Von Cornelia Bochmann

An einem warmen Juliabend beschlossen Ursula und Günter Weidling, ein bisschen aufs Land zu fahren.
Seitdem ihre Kinder aus dem Haus waren, verliefen die Wochenenden bei Weidlings langweilig. Sie glichen sich im Ablauf dermaßen, dass man meinen könnte, die Zeit wäre stehen geblieben. Besonders Ursula litt unter der Eintönigkeit. Nicht etwa, weil sie keine Einfälle hatte, vielmehr, weil sie Günter schwer begeistern konnte, etwas zu unternehmen. Verbittert dachte sie an die Zeit, in der sie, noch nicht verheiratet, mit Günter durch die Wiesen gestreift war. Später waren sie beinahe jedes Wochenende mit den Kindern unterwegs gewesen.
Nun war nichts mehr dergleichen los. Dass sie sich mit der Zeit immer weniger in leidenschaftlichen Umarmungen fanden, wollte Ursula nicht hinnehmen. Immer öfter hatte sie ihre Gedanken auf Abwegen ertappt. Jedoch, diesmal hatte Ursula es geschafft. Vielleicht deshalb, weil sie Günter vorgeschlagen hatte, doch einmal einen Ausflug in seinen Heimatort zu unternehmen. Obwohl Büllersgrün nicht weit entfernt lag, waren sie nach ihrer Hochzeit nur selten dort gewesen. Ursula erinnerte sich gern an das stille Dörfchen. Es sind besonders die Sommerabende unvergessen geblieben. Sie hatten oft im Rausch des duftenden Heus geendet.
Bei klarer Sommernacht sich lieben im Heu, mit der Gefahr, entdeckt zu werden, hatte einen besonderen Reiz. Oft waren sie am Abend nach dem Baden im nahen See auf dem Heimweg in einem der Heuhaufen unweit des Weges verschwunden. Ihre sonnenwarme nackte Haut hungerte nach Berührung. Die trockenen Halme störten sie nicht. Die hatten sie sich mit ihren Strandlaken vom Leib gehalten.
Ursula wollte Günters Lippen und Hände über jeden Zentimeter ihres Körpers spüren, auch seine Hand zwischen ihren Schenkeln. Begierig nahm Günter von ihrem Körper Besitz. Beinahe rücksichtslos bestimmte er das Tempo, um an sein Ziel zu gelangen. Er hatte sich nicht die Zeit für ein sinnliches Entblättern genommen. Ursula liebte es, wenn Günter sich zielsicher nahm, was er wollte. 

Ursula hatte sich in diesen Momenten gern unterworfen. Sie genoss das Spiel der Eroberung. Sie ließ Günter gewähren, solange sie die Kontrolle über sein Tun nicht verlor und selbst auf ihre Kosten kam. Geschickt lenkte sie seine Hände dorthin, wo sie nach Zärtlichkeiten hungerte. Ursula führte Regie, bestimmte die Melodie und achtete darauf, dass auch Günter nicht zu kurz kam. Mit Händen und Lippen spielte sie sanft die Instrumente.
Günter ließ sich ein auf ihre Melodie und das Duett mit ihr, fast bis zum Finale. Bis ihre Körper nur noch eins wollten. Erst dann hatte Ursula die Kontrolle aufgegeben und sich Günter ohne Einschränkung überlassen.
Den Duft aus einer Mischung der trockenen Gräser, ihrer nach dem Wasser des Sees riechenden Haut und ihrer Begierde hat sie begleitet, wenn sie auf der gemeinsamen Reise zum Gipfel der Lust unterwegs waren. 

Ursula war gespannt, wie sie alles wiederfinden würden. Ob in Büllersgrün die Kirschbäume noch standen? Die mit den knackigen Knorpelkirschen, die sie damals heimlich geplündert hatten? Ob Bauer Lindner seine Pferde noch immer auf die Koppel trieb? Ob die alte Frau Brunner noch lebte? Und Erika? Wohnte sie noch in Büllersgrün?
Gern hätte Ursula ihre Schulfreundin wieder gesehen. Längst hatte sie ihr die Eskapaden mit Günter verziehen, obwohl sie Erika damals zum Teufel gewünscht hatte. Ursula hatte nie herausgefunden, was Günter so an ihr gefesselt hatte. Besonders hübsch war sie nicht, aber Erika musste etwas besessen haben, was sie unwiderstehlich gemacht hatte. Jeder Mann in ihrer Nähe wurde schwach. Ursula hatte sich damals mit Günter eiligst aus dem Staub gemacht, bevor sie ihr gefährlich werden konnte.

Der Abend schien zu halten, was sich Ursula von ihm versprochen hatte. Im alten Dorfkrug gab es noch immer diesen fruchtig frischen Wein und Hausmannskost wie damals. Erinnerungen wurden lebendig, und Weidlings schien es, als wäre ihre Jugendzeit zurückgekehrt.
Günter hatte dem Wein kräftig zugesprochen und war prächtig aufgelegt. So ausgelassen hatte Ursula ihren Mann seit langem nicht erlebt. Ihre Wangen glühten, weniger von ihrem Glas Wein als durch die Tatsache, etwas Glut bei ihrem Günter entfacht zu haben. Ursula konnte die Rückfahrt kaum erwarten, denn sie versprach sich viel von der bevorstehenden Nacht.
Als sie sich auf die Heimfahrt machten, war es bald Mitternacht. Sie bogen von der Hauptstraße ab, um die berauschende Stimmung der Sommernacht in die Stadt mitzunehmen. Plötzlich starb der Motor ihres Wagens ab und ließ sich nicht mehr starten. Alle Versuche, den Benz wieder flottzubekommen, blieben erfolglos. Keiner kam, der hätte helfen können.
Doch sie schienen Glück zu haben. Kaum fünfhundert Meter entfernt, auf einem Hügel, erkannten sie die Umrisse eines Hauses.
„Ein Haus in dieser gottverlassenen Gegend“, freut sich Ursula, „welches Glück!“
Obwohl kein Fenster erleuchtet ist, hoffte Günter, jemanden zu so später Stunde noch wach anzutreffen.
„Bleib’ du hier! Ich mache mich auf, Hilfe zu holen!“

Ursula bleibt im Wagen sitzen, schaut ihrem Mann nach, kann ihn aber bald nicht mehr erkennen. Es ist inzwischen stockdunkel geworden. Als sie sieht, dass das Licht im Haus angeht, ist sie erleichtert. Es wird alles gut, denkt sie, lehnt sich im Sitz entspannt zurück und schließt ihre Augen. Bald würde sie zu Hause in Günters Armen liegen und ihn verwöhnen, wie schon lange nicht mehr. Sie würden sich liebkosen bis zur Besinnungslosigkeit. So wie früher.
Als Ursula ihre Augen öffnet, sieht sie gerade noch, wie Günter das Haus betritt und die Tür sich hinter ihm schließt. Gleich geht es weiter, denkt sie, nimmt Günters Pullover, drückt ihn vor ihr Gesicht und atmet seinen Duft tief ein. Der Geruch nach ihm entführt Ursula in frühere Nächte, in seinen Besitz, in ihre Lust bis zum Abtauchen in die Wogen der Ohnmacht.
Die laue Nachtluft legt sich wie ein leichter Mantel um ihren Körper. Ursula streift ihr T-Shirt ab, zieht Günters Pullover über ihren nackten Oberkörper und macht es sich im Sitz bequem. Es ist ihr, als streicheln Günters Hände sie zart von den Schultern bis hinab über ihre Brüste. Groß und wohlgeformt haben sie im Laufe der Jahre herausgefunden, was und wie Ursula es am liebsten mag. Beim Frühstück danach konnte sie sich an ihnen fast nicht sattsehen. Es kam nicht selten vor, dass sie dann nicht nur seine Hände wollte und beide wieder im Bett landeten.

Die warme, nach Gräsern duftende Luft schleicht sich in Ursulas Gedanken und lässt Erinnerungen an warme Sommernächte wach werden.
Von Anfang an war sie besonders in Günters Hände verliebt. Sein schlanker Körper scheint von Kopf bis Fuß wie gemacht für sie. Wenn er nackt vor ihr steht, genießt sie noch immer seine hochgewachsene Gestalt und den Stolz auf seine Männlichkeit.
Sie hat Günter immer gewähren lassen, solange sie die Kontrolle nicht verlor und beide auf ihre Kosten kam. Mit den Jahren haben sie entdeckt, was ihnen besonderen Spaß macht. Geschickt hat Ursula seine Hände dorthin gelenkt, wo sie nach Zärtlichkeiten hungerte. Mit Lust am Experimentieren hat sie Regie geführt, bestimmte die Melodie und hat darauf geachtet, dass sie sich im Gleichklang wogen. Beide haben sich gern auf Neues eingelassen, wenn es von Behutsamkeit geprägt war … Mit Händen und Lippen spielen sie sanft die Instrumente. Er lässt sich ein auf ihre Melodie und das Duett mit ihr, fast bis zum Finale. Sie gibt die Kontrolle auf und überlässt sich ihm ohne Einschränkung. Jetzt sind sie eins …
Plötzlich schreckt Ursula hoch. War sie eingeschlafen? Wie spät ist es? Ursula glaubt sich zu irren, als sie die Uhrzeit auf dem Display ihres Handys erkennt. Die sich ankündigende Morgendämmerung macht ihr klar, dass sie sich nicht täuscht: drei Uhr morgens. Wo ist Günter?
Verwirrt steigt Ursula aus dem Auto und versucht ihre Gedanken zu ordnen. Als sie sich umsieht, bemerkt sie jemanden, der keuchend auf sie zurennt. Günter ruft schon von Weitem: „Setz dich rein! Hör mir zu! Hör mir bloß zu! Sag jetzt kein Wort!“
Benommen nimmt Ursula im Auto Platz. Bemüht, die Situation zu erfassen, bemerkt sie mit Entsetzen, dass Günter zerzaust und nur mit seinen Shorts bekleidet ist. Er atmet schwer und seine Hände zittern.
„Sag kein Wort! Bitte! Lass dir alles erklären! Es ist eine dumme Sache! Ich weiß, das hätte nicht passieren dürfen!“
Ursula versteht nicht. Weder die Worte, die Günter zwischen seinen Lippen hervorpresst, noch seine aufgeregte Gestikuliererei.
„Damals …, du hast das sicher vergessen! Als wir noch nicht verheiratet waren … Mein Gott, warum musste mir das jetzt wieder passieren?“
„Was, was ist passiert? Bist du okay?“, beruhigt Ursula ihren Günter und nimmt seine Hände. „Komm, erzähle! Du weißt, ich habe für alles Verständnis!“
„Du kannst dich sicher nicht mehr erinnern! … wohnt da oben! Als ich diese Nacht klopfte, brauchte es nicht lange!“
„Was, ich verstehe nicht! Was brauchte nicht lange?“
„Du kannst dich sicher nicht mehr erinnern!“
Ursulas Herz schlägt bis zum Halse.
„Versteh’ doch, als ich jetzt vor ihr stand … plötzlich war es wieder da … alles war wieder da, so wie damals! … so wie früher … immer noch, Erika … wie eine Hexe! Ich bin schwach geworden … wieder … nach so vielen Jahren! Ich verstehe es selbst nicht! Aber du, du wolltest unbedingt hierher!“
Günter versteckt sein Gesicht hinter seinen großen Händen. Er merkt nicht, wie Ursula die Autotür hinter sich zuknallt. Als er aufschaut, erkennt er in der Ferne schwach die Umrisse seiner Frau.

 

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