Von Michael Voß

 

„Das war schön“, höre ich Erikas Stimme an meinem Ohr.

„Ja“, gebe ich zurück.

Wir lösen uns voneinander, schon steht eine Unbekannte vor mir.

„Damenwahl“, sagt sie erwartungsvoll.

Während ich die Frau zu den Takten eines Blues führe, lächelt Erika mir vom Rand der Tanzfläche zu. Ich mag die Endfünfzigerin, die sich jedes Mal riesig freut, wenn ich sie auffordere. Auf West Coast Swing Partys herrscht notorischer Frauenüberschuss und Ladys jenseits der Vierzig werden nicht oft um einen Tanz gebeten – erst recht nicht von Typen, die wie ich altersmäßig ihre Söhne sein könnten.

 

Wow, denke ich. Der Typ hat´s drauf. Wie der sich bewegt – männliche Sinnlichkeit pur. Und dieser Body – schmale Hüften und Schultern wie ein Rugbyspieler. Echt Zucker.

 

Der Blues endet, es folgt ein Swing. Bei einer Drehung streift mein Blick Erika, verhakt sich kurz an ihrer blonden Nachbarin, deren Augen so groß sind …

 

Wie? Hat der tatsächlich MICH angeguckt?

 

Der Swing klingt aus. Ich verabschiede mich und peile unauffällig zu Erikas Nachbarin rüber. Sie lächelt mir zu, offen und warmherzig. Wieso tanzt eigentlich niemand mit dieser hübschen Lady, die ich hier noch nie gesehen habe? Zwischen den Paaren hindurchschlängelnd überquere ich das Parkett, dann stehe ich vor ihr und erstarre.

 

Er steuert tatsächlich auf mich zu! Mein Herz klopft. Mein Verstand sagt mir, dass er gleich abbiegen wird.

Nein, er bleibt stehen! Naaaa? Schade, jetzt geht er weiter. Aber so läuft das nun mal.

 

Ich bin geschockt.

Die Frau hat keine Arme.

Auch keine Hände.

Trotzdem schäme ich mich, wortlos weitergegangen zu sein.

Aber was macht die auch hier? Wie soll das gehen?

Wobei …

 

Oh! Er dreht sich um, kommt auf mich zu.

 

„Hi!“, stottere ich. „Ich wollte dich um einen Tanz bitten …“

„Bis das ABER kam.“

„Ja. Zuerst erschien es mir unmöglich, eine Frau ohne Arme zu führen.“

„Und nach dem zuerst?“

„Hätte ich dich gefragt, ob du … .“

„Ich hätte ja gesagt.“

„Na denn – darf ich bitten?“

 

Verblüfft, dass er das wirklich macht, folge ich ihm aufs Parkett. Der Traum erfüllt sich: Ein Mann tanzt mit mir! Ich beherrsche die Schritte und Drehungen in- und auswendig, doch es ist ein Unterschied, sie solo vor einem Spiegel zu machen oder sich führen zu lassen. Aber es funktioniert. Er berührt mich abwechselnd an Schultern, Hüften und Rücken; er zieht, stoppt und schiebt, immer eindeutige Signale, so dass ich mich ohne Nachzudenken mit ihm bewege und drehe. Ich schwebe – vielleicht nicht im siebten – doch bestimmt im sechsten Himmel.

 

Ich habe schon mit vielen Frauen getanzt, aber Zoe gehört eindeutig zu den fünf Prozent, die es von Natur aus drauf haben. Zwar muss ich aufgrund ihres Handikaps viel improvisieren, aber wir sind sofort im Flow. Beim zweiten Lied, ich kann langsam wieder auf das Drumherum achten, merke ich, wie uns die Leute anstarren – teils befremdet, teils ablehnend, teils begeistert. Vor allem merke ich, was von ihr rüberkommt – unbändige Energie und Lebensfreude.

 

„Danke“, sage ich, als er mich später zur Bar führt, um etwas zu trinken. „Du weißt nicht, was es mir bedeutet.“

„Wohl kaum. Aber dein Gesicht spricht Bände“, sagt er und streckt mir die Hand hin: „Gary.“ Sofort wird er rot. „Sch…, äh, wie peinlich.“

„Überhaupt nicht“, lächele ich. „Ein Zeichen, wie normal du mich empfindest. Ich bin Zoe.“

 

„Verrätst du mir …“

 

„Ein Unfall. Und nein, ich kann mich nicht erinnern, ich war noch ganz klein.“

 

„Äh, ich wollte eigentlich wissen, wieso du ohne Begleitung hier bist.“

 

„Ich bin mit Erika hier. Sie ist Betreuerin in der Einrichtung, wo ich wohne.“

 

„Nein, ich meinte: Wieso ohne männliche Begleitung zum Paartanz. Weil, sorry, aber ich denke, bei deinem Handikap traut sich wohl kaum einer, mit dir zu tanzen.“

 

„Einer hat sich getraut. Noch dazu einer, der ´s kann.“

 

Ihre Augen funkeln belustigt. Ich greife nach meinem Sodawasser und sehe zu, wie sie genüsslich ihren Tequila Sunrise durch einen Trinkhalm zieht. Voll im Hier und Jetzt, denke ich. Aus den Boxen klingt nun „You can leave your hat on“ von Joe Cocker.

„Ich traue mich auch nochmal“, sage ich.

 

„Solange du mich nicht vor allen Leute ausziehst!“, lacht sie, rutscht von ihrem Barhocker und macht sich auf den Weg zur Tanzfläche. Ich folge hier. Die Beine sind der Hammer, denke ich unwillkürlich. Und nicht nur die. Mein Blick fährt über den runden Po in den hautengen Leggins, verweilt dann an der Rückenschnürung des kurzen Bauchfrei-Tops. Sie hat den selbstbewussten Gang einer Königin und den straffen Body einer Fitness-Trainerin. „Wieso sollte ich dich ausziehen? In dem Lied macht die Frau das selbst“, sage ich, als wir auf dem Parkett sind. Ihre Lippen sind an meinem Ohr. „Weil ich mich nicht alleine ausziehen KANN!“, sagt sie mit rauchiger Stimme. Ich lege die Rechte auf ihren Rücken. „I´ll take off your dress“, antworte ich und zupfe kurz am Saum ihres verführerischen Oberteils. Dann drehe ich sie mit dem Rücken zu mir, lasse meine Hand dicht unterhalb ihres Bauchnabels rutschen, ziehe sie sacht an mich. Wir tanzen auf der Stelle, mit langsamen Bewegungen, sehr hüftbetont. Ihr Po drückt sich gegen meine Lenden, deutlich. Mir wird heiß. Ich drehe Zoe wieder vor mich, bevor sie merkt, dass meine Hose zu eng wird.

 

Ich atme schwer, fühle den Schweiß am Hals herunterrinnen, seine Hand auf meiner Haut, seinen Atem auf meiner Wange. Mit geschlossenen Augen gebe ich mich der Musik und seiner Führung hin, spüre die kleinen, wie zufällig-streifenden, immer zum Liedtext passenden Berührungen. Es macht mich an. So richtig.

Wo soll das enden?, frage ich mich und kenne zugleich die Antwort. Ich öffne die Augen, schenke Gary meinen tiefsten Blick. Die Sehnsucht steht ihm ins Gesicht geschrieben, er schaut nur mich an. Unglaublich: Ein ganz normaler Mann (und kein Perverser) begehrt mich. Zum ersten Mal in meinem dreißigjährigen Leben. Ich spüre, wie ich feucht werde.

Das Lied endet. Schade, dass ich nicht seine Hand fassen und ihn einfach mitziehen kann.

 

Was hat sie, was mich so magnetisch anzieht? Ihr Blick berührt mich tief in meinem Inneren, befeuert ein wohliges Gefühl im Unterleib. Alles verschmilzt mit dem Wunsch, sie zu umarmen, sie zu spüren, überall. „Mir ist warm“, sage ich. Sie nickt. Mit der Linken auf ihrer Lendenwirbelsäule führe ich Zoe zur Bar am Rande des Saales.

 

Der zweite Tequila Sunrise rinnt meine Kehle hinunter, schmeckt nach Paradies. Gary dreht sein Glas zwischen den Fingern, ringt offenbar mit sich. Was mache ich jetzt bloß? Schräg gegenüber sehe ich Erika, die uns wohlwollend beobachtet. Sie deutet eine Bewegung an, ich verstehe. Sanft lehne ich mich an Garys Schulter, bringe meine Lippen an sein Ohr. „Bringst du mich nach Hause?“

 

Es gibt tausend Fragen.

Und trotzdem nichts zu überlegen.

„Gern“, sage ich.

 

Sie räuspert sich. „Erika hat meinen Schlüssel.“

Erika lächelt wissend, als sie mir eine Keycard in die Hand drückt.

Ich führe Zoe zur Garderobe, hänge ihr den ärmellosen Blazer um. Das Zuknöpfen fühlt sich befremdlich an. Ins Auto kommt sie mühelos allein, ich brauche ihr nur die Wagentür aufzuhalten. Als ich ihr den Gurt anlege, ist das Befremden vorbei.

 

Ich bin aufgeregt: Der Mann, den ich will, fährt mich nach Hause.

 

Beim Fahren muss ich mich echt konzentrieren. Mein Herz pocht, in meinem Unterleib pulsiert es und zwischen den Beinen – lassen wir das. Angekommen, helfe ich Zoe aus dem Wagen. Die Keycard entsperrt die Haustür. Im Aufzug ins Obergeschoß. Meine Hand zittert, als ich die Tür zu ihrer Wohnung öffne.

 

Drinnen ist es dunkel. Zoe schnalzt mit der Zunge und sagt: „Lumos!“

Warmes, sanft gedämpftes Licht flammt auf.

Überrascht drehe ich mich zu Zoe.

„Sprachsteuerung finde ich richtig gut“, sagt sie lächelnd. „Leider kann sie nicht alles. Hilfst du mir aus dem Blazer und den Schuhen?“

 

Hier, in meinem Zuhause, wirkt Gary vorsichtig, fast ein wenig gehemmt.

„Möchtest du etwas trinken?“, frage ich daher und gehe in die Küche.

Er ist mir gefolgt, wirkt etwas unschlüssig.

 

In meinem Bauch flattert es mehr denn je, aber im meinem Kopf dreht sich alles.

Sie ist zauberhaft, sie ist sinnlich und unendlich anziehend.

Und eben war auch noch alles klar.

Aber jetzt – ich kann doch nicht einfach mit einer …

 

Ich setze mich auf den Tisch.

Gary steht kurz vor mir, immer noch leicht irritiert.

„Äh …“

Ich lege erst eine, dann beide Fersen auf seinen Rücken, in Gürtelhöhe. Suche seinen Blick. Sehe seine Unsicherheit, seine Zuneigung, sein Begehren.

Warten.

Hoffen.

Als die Unsicherheit zu schwinden beginnt, ziehe ich ihn an mich.

 

Dem sanften Druck nachgebend, stehe ich nun zwischen ihren Schenkeln, spüre, wie sich ihr Unterleib gegen die Wölbung unterhalb meines Hosenbundes drückt.

Langsam beuge ich mich vor, bis unsere Lippen sich treffen.

 

Endlich küssen wir uns, süß, salzig, verlangend. Seine Linke hält mich im Rücken, seine Rechte bahnt sich einen Weg unter mein Oberteil, erkunden behutsam meine Rundungen. „Trag mich ins Schlafzimmer“, wispere ich.

 

 

Sonnenlicht weckt mich. Ich bin allein im Bett – Gary ist wohl irgendwann gegangen.

Doch nur ein One-Night-Stand.

Dennoch bin ich selig: Keine Stunde mit einem Callboy wie sonst, sondern eine Nacht mit einem Mann, der mich wirklich begehrt hat.

Das erste und wahrscheinlich letzte Mal in meinem Leben.

Ich atme, nehme das Gefühl tief in mir auf.

Jetzt dringt der Duft von Kaffee in meine Nase. Erika? Um diese Zeit?

Ich gehe zur Küche.

Auf dem Tisch: Croissants.

Daneben: Gary!

 

 

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