Von Helmut Blepp

 

Es schien Georgette immer noch wie ein Traum, plötzlich eine Millionenerbin zu sein. Aber jetzt stand sie wirklich vor Goth House, dem Landsitz ihrer verstorbenen Tante Hester.

Sie benutzte den Türklopfer, und kurz darauf öffnete eine stämmige Mittdreißigerin mit einem strahlenden Lächeln.

„Herein! Herein, Mrs. Hard!“, rief sie überschwänglich. „Ich habe Sie bereits erwartet.“

„Dann müssen Sie Odile sein, nicht wahr?“

„Ja, das bin ich, Madame. Haushälterin, Köchin und Gesellschafterin Ihrer lieben Tante. Es tut mir so leid, dass sie von uns gegangen ist.“

Sie hielt kurz inne, war mit ihren Gedanken wohl ganz woanders, doch dann besann sie sich.

„Kommen Sie doch herein, Madame! Nehmen Sie im Salon Platz. Ich werde Ihnen gleich den Tee servieren.“

Sie führte Georgette in den gemütlichen Wohnraum, den ein mannshoher Kamin beherrschte, und bot ihr einen ausladenden Sessel an, von dem aus sie unweigerlich auf das breite Kaminsims schauen musste. An zentraler Stelle stand da ein Glassturz auf einer Mahagoniplatte und darunter das … Objekt.

Mr. Goodly hatte sie vorgewarnt, aber der Anblick war dennoch befremdlich. Dieses Ding also sollte ab nun ihre Tage begleiten. So hatte Tante Hester es verfügt. Neben der Weiterbeschäftigung von Odile war es die einzige Bedingung gewesen, an die das Erbe geknüpft war.

Dann sei es so, dachte Georgette ergeben. Ich werde mein restliches Leben mit einem Penis auf dem Kamin verbringen.

Sie erhob sich und ging näher an den Phallus heran. Rosa die Haut, sehr gerade gewachsen, von stattlicher Länge. War das Ding aus Gummi? Es sah so echt aus.

„Er ist … authentisch“, beantwortete Odile, die lautlos mit dem Teetablett hereingekommen war, die nicht ausgesprochene Frage. „Es handelt sich um Mr. Finch, einen guten Freund Ihrer Tante.“

„Und was hat es mit diesem Mr. Finch auf sich, dass meine Tante darauf bestanden hat, ihm diesen Ehrenplatz zu erhalten?“

„Nun, Ihre Tante war alleinstehend. Sie hatte viele gute Freunde. Und für alle ist gesorgt.

„Alle?“, fragte Georgette verwirrt.

„Ach, Sie wissen gar nicht“, stellte Odile fest. „Wie auch? Ich Dummchen habe ja noch gar nichts erklärt.“

„Dann tun Sie das doch, bitte!“

„Das Kaminsims ist gar nicht nur der Stammplatz von Mr. Finch. Die Ausstellungsstücke werden nämlich monatlich ausgetauscht, damit jeder zu seinem Recht kommt. Das hat mir Ihre Tante ausdrücklich aufgetragen.“

Sie setzte das Tablett auf einem Beistelltisch ab und forderte die neue Hausherrin auf, ihr in eine Nische des Salons zu folgen, in der ein unscheinbarer Eichenschrank stand. Schwungvoll öffnete sie die beiden Türen, woraufhin die Beleuchtung des Innenraums anging, der einen bizarren Anblick bot.

Auf sechs Regalbrettern standen da Penisse in allen Variationen, lange und kurze, dicke und dünne, krumme und gerade, die Haut in allen natürlichen Farbschattierungen. Eines der Objekte war so lang, dass es liegend präsentiert werden musste.

Georgette starrte ungläubig darauf.

Odile folgte ihrem Blick und erläuterte lächelnd: „Ihre Tante hat ihn Grobius genannt. Seinen wahren Namen hat sie nie verraten.“

„Diese Verrückte hat mir über hundert Schwänze vererbt. Ich fasse es nicht! Und womit habe ich es da überhaupt zu tun? Sind das etwa Abgüsse? Dildos?“

„Nein! Nein“, beeilte sich Odile, zu widersprechen. „Das … sind die Herren, verstehen Sie? Ihre Tante hat sie unsterblich gemacht.“

Sie hob ein recht unscheinbares Objekt hoch und reichte es Georgette, die es mit spitzen Fingern entgegennahm.

„Es sind Kunstwerke aus Natur und Technik“, erklärte Odile weiter. „Niemand könnte erklären, wie sie das geschafft hat. Auch nicht ihre Kollegen an der Universität. Sie war ja Biologin, wissen Sie, hat aber auch viele Jahre mit Kybernetik und KI experimentiert.“

Georgette betrachtete den Penis von allen Seiten. Als sie ihn auf den Kopf stellte, bemerkte sie unter dem Holzsockel, auf den er montiert war, ein Namensschild, das den Besitzer als Chat Evers auswies, und einen kleinen Schalter. Neugierig geworden, wollte sie ihn betätigen, doch Odile riss ihr das Objekt förmlich aus Hand.

„Um Himmels Willen, nicht jetzt, Madame! Und doch nicht hier!“

Sie stellte den Penis schnell zurück an seinen Platz und schloss den Schrank.

 

Ihre erste Nacht im neuen Heim verbrachte Georgette lange schlaflos. Immer wieder gingen ihre Gedanken zurück zu den Ereignissen des Tages, die sie doch stärker beeindruckt hatten, als sie vor sich selbst zugeben wollte. 

Ihr letztes Zusammensein mit einem Mann war schon länger her, noch vor der Scheidung von Steven, ehe sie gewusst hatte, auf wie viele Sekretärinnen und Assistentinnen in der Bank er seine Gunst zu verteilen neigte.

Über solcherlei Grübeleien schlief sie letztlich doch ein und hatte einen völlig surrealen Traum …

… sie läuft verloren durch eine unbekannte Stadt. Alle Passanten strömen in eine Richtung. Sie schließt sich an und vernimmt das sich nähernde Getöse von Marschmusik. Sie stellt sich an den Straßenrand und erblickt fassungslos eine lange Prozession von strammen Phalli, die sich auf ihren Hoden gemächlich wie auf Stummelbeinchen vorbeibewegen. Sie gehen steif, meist kerzengerade, einige aber auch nach vorne gekrümmt, als müssten sie sich gegen einen Sturm stemmen. Die zurückgezogenen Vorhäute tragen sie wie Kragen, ihre Eicheln sind stolz erhoben und glänzen in der Sonne wie Glatzen mit Mittelscheitel. Aus ihren Reihen schallt ein sich unermüdlich wiederholender Chor. „Georgette!“, rufen sie immer wieder. „Georgette! Sie lebe hoch“ …

… als sie erwachte, war es bereits später Vormittag. Sie ließ das Frühstück aus und begab sich direkt in den weitläufigen Park von Goth House. Sie traf auf Willie, den alten Gärtner, der sie durch die Treibhäuser führte, und als sie am frühen Abend zurück zum Haus kam, servierte ihr Odile ein köstliches Menü. Danach zog sie sich in den Salon zurück, um einen Sherry zu genießen. In einem Anflug von Humor prostete sie Mr. Finch zu. Dann gönnte sie sich ein zweites Gläschen. Und später ein drittes, so dass sie bald die nötige Bettschwere hatte.

Als sie sich erhob, spürte sie leichten Schwindel. Sie blieb kurz stehen und trat dann, einer Eingebung folgend, an den Eichenschrank und öffnete ihn. Ohne wirklich zu wählen, griff sie einen Penis aus dem Angebot. Henry Silva, stand auf dem Sockel. Henry also, dachte sie. Warum eigentlich nicht?

 

Sie hätte es später nicht erklären können. Alles ging viel zu schnell. Im Negligé auf der Bettkante wog sie den Penis in der Hand. Ein kurzes Zögern, dann drückte sie entschlossen den Knopf im Sockel …

… Henry war ein Schwätzer. Er redete sogar beim Küssen, und als er endlich auf ihr lag, kommentierte er jede seiner Bewegungen mit lobenden Worten. Sie war völlig entnervt, obwohl sie doch eigentlich im Innern glühte und sich in einen Lavastrom verwandeln wollte. Henry feuerte sich nun an, wollte es wohl zu Ende bringen. Er jauchzte immer lauter und unkontrollierter. Da wurde es ihr zu viel. Kurz entschlossen warf sie ihn auf den Rücken, schwang sich auf ihn, und startete mit angespannten Schenkeln einen wilden Ritt, während sie ihm mit beiden Händen den Mund zuhielt. Das ging ihr durch und durch …

… am Morgen brachte sie Henry verstohlen zurück in den Schrank. Aber Nacht für Nacht schlossen sich nun weitere Begegnungen an …

… der krumme Frank nahm sie ohne viel Federlesen. Er war ruppig, als befänden sie sich in einer Rauferei und beschimpfte sie dabei. Doch als er kam, krallte er sich verzweifelt in ihren Hintern. Danach barg er seinen Kopf zwischen ihren Brüsten und weinte bitterlich …

… mit Marcel begann es spielerisch. Seine niedliche Eichel war mit ihrer prallen Klitoris auf Augenhöhe. Sie umschmeichelten einander ohne Vollzug. Ihr Begehren war elementar, aber hoffnungslos, denn er begab sich nicht in ungewisse Situationen und Körper. Sein Samen salbte nur ihre Hand …

… als sie eines Morgens früher als sonst mit ihrer aktuellen Trophäe zurück in den Salon schlich, bemerkte sie, dass einer der Mahagonisockel leer war. Leonard war verschwunden. Da huschte auch schon Odile herein, die schuldbewusst etwas hinter ihrem Rücken versteckte.

„Mrs. Hard“, stotterte sie. „Ich…ich wollte…wissen Sie…immer schon…mit einem Künstler zusammen sein.“

Vorsichtig stellte sie das Kleinod zurück auf seinen Platz.

„Ein Maler, ich weiß“, bestätigte Georgette, und eine leichte Röte färbte ihre Wangen, als sie sich daran erinnerte, was Leonard alles mit den Pinseln anzufangen wusste, die er immer bei sich trug.

 

Georgettes Nächte waren nun ein bunter Reigen voller Leidenschaft. Da war der Quickie mit dem französischen Tennisspieler, der meditative Marathonakt mit dem indischen Fakir und der pflichtschuldige Kollegen-Sex in Missionarsstellung mit dem in jeder Hinsicht steifen Romanistik-Professor. Und viele andere. Manchmal tauschte sie ihre Erfahrungen mit Odile aus, und mit der Zeit entstand daraus eine innige Freundschaft, die keine Geheimnisse kannte.

 

Mr. Goodly kündigte sich eines Nachmittags an, um einige Papiere unterschreiben zu lassen. Odile führte ihn in den Salon. Er vermied jeden Blick auf das Kaminsims und wandte sich sofort Georgette zu, um ihre Hand zu küssen. Sie bot ihm einen Platz am Teetisch an.

„Wie ich sehe, fühlen Sie sich schon ganz wie zuhause, Madame.“

„Ja, vielen Dank! Ich könnte mir kein gemütlicheres Heim mehr vorstellen.“

Odile trat mit dem Teegeschirr ein. Schwerfällig kam sie an den Tisch und stellte das Tablett so unsicher ab, dass die Tassen auf den Untertellern klapperten. Leise aufstöhnend legte sie dann die Hände in den Rücken und streckte sich.

„Fehlt Ihnen etwas, meine Gute“, erkundigte sich der Notar besorgt, während Georgette schon Tee eingoss.

„Nein, ist alles in Ordnung. Das ist nur vom Grobius.“

„Hoffentlich nichts Ernstes?“

„Halb so wild. Das kommt und geht, wissen Sie.“

Mr. Goodly wusste natürlich nicht. Aber Georgette schielte über ihre Tasse zu Odile, und die beiden Frauen lächelten sich verständnisinnig an.