Von Sonja Ziegler

Ein frostiger Montagmorgen. Die Frau hatte wie immer den Bus um 7:04 Uhr genommen, der sie zu ihrem Arbeitsplatz brachte. Wie gewohnt setzte sie sich auf den Fensterplatz gleich neben der Tür hinter die verglaste Plakatwand, drückte sich die Ohrstöpsel ihres iPods in die Ohren, ließ sich von ihrer Lieblingsmusik berieseln und versuchte, das Geplapper der anderen Fahrgäste auszublenden.

 

In Gedanken war sie schon bei ihrem Meeting, das für 9:00 Uhr angesetzt war. Die Abneigung vieler Menschen gegen die öffentlichen Verkehrsmittel konnte sie überhaupt nicht nachvollziehen. Sie genoss es, völlig stressfrei zur Arbeit chauffiert zu werden. Wie hypnotisiert ließ sie das geschäftige Treiben auf den Straßen an sich vorbeiziehen. Der perfekte Start in ihren hektischen Arbeitsalltag! Auf dem Marktplatz hatten sich bereits ein paar Rentner vor den Gemüseständen eingefunden. Hatten die nichts Besseres zu tun?

 

Routiniert drückte sie kurz vor dem Ausstieg den Stopp-Knopf, um dem Fahrer ihren Haltewunsch anzuzeigen, und stellte sich gleich an die Tür, die Haltestange immer fest im Griff. Sie stieg immer als Erste aus, wollte nicht von verschlafenen Fahrgästen in ihrem Elan ausgebremst werden. Die Tür öffnete sich mit einem lauten Stöhnen und die Frau machte einen großen Schritt Richtung Gehweg, aber ihre Hand wollte sich nicht von der Haltestange lösen. Sie fuhr herum und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes. Seine blauen Augen strahlten sie an und mit einem breiten Grinsen gab er ihre Hand frei.

„Idiot!“, dachte die Frau und beschleunigte ihren Gang. Der junge Mann folgte ihr, wechselte aber die Straßenseite. Als die Frau wenig später im Büro ankam, hatte sie den Vorfall bereits vergessen.

 

Am nächsten Morgen tauchte er wieder auf. Von ihrem Fensterplatz aus sah sie ihn schon von Weitem auf die Haltestelle zukommen. Er war spät dran, schlenderte aber trotzdem ganz gemütlich auf den Bus zu. Der Fahrer hatte den Motor schon gestartet und wollte gerade die Türen schließen, als der junge Mann im letzten Moment in den Bus hineinsprang – was für ein Timing! Er setzte sich drei Reihen hinter sie, während sie bemüht gleichgültig aus dem Fenster starrte. Als sie sich wieder nach vorn wandte, schaute sie direkt in sein Gesicht, das sich in der verglasten Plakatwand spiegelte. Ihre Blicke trafen sich, er lächelte ihr zu, eine Hitzewelle schoss durch ihren Körper.

„Was will der Typ von mir?“, dachte die Frau. „Wie alt mag der wohl sein?“ Sein Alter war schwer zu schätzen, aber egal, wie sie es drehte und wendete, der junge Mann hätte ihr Sohn sein können.

 

Wieder stiegen sie an derselben Haltestelle aus. An der Tür stand er dicht hinter ihr und sie spürte seinen warmen Atem in ihrem Nacken, inhalierte den würzigen Duft seines Rasierwassers. Wie am Tag zuvor legte er seine Hand auf ihre und sie ließ ihn gewähren. In der letzten scharfen Kurve wurden ihre Körper gegeneinander geschleudert. Das passierte ständig im morgendlichen Gedränge. Gemeinsam traten sie ihren Fußweg an, er immer ein paar Meter hinter ihr. Das Industriegebiet erwachte nur langsam aus seinem Tiefschlaf, die meisten Fenster der Bürogebäude waren noch verdunkelt, die Hauseingänge verwaist, nur wenige Menschen unterwegs zur Arbeit.

„Was wäre, wenn er mich jetzt anspricht?“, dachte die Frau und ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt. Wie sollte sie reagieren? Was wäre, wenn er …

 

Sie spürte seine Blicke auf ihrem Körper. Tastend. Sie zerrten an ihren Kleidern, entblößten sie. An der letzten Abbiegung beschleunigte er seinen Schritt, zog an ihr vorbei, streifte dabei sanft ihre Schulter, und einen winzigen Moment lang vermischten sich ihre Atemwölkchen in der eiskalten Winterluft. Sie keuchte, als sie ihren Arbeitsplatz erreichte, und blieb noch eine Weile am Fenster stehen, starrte apathisch in die Dunkelheit, bis sich ihr Herzschlag wieder normalisiert hatte.

 

Tage wurden zu Wochen. Wochen zu Monaten. Die Frau gefangen in einer Zeitschleife:

Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr springt auf die Vier.

Der Busfahrer startet den Motor.

Der junge Mann hüpft in den Bus.

Ihr Herz schlägt einen Salto Mortale.

Dann der stumme Blickkontakt.

 

Ihr Kopfkino lief auf Hochtouren. Wenn er morgens nicht erschien, war der Tag für sie gelaufen. In fiebriger Erwartung guckte sie aus dem Fenster, während Pitbull ihr ins Ohr säuselte: „You know it ain’t love … no baby …“ Das YouTube-Video schaute sie sich fast täglich auf ihrem Rechner an. Es war doch ihr Song …

„Sei still!“, schimpfte die Frau. „Ich weiß doch, dass es keine Liebe ist!“

Aber was ist es dann? Nur ein Farbtupfer im grauen Alltagstrott? Ein großes Missverständnis? Oder kündigte sich so etwa die erste Midlife-Crisis an?

 

Der Abschied jeden Freitag traf sie immer wie ein Fausthieb in den Solarplexus. Das Wochenende schleppte sich dahin, so dröge wie ein Einkauf im Baumarkt, der Montagmorgen ein rauschendes Fest! Die nicht enden wollenden Tage ohne ihn waren nur schwer zu ertragen. In ihrem Herzen tobte ein Orkan. In ihren Adern floss ein scharlachroter Cocktail aus abgrundtiefer Verzweiflung, taumelnder Glückseligkeit und Schuldgefühlen. Ihr Kopf ein Perpetuum mobile.

 

Nachts träumt sie von sinnlichen Übergriffen in dunklen Hauseingängen. Seine heiße Zunge auf ihrem Hals. Sein Knie, das sich fordernd zwischen ihre Schenkel drängt. Der kurze Rock hochgerissen bis zum Bauchnabel. Sie presst ihre Wange an die kalte Hauswand, unterdrückt einen Schmerzensschrei, als ihre Brustspitzen hart über die raue Hausfassade schrammen.

 

Lustgeschwängert und sturmgebeutelt erwachte sie. Der Mann an ihrer Seite ahnte nichts von ihren Seelenqualen, war aber allzeit bereit, die aufkommenden Turbulenzen mit ihr gemeinsam durchzustehen.

„Was ist eigentlich los mit dir? Warum bist du denn so aufgekratzt in letzter Zeit?“

„Ach, das sind nur die Hormone …“, murmelte sie und zuckte mit den Schultern.

 

Es ist Messe in der Stadt, der Bus gerammelt voll. Der junge Mann springt wie immer im letzten Moment in den Bus. Die Frau hat ihren Rucksack auf den Sitz neben sich gestellt.

„Ist der Platz noch frei?“, fragt er und grinst. Sie lächelt ihn an, das Blut schießt ihr ins Gesicht. Genau so hat sie sich seine Stimme immer vorgestellt. Sie stellt den Rucksack auf den Boden und er rutscht zu ihr auf die Sitzbank. Schulter an Schulter, Schenkel an Schenkel, Feuer und Flamme. Sie zieht ihre Handschuhe aus und knöpft ihren Mantel auf. Die Zeit läuft … Nur vierzehn Minuten dauert die Fahrt. Ihre Gedanken schlagen Purzelbäume. Was mag jetzt in seinem Kopf vorgehen? „Sag doch was …“, denkt die Frau und gleich danach: „Nein, sag bloß nichts! Es könnte das Falsche sein …“

 

Seit fast einem Jahr waren sie nun schon ein Paar – und sie kannte nicht mal seinen Namen … 

 

V2 – 6.815 Z