch gleich in Aktion treten. Die Adresse haben Sie?“

Ein Schweißtropfen läuft Isabella über die Stirn und landet brennend in ihrem Auge. Gleichzeitig drängt sich ein Bild in ihren Kopf. Sie steht in einem großen weißen Raum und zieht sich aus, legt ein Kleidungsstück nach dem anderen ab, bis sie nackt vor dieser fremden Person steht. 

„Frau Siemes, sind sie noch dran?“

 „Ja, entschuldigen Sie. Ja, die Adresse, die habe ich und, und danke“, murmelt Isabella. Von der anderen Seite erklingt noch einmal diese aufregende Stimme: „Auf Wiedersehen. Ich freue mich“, und bevor Isabella „Ich auch“, erwidern kann, ist es still.

Isabella tritt vor den Spiegel. Ein hochrotes, rundes Gesicht, umrahmt von kurzen dunkelbraunen Locken, schaut sie an. Ein langer Hals, darunter volle Brüste, die selbst durch das übergroße Sweatshirt gut zu erkennen sind. Breite Hüften und im Kontrast dazu, schmale, wenn auch kurze Beine. Keine Schönheit, das sicher nicht, aber auch nicht unattraktiv. So hatte es ihr letzter und bisher einziger Freund bezeichnet. Nicht unattraktiv, besonders, wenn man auf Brust und Po steht. Und davon hat sie ja reichlich. Und das alles würden morgen fremde Menschen betrachten. Isabella spürt eine weitere Welle, die jetzt von der Bauchmitte oder etwas darunter hochsteigt und sie regelrecht überschwemmt. Ich muss mir dringend noch die Achseln und Beine und … rasieren, denkt sie, und wird noch röter. Oh Gott, was habe ich da getan? Das schaffe ich nicht, niemals. 

 

In der Nacht schläft sie unruhig. Sobald sie die Augen schließt, hat sie das Gefühl, hunderte Augenpaare starren sie an. Sie, die nackt auf einem weißen Laken liegt, auf dem Rücken, eine Hand angewinkelt unter den Kopf gelegt, die Beine leicht gespreizt. Die Augen kommen näher, so nahe, dass die dazu gehörenden Münder sie berühren könnten, ihre heiße Haut, ihren verlangenden Körper. Sie kann den Atem spüren kann und die Blicke, die wie Federn über ihren Körper gleiten. Alles erfassen. Stück für Stück. Jede Falte, jeden Pickel, jeden Schweißtropfen. „Los, fasst mich doch endlich an“, ruft Isabella, als die Spannung unerträglich wird, „bitte, macht schon.“  In diesem Moment schlägt sie die Augen auf, und da ist niemand mehr, nur sie, in ihrem Bett. 

An Einschlafen ist jetzt nicht mehr zu denken. In ihrem Kopf dreht sich alles und Isabella ist froh, als endlich der Wecker klingelt, auch wenn sie sich völlig zerschlagen fühlt. Nach einer ausgiebigen, heißen Dusche rasiert sie sich Achseln, Beine und Intimzone und trägt ihre Lieblingsbodylotion auf, Sanddorn-Orange, mit streichelnden Bewegungen, als liebkose sie ihren Körper. Der Duft umhüllt sie wie ein kostbares Seidentuch. Sorgfältig wählt sie BH und Slip aus, schlüpft in Jeans und Shirt und Socken, Sneakers und Jacke. 

Es ist noch früh, der Kühlschrank leer, und Isabella so unruhig, dass sie es zuhause nicht mehr aushält. Draußen ist es schon warm, obwohl gerade mal März ist. Der Duft des Frühlings vermischt sich mit dem nach Kaffee und geröstetem Brot. Isabella betritt das Café, aus dessen geöffneter Tür die leckeren Gerüche dringen, und sucht sich einen Tisch im Hintergrund. Sie will alleine sein. Nachdem sie einen Milchkaffee bestellt hat, verliert sie sich wieder in ihren Traumbildern, die zunehmend realer werden. Sie ist so versunken, dass sie nicht merkt, wie die Bedienung ihren Kaffee vor sich hinstellt. Die Bilder in ihrem Kopf werden intensiver, aus gesichtslosen Augenpaaren werden Männer und Frauen, die sie kennt, KommilitonInnen, DozentInnen, BesucherInnen des Cafés. Sie alle stehen um Isabella herum, die sich jetzt nackt auf einem der Tische im Café räkelt und sich anschauen lässt, mit einer Handbewegung zum Näherkommen einlädt, und mit einer weiteren, sie zu berühren.

„Darf ich noch was bringen?“ Die Stimme der Bedienung reißt Isabella aus ihren Gedanken. 

„Danke, nein. Ich muss los.“ Isabella zahlt, verlässt das Café und geht mit schnellen Schritten durch die vertrauten Straßen. Atemlos kommt sie bei der angegebenen Adresse an. Auf ihr Klingeln öffnet sich die Tür. Ein älterer Mann, ganz in schwarz gekleidet, das weiße Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, begrüßt sie mit einem Lächeln und den Worten: „Oh WoW, was für ein Körper. Ganz wunderbar, kommen Sie herein, liebe Frau Siemes. Ich bin Leonhardt. Vielleicht können wir uns duzen, was meinen Sie?“

„Ja, gerne. Isabella“, würgt Isabella heraus und spürt, wie ihr der Klang seiner Stimme eine Ganzkörpergänsehaut beschert. 

„So, dann mal rein in die gute Stube.“ Leonhardt geht voraus in einen großen, hellen Saal, in dem Staffeleien aufgebaut sind, in der Mitte ein Art Bett, das mit einem weißen Laken abgedeckt ist. „Das ist dein Arbeitsplatz. Ich zahle 15 E€ für eine Stunde, für Sonderwünsche gibt es natürlich ein erhöhtes Honorar. Eine Sitzung dauert ca. 2 Std. Natürlich mit Pausen. Wenn es dir recht ist, würde ich dich bitten, dich auszuziehen.“ 

Leonhardt reicht Isabella einen weißen Bademantel. „Dort kannst du dich umziehen.“ Er deutet mit der Hand auf eine schmale Tür. 

„Ja, danke“, Isabella durchquert mit weichen Knien den Raum. In der Kammer, die wohl zur Aufbewahrung von Farben, Pinseln, Leinwänden und anderem Material dient, steht ein Stuhl, auf den sie ihre Kleidung legt, Stück für Stück, wie sie es auszieht. Zuerst die Jacke, dann das Shirt, Sneakers, Socken und Jeans, dann den schwarzen SpitzenBH und den dazu passenden Slip. Mit weichen Knien schlüpft sie in den Bademantel, der nach Waschmittel und Rosen duftet, und kehrt zurück in das Atelier.

Leonhardt schaut ihr erwartungsvoll entgegen. Schritt für Schritt geht Isabella auf ihn zu, sich ihrer Nacktheit unter dem Bademantel bewusst. Als das Lager erreicht hat, öffnet sie den Mantel und lässt ihn langsam an ihrem Körper herabgleiten.

„Wundervoll“, sagt Leonhardt. „Kannst du dich bitte hinlegen? Auf die Seite, den Kopf in eine Hand gestützt, ein Bein angewinkelt.“

Etwas zögernd legt sich Isabella hin und nimmt die gewünschte Position ein. Ihr Körper ist heiß, alles an ihm pulsiert. Sie schließt die Augen. Leonhardt geht um sie herum, kommt näher, schaut sie an, von oben bis unten. „Großartig“, sagt er, „du bist genauso, wie Rosa es beschrieben hat. So, wie wir es brauchen. Bleib einfach so liegen, es geht gleich los.“ 

 

9998 Zeichen

Version 3