Von Marianne Apfelstedt

Ich lösche das Licht und warte einen Wimpernschlag, bis sich meine Augen mit der Dunkelheit vertraut machen. Siegessicher befeuchte ich mit der Zungenspitze meine Lippen und öffne die Tür zum Schlafzimmer. Mit dem Handy in der Hand trete ich ins Zimmer. Kilian liegt im Bett einen Schnellhefter in den Händen. Mein Finger tippt auf das Display, bevor ich das iPhone auf den Sessel in der Ecke ablege. Die ersten Töne von „You Can Leave Your Hat On“ erklingen. Er hebt seinen Kopf.

„Mach die Musik nicht so laut, ich muss arbeiten.“ Kilian schiebt seine Brille zurecht und starrt wieder auf seine Papiere. Ich stelle mich drei Meter vor dem Bett in Pose, schließe die Augen und fokussiere mich auf die Musik. Meine Hüften wiegen sich im Rhythmus. Seidenglatt rinnt mein Haar die Schultern hinab, ich beuge mich nach vorne, bis die Haarspitzen knapp über dem Parkett wippen. Fühle den Blues des Saxofons. Meine Mähne schwingt nach hinten. Ich öffne den untersten Knopf des Jeanshemdes und dann jeden weiteren. Das Hemd rutscht zu Boden und enthüllt schwarze Spitze. Meine Hände liebkosen die zarte Haut an Bauch und Dekolleté. Der Gedanke an seinen Duft erhöht meinen Herzschlag und weckt die Sehnsucht, seine Hände zu spüren. Die Muskeln meiner Oberschenkel spannen sich an, die Hüfte kreist und meine Rechte gleitet unter den Slip. Ich hebe den Blick und sehe in seine Augen, die sich wissend weiten und meinen Händen folgen. Die andere streicht nach oben über den Hals und zu meinen Lippen. Jetzt habe ich seine volle Aufmerksamkeit, der Hefter rutscht achtlos zu Boden.

In den Sekunden, bis der Song ein weiteres Mal beginnt, knie ich mich auf den Bettrand. Katzengleich bewege ich mich auf ihn zu, nehme seine Brille ab und lege sie behutsam auf das Schränkchen neben dem Bett. Er setzt sich auf und ich ziehe ihm sein Shirt aus, drücke ihn wieder zurück auf das Kissen.
Auf seinem Schoß sitzend erkunde ich seine muskulöse Brust mit Lippen und Zunge. Unter seinen Boxershorts erwacht sein Begehren und ich genieße es. Meine Hände verschränken sich mit seinen, zwingen ihn zur Reglosigkeit. Seine erzwungene Zurückhaltung entfesselt mein Verlangen, törnt mich an. Machtvoll sexy. Ich sehe ihm in die Augen, er öffnet seinen sinnlichen Mund, den ich bedecke. Unsere Zungen treffen aufeinander und ein Stöhnen dringt aus seiner Kehle, als ich mich an ihm reibe. Ich gebe seine Hände frei und er öffnet den BH, streift ihn von den Schultern und wandert mit seinen Lippen auf meiner Haut. Jetzt bin ich es, die lustvoll stöhnt. Mein Becken kreist, heizt ihm ein, bis wir beide brennen. Er rollt mich neben sich, jetzt verharre ich. Lasse zu, dass er mich erforscht. Spüre seine Lippen auf meinen Brüsten und seine Hand, die sich einen Weg bahnt, direkt zum Ziel. Ein erstes Zucken lässt mich erbeben, ich kneife die Pobacken zusammen, will mehr. Meine Hände wandern zu seinen Shorts, schieben sie nach unten, während er den Spitzenslip herunterstreift. Ich dränge mich ihm entgegen, will jeden Zentimeter spüren. Jeder Stoß treibt mich weiter, bis ich zersplittere und mich neu zusammensetze. Langsam komme ich wieder zu Atem, fühle seine Anspannung, halte ihn, als er sich ermattet auf mich legt. Ich wusste, er kann mir nicht widerstehen.

Fünf Jahre später. Rollentausch.
Ich drehe den Ring am Ringfinger, wieder und wieder. Als Kilian von der Zeitung aufblickt, verharre ich, falte die Hände im Schoß.
„Der Termin bei deiner Psychotherapeutin ist um 11:30 Uhr. Sei pünktlich, sie berechnet jede Minute, die du zu spät kommst.“
„Ich werde pünktlich sein“, flüstere ich. Kilian faltet die Zeitung und legt sie neben dem Teller ab. Er schlüpft in sein Sakko, drückt mir einen Kuss auf den Scheitel, nimmt die Aktenmappe und geht. Ich atme ein und lange aus. Der Knoten im Bauch zieht sich zu. Toast und Tee und Pillen schießen meine Speiseröhre hinauf, ich schaffe es gerade noch zur Toilette. Würge, bis nichts mehr kommt. Schon lange wage ich nicht mehr, bei Übelkeit einen Test zu machen. Schnell beseitige ich alle Spuren meiner Unpässlichkeit. Ich will ihn nicht an seine Mutter erinnern, die sich im Alkohol verlor.

Ich steige eine Haltestelle zu früh aus dem Bus, laufe auf der Sonnenseite des Gehwegs. Seelenbalsam. Auf den Heckenrosen sitzen glänzende Käfer. Verzückt sehe ich ihnen zu, wie sie sich in den Pollen tummeln, goldbestäubt davonfliegen. Ein Signalton meines Handys schreckt mich auf. Mein Termin ist in 15 Minuten. Kilian hat diese Erinnerung eingegeben, wie gut, dass er auf mich achtet.

Eine Stunde später löse ich in der Apotheke unter der Praxis mein Rezept ein. Mit Schachteln beladen verlasse ich die Apotheke. Kaum bin ich draußen, rutscht mir eine der Packungen aus der Hand, als ich mich bücken möchte, reicht mir eine Fremde die Pillenschachtel.
„Bitte schön!“ Zwei strahlend blaue Augen blicken mich freundlich an. Kann das sein?
„Guinara“, rufe ich, und schon zieht mich die Frau in ihre Arme.
„Mensch Silke, mit dem Bob hätte ich dich jetzt fast nicht erkannt.“ Sie schiebt mich ein Stückchen von sich weg und grinst.
„Mein Mann findet kurzes Haar praktischer. Seit wann bist du wieder in Deutschland?“
„Das ist eine längere Geschichte. Hast du Zeit für einen Plauderspaziergang?“
„Sehr gerne. Ich habe heute Nachmittag nichts vor.“ Umständlich packe ich die Päckchen in meine Handtasche, um meine Hände freizubekommen. Wir laufen los in den nahen Stadtpark. Im Gleichschritt, so wie mit fünfzehn, wir teilten unseren Kummer und bekamen beim Laufen wieder einen freien Kopf. Schnelles Gehen nicht mehr gewohnt, bin ich froh, Guinaras Worten zu lauschen. Sie will ihre Kontakte in Deutschland auffrischen und ist seit zwei Wochen zurück. Glücklicherweise kann sie hier als Webdesignerin arbeiten.
„Jetzt erzähl mal. Bist du vergeben, wie heißt er? Komm, wir setzen uns auf die Bank. Du bist nicht mehr so gut in Form wie früher.“ Leider hat sie recht.
„Ja, ich bin verheiratet. Erinnerst du dich noch an Kilian Marbert?“
„Das stille Wasser mit den super Noten in Physik und Chemie?“
„Wir haben vor sechs Jahren geheiratet.“
„Wow, dann hast du bestimmt schon Kinder. Du wolltest immer mindestens drei.“ Bei ihren Worten wird mein Magen zu einem Klumpen Eis und meine Zunge scheint am Gaumen festzukleben. Guinara sieht mich an, zieht eine Augenbraue fragend nach oben und ich kann nur den Kopf schütteln. Guinara legt ihren Arm um mich und streicht mit der freien Hand über meine Wange, plötzlich rinnen Tränen. Sie hält mich im Arm und wartet, bis der Strom versiegt und gibt mir ein Taschentuch.
„Ich kann nicht schwanger werden.“ Es Guinara einzugestehen, macht das Atmen ein kleines bisschen leichter.
„Nimmst du deshalb die Antidepressiva?“
„Ich wurde immer trauriger, kann seit Monaten nicht mehr arbeiten. Ich fühle mich wie ein E-Bike ohne Akku, alles geht so schwer.“
„Weißt du, ob es ein medizinisches Problem gibt?“
„Nein, Kilian ist das nicht so wichtig. Auch unser Liebesleben nicht.“
„Dein Kilian scheint genau zu wissen, was er möchte. Aber was willst du?“
„Ich habe mir Kinder gewünscht. Die schönste Zeit war mein Jahr in Wien als Au-pair, ich bekomme immer noch Briefe von den Zwillingen.“
„Dein Wunsch kann sich noch erfüllen. Frau Dr. Mertens ist eine der besten Kinderwunsch-Spezialistinnen in der Nähe, sie ist diskret, meine Schwester war bei ihr in Behandlung.“

 

Nach dem zweiten Termin bei Frau Dr. Mertens bin ich sicher. Mit mir ist alles in Ordnung. Jetzt muss ich nur Kilian überzeugen, dass er einen Termin bei ihr ausmacht. Sie hat mir geraten, meine Medikamente drastisch zu reduzieren, was sich positiv ausgewirkt hat, ich fühle mich nicht mehr wie in Watte gepackt und bin wieder fitter. Heute Abend werde ich mit Kilian sprechen.

„Ich mache den Salat fertig. Mein Dressing schmeckt sowieso besser. Du wolltest ja duschen. Seit wann gehst du wieder Laufen?“ Ich schmiege mich an seinen Rücken und umschlinge ihn mit den Armen, lass meine Finger unter sein Shirt auf den flachen Bauch gleiten.
„Mir geht es viel besser, liegt sicher an deiner Kochkunst. Du könntest mit unter die Dusche kommen.“ Kilian dreht sich aus meiner Umarmung, schiebt meine Hände von seinem Körper und mich aus der Küche. Meine unausgesprochene Frage schwebt wie eine Sprechblase in der Luft. Mutlos schleiche ich davon. Mitten auf der Treppe schlüpfe ich aus meinen Schuhen, spüre den kühlen Boden, der mich erdet. Jetzt oder nie. Ich gehe zurück, neben dem Schrank warte ich, bis mein Herz langsamer schlägt. Ich spähe um die Ecke in Richtung Küche und sehe etwas Unglaubliches. Mit zitternden Händen zücke ich mein Handy. Kilian hat eine Packung Kamillentee aus dem Regal geholt, den ich nie freiwillig trinken würde. Darin war ein Blister, den ich eindeutig erkenne. Jetzt drückt er eine der kleinen Pillen heraus. Mit einem Löffel pulverisiert er sie, mit der Hand schiebt er das Pulver in ein Rotweinglas, in dem sich schon Eiswürfel, Minzblätter und Zitronenscheiben befinden.
„Was tust du?“ Meine anklagende Stimme durchbricht die Stille. Ertappt steckt Kilian den Blister in die Hosentasche, schiebt das Glas zu dem Zweiten auf der Anrichte und dreht sich lächelnd zu mir um.
„Ich mache unseren Hugo wie jeden ….“ Sein Blick fällt auf das Handy, das ich wie einen Schutzschild vor mir in den Händen halte. Sein Lächeln gefriert, bevor seine Mundwinkel nach unten sinken und eine Falte zwischen den Augenbrauen erscheint.
„Ich habe dich beobachtet. Du gibst heimlich die Antibabypille in meinen Drink!“, klage ich ihn an.
„Das ist nur zu deinem Besten. Wie willst du mit einem Baby klarkommen? Du kannst doch nicht mal für dich selbst sorgen.“
Meine Welt zerbricht wie ein Spiegel. Ich halte mich an einer Scherbe fest, um nicht abzustürzen, spüre den Schmerz, der mich zerschneidet. Ich balle die Fäuste, Wut brodelt, wird zum Wirbelsturm und kittet den Schnitt.
„In 30 Minuten legst du die Schlüssel für mein Haus auf den Tisch und verschwindest aus meinem Leben.“

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