Von Miklos Muhi

Carmen und Giovanni wünschten sich sehnlichst ein Kind, doch umsonst waren die Unsummen, die sie ausgegeben hatten, vergeblich ihr ganzer Reichtum. Die besten Kliniken und die renommiertesten Spezialisten der Welt waren an ihnen gescheitert.

Carmen war mit Giovannis Leistungen unzufrieden, so nahm sie der Reproduktionsmedizin zusätzlich die Hilfe ihres Personaltrainers in Anspruch, doch sie wurde nicht schwanger.

Eines Tages hörte sie von der Leihmutterschaft. Bevor sie mit ihrer Idee vor Giovanni trat, hielt sie nach einer geeigneten Leihmutter Ausschau. Ihre Wahl fiel auf eine der Reinigungskräfte des Fitnesspalastes, den sie regelmäßig besuchte.

Maliha verstand kaum, was Carmen ihr vortrug. Bei ihrer Arbeit und in der Abendschule lernte sie zwar Deutsch, aber derart komplizierte Begriffe standen vorerst nicht auf dem Lehrplan. Die Summe, die sie angeboten bekam, verhieß aber ein besseres Leben, eine Mietwohnung für sie allein und anständiges Essen – eben Dinge, die sie nur vom Hörensagen kannte.

Giovanni willigte ein. Maliha beantragte zwei Jahre unbezahlten Urlaub.

So wurde nach einem Jahr in einer exklusiven Privatklinik Dolcetta geboren. Den Ärzten war beim Ausfüllen der Geburtsanzeige ein Fehler unterlaufen: Maliha tauchte im Dokument nicht auf, dafür aber Carmen und Giovanni als Mutter und Vater.

Dolcetta entwickelte sich prächtig. Ihre freundliche und ungezwungene Art, mit ihren Altersgenossen umzugehen, hätte ihr viele Stunden Spiel und Spaß gebracht. Doch Giovanni ertrug es nicht, dass kleine Jungs mit seiner Tochter Fangen oder Verstecken spielen wollten.

Die Lage verschlimmerte sich mit der Zeit erheblich.

Mit zunehmendem Alter Dolcettas wurden erste potenzielle Freunde verjagt, was Giovanni einige Anzeigen und dem Anwalt der Familie einen Luxusurlaub auf Hawaii einbrachte.

Dolcetta wurde allmählich klar, dass sie die Isolierung durch Giovanni und das Einschränken ihrer sozialen Kontakte nicht in Ordnung war. Sie litt darunter, hatte aber nicht vor, sich dem Kontrollwahn ihres Vaters zu fügen, genauso, wie ihre Mutter immer wieder einen Weg fand, ihrem Ehe- und Hausfrauenleben zu entkommen. Dolcetta vermutete, dass ihre Carmen in der ersten Linie vor ihrem Ehemann und der fulminanten Stimmung zu Hause flüchtete.

Dieser anfangs diffuse Wille nahm während eines Schulausflugs konkrete Gestalt an. Die Klasse besuchte einen Bauernhof, damit die Schüler sahen, woher das Essen kam. Giovannis wehmütige Erinnerungen an die Wirtschaft seiner Mamma bei Catania, wo es immer nach Kuhmist und Meeresbrise roch, hatten sein Herz erweicht und er erlaubte seiner Tochter mitzufahren.

Dolcetta fand den Ausflug langweilig. Das änderte sich, als sie Jürgen erblickte. Er war einige Jahre älter, hoch gewachsen mit hellen krausen Haaren, trug einen Schnurrbart und arbeitete auf dem Bauernhof seiner Eltern.

Die erste Hitzewelle rollte schon Mitte Mai und die Klimaanlage des Reisebusses leistete ganze Arbeit. Den Luxus der gekühlten Luft gab es auf dem Hof nicht. So hatte Jürgen, der mit dem Ausmisten des Pferdestalls beschäftigt war, sein T-Shirt durchgeschwitzt. Dass er regelmäßig schwer schuftete, sah man durch den dünnen weißen Stoff deutlich.

Dolcetta war die Einzige, die genug Mut hatte, Jürgen anzusprechen. Ihm gefiel, was er sah und er ließ die Arbeit vorerst ruhen, um ihre Fragen zu den Tieren auf dem Hof, die sie sich in aller Eile zurechtgelegt hatte, zu beantworten.

Kurz bevor sie in den Bus stieg, gab sie ihm ihre Telefonnummer.

Bald entwickelte sich ein reger Austausch zwischen den beiden. Für Jürgen wurden E-Mails und Chats immer wichtiger und Dolcetta blühte in ihren Träumereien auf. Das entging Giovanni nicht.

»Dolcetta, ich will dein Handy sehen, und zwar sofort. Und wehe, wenn irgendetwas daran gesperrt ist!«, sagte ihr Giovanni an einem Sonntagnachmittag, nachdem er schon wieder, ohne zu klopfen, in ihr Zimmer platzte.

»Natürlich Vater«, antwortete Dolcetta pflichtbewusst und strengte sich an, damit ihr lächeln nicht allzu überlegen aussah.

Giovanni verbrachte Tage mit dem Durchsuchen des Gerätes, ohne etwas Verdächtiges zu finden. So gab er sich geschlagen und Dolcetta erhielt ihr Telefon zurück.

Als Carmen und Giovanni einen ganztägigen Besuch bei einem Geschäftspartner am anderen Ende des Landes planten um über Unsere Sache zu sprechen, erkannte Dolcetta die Gelegenheit und packte sie.

Sobald das Auto mit den Eltern außer Sichtweite war, trat Jürgen aus seinem Versteck, holte sein Handy aus der Tasche und rief sie an. Sie öffnete das Gartentor und ließ ihn hinein.

Weitere Schäferstündchen folgten. Sie genoss ihre vorübergehende Freiheit und die Jürgens Nähe.

Eines Tages hörten sie aber das Brummen des Motors, das Öffnen der Eingangstür und Giovannis Schritte nicht. Er war zurückgekommen, weil er sein Handy auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte.

Er hingegen vernahm den Lärm der zwei aus dem oberen Stockwerk deutlich.

Er rannte hoch und trat die Zimmertür seiner Tochter ein. Was er zu sehen bekam, gefiel ihm nicht. Jürgen verstand den sizilianischen Dialekt nicht, obwohl er seit Kurzem intensiv Italienisch lernte, trotzdem begriff er sofort, dass man ihm drohte. Um ti puncillu porcu disgraziatu zu verstehen, waren keine allzu fortgeschrittenen Sprachkenntnisse nötig.

Er stellte sich zwischen Dolcetta und Giovanni. Dieser holte zu einem Schlag aus, dem Jürgen mit Leichtigkeit auswich.

Giovannis Wut stieg und die Präzision seiner Schläge nahm ab. Jahrelanges Rauchen, Trinken, Bewegungsmangel und zu viel Pasta halfen nicht, aber das Springmesser, das er aus seiner Tasche holte, war ein triftiger Grund für Jürgen, um wegzulaufen.

Giovanni lief ihm hinterher, gab aber bald hechelnd auf. Er verzichtete darauf, Anzeige zu erstatten. Sein Verhältnis zu den Ordnungskräften war angespannt und von einem gegenseitigen und unüberwindbaren Misstrauen geprägt.

Carmen war inzwischen ins Zimmer ihrer Tochter geeilt, um sie zu trösten und, falls ihr Mann wieder auftauchte, zu beschützen. Im hitzigen Streit, der folgte, stellte sie ihrem Ehemann eine unbefristete Zärtlichkeitsverweigerung in Aussicht.

Daraufhin rannte Giovanni wütend zu seinem Auto und fuhr weg.

Am nächsten Tag kamen Verwandte aus Sizilien zu Besuch. Sie reisten schon am darauffolgenden Tag ab und hatten Dolcetta mitgenommen. Vorher nahm ihr Giovanni das Handy weg.

*

Am Morgen des übernächsten Tages saß Jürgen in einem Flieger Richtung Palermo. Am Nachmittag erreichte er das Tor eines verlassen wirkenden Bauernhofes bei Catania, wo es nach Kuhmist und Meeresbrise roch. Er holte sein Handy heraus und rief Dolcetta auf ihrem Zweithandy, das sie kurz nach ihrer ersten Begegnung mit Jürgen aus ihrem großzügigen Taschengeld gekauft und von dem Giovanni nie etwas erfahren hatte, an. Sie öffnete das Tor und ließ ihn hinein.

Im baufälligen Haus traf Jürgen auf Nonna, Dolcettas Großmutter. Er begrüßte sie auf Italienisch.

»Lass das Junge«, antwortete sie. »Ich bin in Deutschland aufgewachsen. Dolcetta hat mir erzählt, was passiert ist. Mein Mann hat mich isoliert, furchtbar behandelt und nicht selten geschlagen. Wenn der Postbote hier auftauchte, war das schon Grund genug für Anschuldigungen von Untreue. Und er? Er fickte sich durch alle Puttani der Gegend. Sein Sohn ist kein Deut besser. Dieser Schwachsinn endet jetzt.«

Sie stand auf, schritt zu einem der zahlreichen Küchenschränke, holte einen Ordner heraus und gab ihn Jürgen in die Hände.

»Junge, fahr nach Catania und finde eine Herberge. Dann geh zur Staatsanwaltschaft und suche Paulo Borsellino. Gib diese Akten nur ihm persönlich in die Hand.«

»Und was dann?«

»Sieh dir die Sehenswürdigkeiten an, geh zum Strand, was auch immer. Falls du nicht genug Geld hast, hier sind zweihundert Euro, die sollen reichen. Komm erst dann hierher zurück, wenn Dolcetta dich anruft.«

*

Jürgen übergab den Ordner schon am ersten Tag an Senior Borsellino. Catania war die Reise wert, doch er sehnte sich ständig nach Dolcetta. Jeden Tag sah er sich die Nachrichten auf dem Fernseher im Foyer des Hostels an. Am Abend des dritten Tages beherrschte eine großangelegte Razzia gegen die Mafia die Schlagzeilen.

Am nächsten Morgen klingelte sein Handy und Dolcetta bat ihn, zum Bauernhof zu kommen.

Sie wartete mit gepackten Koffern und zwei Flugtickets nach Deutschland (gekauft von Nonna) auf ihn.

»Was ist mit deinem Vater?«, fragte Jürgen Dolcetta.

»Der ist da, wo er hingehört, nämlich im Knast und er wird sehr lange da bleiben«, antwortete Nonna anstatt ihrer Enkelin.

Sie flogen nach Deutschland zurück. Am Flughafen wartete Carmen auf sie, die zum ersten Mal seit Jahren glücklich aussah. Sie hatte für ihre Tochter in ihrer Mietwohnung ein Zimmer einrichten lassen, wo Jürgen jederzeit willkommen war. Die Zeit von Terror und Geheimnistuerei endete für sie endgültig.

Sie heirateten nach einigen Jahren. Sie bezogen ein kleines Haus auf dem Bauernhof seiner Eltern und bekamen vier Kinder.

Als die Zeit kam, übernahmen sie den Hof und lebten glücklich bis an ihr Ende. 

 

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