Von Wiebke Siemchen

 

Ein großer Mann, schwarze Haare, schlank. Mit schwankendem Gang. Mit großen Händen und einem kleinen Bierbauch. Er hat zu Hause ein Bienenvolk, ein Reihenhaus und einen Job mit Geld, mit dem er noch nichts anfangen kann, vielleicht irgendwann. Er liebt Spiele und hält sich für einen besseren Verlierer als er ist. Er hält sich für besser im Vergessen als er ist. Wahrscheinlich versucht er gerade, uns zu vergessen.

 

Es ist Nacht, 0 Uhr, Schichtwechsel auf dem kleinen Segelboot. Die einen warten schon seit 2 Stunden sehnsüchtig auf ihren Schlaf, die anderen sind gerade aufgewacht. Bereit zu übernehmen. Darunter ich und Paul. Paul und ich. Wir haben die gleiche Jacke, fast die gleiche, meine ist mir nur zu groß. Paul fragt mich, ob ich steuern will, er würde dann Ausguck gehen. Bevor ich nein sagen kann, ist er schon vorne am Bug. Ich frage mich, woher wir uns kennen.

 

320 Grad, Kurs halten. Der Zeiger schwingt auf 317, 315, schnell lenke ich ein, nicht zu abrupt, wie ich es gelernt habe. Plötzlich sind es 310, 300. Noch stärker lenke ich nach links, was ist los? Warum geht es immer weiter und nicht zurück? Müsste ich doch nach rechts lenken? Aber was, wenn rechts ganz falsch ist und wir dann kentern? Mein Puls rast, meine Arme zittern, ich beginne zu rufen: „Paul? „Paul!“ „Hallo?“

Ich drehe das Rad nach rechts, mir fällt nichts anderes ein, diesmal nur leicht. Aber die Anzeige sinkt weiter, jetzt sind wir bei 290, 285. Wie kann das sein? Ist der Regler kaputt? „Paul?“ „Hallo, ich kann das jetzt nicht einstellen! Ich weiß nicht mehr, wie das geht!“ Mein Puls rast. Soll ich einfach das Lenkrad loslassen und ihn holen? Ob ich falsch drehe oder loslasse ist egal. Aber was ist, wenn wir wirklich ungewollt halsen, wenden und dann in gefährliche Schräglage geraten? Warum kommt keiner von alleine? Merken die anderen unter Board nicht, wie wir immer mehr Schlagseite bekommen? Plötzlich steht jemand neben mir. Er fragt: „Wie viel waren es? 320?“ „320“, antworte ich atemlos. Paul dreht das Rad ein, mit zwei langen Schlägen bringt er es auf Anschlag. Sekunden später sind wir wieder auf Kurs. Ich atme aus, den Tränen nahe. Freundschaftlich nimmt er mich in den Arm, alles in Ordnung. „Ein bisschen Krängung ist nicht wild. Ich lass dich jetzt nicht alleine am Steuer.“

 

Ein paar Nächte später ist Tanzabend, in einer Bar am Hafen. Keine gute Bar, aber es reicht. Ich bewege den Kopf, die Hüften. Wir schaukeln wie auf hoher See. Ein großer Mann, schwarze Haare, schlank. Steht lässig an die Bar gelehnt, spricht mich an: „So tanzt man nicht. Das ist ein Disco-Fox.“ Wir tanzen. Lehnen uns aneinander. Die Umarmung kommt mir bekannt vor.

 

Mittwoch. Sonnentag, wir tauchen und reinigen mit Bürsten denn Schiffsrumpf. Jemandes Fuß berührt meinen unter Wasser. Es ist dunkel im großen Schatten des Schiffes. Ich tauche unter, das Wasser ist kühl. Unsere Hände berühren sich. Ich bekomme nicht mehr viel Luft. Zwei Gestalten im Dunklen. Ein Kuss.