Von Ursula Kollasch

2007

Gisella Bruja saß auf der Terrasse, im Schatten der Pergola. Von hier aus hatte sie einen atemberaubenden Blick über die herrliche Landschaft.
Die Hacienda Poderoso, im spanischen Kolonialstil erbaut, mit ihren weitläufigen Gärten, erfüllte sie mit Stolz. Einsam gelegen auf einer Landzunge bei Guatapé, war das Anwesen seit Generationen im Besitz ihrer Familie, die in früheren Zeiten Tabak anbaute. Bis ihr Vater in den 80ern das Business änderte und wesentlich lukrativer machte. Indem er Kokasträucher pflanzte, die geernteten Blätter in einer gesicherten Halle zu hochwertigem Kokain verarbeiten ließ und dieses über ein streng geführtes Netzwerk in die Welt exportierte.
Von Kindheit an hatte er Gisella, seine Alleinerbin, auf ihre Position vorbereitet, die sie nach seinem Tod einnahm. Mittlerweile Mitte vierzig, unverheiratet und kinderlos, hatte sie nicht vor, diese Macht jemals mit irgendwem zu teilen.
Sie nippte an ihrem Kaffee, während sie mit unbewegter Miene dem Bericht des Vorarbeiters lauschte, der vor ihr strammstand.
Die Umsatzzahlen waren diesen Monat exzellent, darum schenkte sie Manuel ein Lächeln so dünn wie die Klinge eines Skalpells, ehe sie ihn mit einem Nicken entließ. Doch er zögerte.
„Patrona …Ich muss Ihnen noch etwas sagen. Maria und Juan Perez haben gestohlen. 50g.“
Ihr Gesicht blieb eine Maske aus Elfenbein, dahinter verborgen loderte der Zorn auf.
Gisella entging fast nichts, was um sie herum passierte. Sie wusste auch, dass man sie hinter ihrem Rücken la sierpe nannte, die Schlange. Wegen ihrer kalten, dunklen Augen und der unerbittlichen Härte und Willkür, die jederzeit sprungbereit unter ihrem aalglatten Auftreten lauerten. Der Name störte sie nicht, im Gegenteil, er zeigte, dass die Leute sie fürchteten. Diebstahl allerdings war eine Todsünde. „Bring die beiden her.“
Nach einer knappen Verbeugung eilte Manuel fort.
Kurz darauf kehrte er mit dem jungen Ehepaar zurück. Maria war bleich und zitterte, auch Juan war seine Angst anzusehen. Obwohl sie es besser wussten, hofften sie auf Gnade.
„So, ihr habt also gestohlen?“ Gisellas Stimme klang nachsichtig, aber ihre Augen waren gefrorene Teiche.
Juan setzte zu einer Erklärung über seinen todkranken Vater an, der teure Schmerzmittel brauchte, dass sie nur das eine Mal etwas mitgehen ließen, es nie wieder tun würden.
Doch Gisella war sein Gestammel egal. Sie musste an ihnen ein Exempel statuieren. „Auf die Knie.“
Sie streckte die Hand aus und ihr Vorarbeiter legte seine Waffe hinein. Während Maria sich bekreuzigte und leise schluchzend niedersank, wagte Juan einen letzten Vorstoß: „Patrona, wir haben eine kleine Tochter, Valeria Nella.“ Er zog eine Geldbörse hervor, entnahm ein Foto, das er ihr entgegenhielt. „Mein Vater wird bald sterben, sie hat nur uns … bitte …“  
Gisella betrachtete das Bild des etwa fünfjährigen Mädchens. Schön und zart wie eine Porzellanpuppe, mit Augen so grün wie junge Kokapflanzen. Lippen so rot wie deren Früchte. Und welch üppiges, langes Haar sie besaß, bezaubernd!
„Macht euch keine Sorgen. Ab heute ist sie mein Eigentum.“
Gisella zielte und das Krachen der Schüsse hallte über das Anwesen.

Heute

Ich schrecke hoch aus den seidenen Laken, fröstele, noch in einem der Albträume gefangen, die mich seit meiner Kindheit heimsuchen.
Ich habe nur bruchstückhafte Erinnerungen an mein altes Leben mit meiner Familie. Weiß nicht mehr, wie meine Eltern oder mein Großvater aussahen. Aber ich erinnere mich genau an den Nachmittag, an dem die Patrona mich holte.
Damals saß ich mit abuelo vor unserer Hütte, auf seinem Schoß. Als ein langer, glänzender Wagen vorfuhr, merkte ich, wie mein Großvater erstarrte. Ein Chauffeur öffnete die hintere Tür, eine Dame in einem eleganten Kleid stieg aus. Sie trug einen Spazierstock in der Hand, dessen silberner Knauf eine Schlange zeigte. Er war das Erste, was mir an ihr auffiel, als sie auf uns zuschritten. Der Schlangenkopf.
Der Fahrer zerrte mich von abuelo fort, stieß ihn mit barschen Worten vor sich her in die Hütte, was mich ängstigte und wimmern ließ.
Als die Dame mein Kinn mit dem Stockknauf anhob und unsere Blicke sich trafen, breitete sich in mir Eiseskälte aus. Sie besaß das Gesicht eines Engels, doch die dunklen Augen offenbarten eine schwarze Seele. Ihre Grausamkeit, die hatte ich sofort gespürt. Die Señora bewies sie mir umgehend, weil ich zu weinen begann. „Lass das!“, zischte sie und verpasste mir einen Schlag ins Gesicht, der mich verstummen ließ. Die Welt schrumpfte um mich, meine Kehle war zugeschnürt von einem Knoten aus Angst und Verzweiflung. Nur in meinem Innersten stieß ich weiter tonlose Schreie aus während der Autofahrt.

Wir hielten vor der Villa. Sie führte mich in die Eingangshalle, mehrere Treppen hinauf in ein wunderschönes Turmzimmer mit nur einem Fenster.
»Dies ist dein Zuhause und du wirst es nie wieder verlassen«, sagte die Patrona. „Wie heißt du?“
„Valeria“, flüsterte ich.
„Nein. Ab jetzt heißt du Baby Leaf.“
Erst später verstand ich ihren abartigen Humor, der zu der Wahl des Namens führte.
„Ich will zu papá, mamá und abuelo!“, rief ich, woraufhin sie mir wieder einen Schlag versetzte.
„Deine Familie ist fort, du hast nur noch mich. Halt dich an meine Regeln, dann ergeht es dir gut.“
Die Regeln waren in erster Linie Verbote: Ich durfte nur sprechen, wenn sie es erlaubte. Mein Haar sollte nicht geschnitten werden, es wuchs und wuchs, bis ich es beim Gehen wie eine Schleppe hinter mir herzog und die Hausmädchen Stunden brauchten, es zu waschen und zu kämmen.
Ich erlernte nur das, was der Patrona gefiel, wenn sie mich im Turm besuchte: Singen, das Spiel auf Instrumenten, Vorlesen. Wenn ihr meine Darbietung zusagte, ließ sie mir Geschenke bringen. Stellte ich sie nicht zufrieden, bekam ich den Stock zu spüren …
Genug! Ich öffne die Augen. Die ersten Sonnenstrahlen vergolden mein Gefängnis. Wie ich es verabscheue. Weil es so groß und prachtvoll ist, komme ich mir darin vor wie eine Erbse, die in einer leeren Schmuckkassette hin und her rollt.
Ich wische die düsteren Gedanken beiseite. Was geschah, ist unverrückbare Vergangenheit. Ich lebe in der Gegenwart und muss mich um meine Zukunft kümmern.
Lange fühlte ich in mir diese tiefe Einöde, die sich immer verzehrender in mir ausbreitete, mich lähmte. Bis ich Prince kennenlernte. Er ist Amerikaner, nur wenig älter als ich, wohnt in Florida und arbeitet als Drogenkurier für die Patrona. Ich stand am Fenster, als ich ihn vor drei Monaten das erste Mal unten auf dem Hof sah. Unsere Blicke verbanden sich. Er verliebte sich sofort in mich, wie er mir später gestand. Die Entschlossenheit in seinem anziehenden Gesicht, den blauen Augen und seinem Lächeln schenkten mir Hoffnung. Seine Direktheit gepaart mit charmanter bis unverfrorener Unberechenbarkeit zeigten mir seinen Mut, es befeuerte meinen Freiheitsdrang.
Blind vor Liebe brachte er sich in Gefahr, als er den nächtlichen Aufstieg in mein Zimmer wagte, und tut es seitdem immer wieder. Ich entsinne mich an den Duft seiner Haut, die Hitze, die in mir aufsteigt, wenn er mich berührt und küsst. Die Art und Weise wie er mich fest umarmt, zärtliche Schwüre flüsternd, bevor er sich aus dem Turm wieder abseilt.
Auch wenn er in Florida ist, können wir in Kontakt bleiben. Denn die Frauen, die mich hier oben versorgen, schmuggelten bereits vor Jahren ein Handy in mein Gefängnis, zeigten mir den Umgang damit und öffneten mir so ein Tor zur Welt da draußen.
Sie vergöttern mich, ihr Baby. Einmal hätte die Patrona das Smartphone fast entdeckt, ich konnte sie gerade noch ablenken. Sonst hätte sie meine guten Geister hingerichtet und mich schwer bestraft. Allerdings wird ihre Macht über mich heute Nacht enden.
Es ist alles vorbereitet.
Und Prince hat angekündigt, zu kommen, er will mich mit nach Amerika nehmen. 

Ich höre, wie die Tür aufgeschlossen wird, dann tritt sie ein. Wir mustern uns. Sie ist alt geworden, die Schlange, denke ich. Obwohl ich mich lange vor ihr fürchtete, bin ich jetzt ganz ruhig, recke das Kinn und produziere ein schmallippiges, scharfes Lächeln. Es ist ein geübtes Kunstwerk, dieses Lächeln, von vollendeter Höflichkeit und zugleich so gönnerhaft und verachtend, als würde ich ihr den Kopf tätscheln wie einem Hund. Sie bemerkt es und wird wütend, hebt den Stock, um mich zu züchtigen. Doch damit ist es nun vorbei, ich fange ihren Arm in der Luft ab und ramme ihr zeitgleich eine Spritze in den Hals. Gefüllt mit dem Gift der Diamant-Klapperschlange, das mir Prince beim letzten Besuch mitbrachte.
Ich genieße ihren Schock, wie sich ihre Augen weiten, die Erkenntnis darin. Ohne Gefühlsregung, aber interessiert, verfolge ich den Todeskampf. Sie zittert. Nichts ist zu hören, außer ihrem beschleunigten Atem, dann entfährt ihr ein hässliches, flaches Schnappen nach Luft. Gefolgt von einem stöhnenden Seufzer, bevor sie auf mein Bett niedersinkt.
Ich denke an die zweite Spritze. Die ist für Prince. Er war ein hübsches, vor allem nützliches Werkzeug. Aber nun brauche ich ihn nicht mehr, werde auch nicht in die USA fliehen. Das war nie mein Plan, sondern hier die Geschäfte zu übernehmen. Anfangs gemeinsam mit Carlos, dem Vorarbeiter, den ich ebenfalls verführte und der mir genauso verfallen ist wie Prince. Verblendete Narren! Liebe ist eine Schwäche, der ich nie erliegen werde.
Lächelnd, aber mit eiserner Härte, werde ich die neue Patrona sein, wie es die Alte mich lehrte.
Ich freue mich darauf, mir endlich die Haare auf normale Länge abzuschneiden.
Mein Haus, das Anwesen zu erkunden. Den lächerlichen Spitznamen abzulegen und Valeria zu sein. Keiner soll es mehr wagen, mich Baby zu nennen!
Vielleicht hören endlich auch die nutzlosen Albträume auf.
Die Patrona glotzt mich mit starren Augen an, der Tod hat das Erstaunen in ihrer Miene konserviert. Meine Mundwinkel kräuseln sich.
Was hat sie denn erwartet? Die Kälte schlummerte schon länger in mir, sie hat sich ganz allmählich gebildet. Wie die Eisdecke eines Sees, der im Laufe des Winters zufriert. 

V3  9993 Z