Von Franck Sezelli
Die junge Frau, die erst kürzlich eingezogen war, begegnete ihrem Nachbarn oft im Treppenhaus. Das süße kleine Mädchen in seiner Begleitung hatte es ihr angetan.
Eines Tages, nachdem sie beide freundlich gegrüßt hatte, fragte sie das Mädchen: »Wie heißt du denn?«
»Hascherl – und du?«
Sie staunte zwar über diesen seltsamen Namen, ließ sich das aber nicht anmerken und antwortete: »Ich bin Magicienne.«
»Das ist aber ein komischer Name«, meinte das Mädchen.
»Da hast du recht, er gefiel meinen Eltern. Das ist französisch und bedeutet Zauberin.«
Da mischte sich der Vater ein. »Ich finde, Ihr Name klingt sehr gut, er gefällt mir.« Dass ihm auch die junge Frau gefiel, verriet er nicht, aber man sah es ihm an. »Eigentlich ist ihr Name Hadya.« Dabei deutete er auf sein Töchterchen. »Ihre Mutter, die aus Ägypten kam, hat ihn ausgesucht.«
»Entschuldigung, aber ich habe Ihre Frau noch nie getroffen.«
»Sie ist bei der Geburt von Hadya gestorben.«
»Oh, das tut mir aber leid!«
»Ist nun auch schon fast drei Jahre her. Ich komme zurecht. Für mich war die arme Kleine immer das Hascherl – es klingt ja auch ein bisschen wie ihr richtiger Name.«
Diese Begegnung war der Beginn einer engen nachbarschaftlichen Freundschaft zwischen dem Witwer und Magicienne. Getreu ihrem Namen hatte sie den Mann sehr schnell bezaubert. Sie ging bald in dessen Wohnung ein und aus, kümmerte sich um die Kleine, spielte mit ihr und umsorgte auch den alleinerziehenden Vater. Bald wurden sie ein Paar und heirateten.
So konnte auch ein weiterer Grund für die Namenswahl der Tochter kein Geheimnis bleiben. Der Mann baute auf dem Balkon heimlich einige Hanfpflanzen an und nutzte sie. Er rauchte ab und zu ein Tütchen und backte gern Haschkekse. Er liebte Haschisch und hätte sein Kind auch so benannt, wenn es ihm wegen Sitte und Anstand nicht verwehrt gewesen wäre. So wurde sie sein Hascherl.
Leider meinte es das Schicksal mit der kleinen Familie nicht gut. Eines Tages stürzte der Vater, der als Architekt an einem hohen Wasserturm arbeitete, vom Baugerüst. Jede Hilfe kam zu spät.
Die Stiefmutter blieb mit Hascherl allein und sie sorgte sich um es wie eine Mutter, wie es in einem bekannten Grimmschen Märchen ausgedrückt wird.
Sie liebte das Kind abgöttisch, beide machten alles gemeinsam, sogar die schulischen Hausaufgaben, bereiteten zusammen ihre Mahlzeiten, gingen spazieren und einkaufen. Ja, des Abends badeten oder duschten sie sogar zusammen und schliefen in einem Bett.
Als Hascherl zwölf Jahre alt wurde, bemerkte ihre Stiefmutter, dass ältere Jungen und junge Männer auf sie aufmerksam wurden und ihr begehrliche Blicke hinterherschickten. Ihr fiel auch auf, dass ihre gar nicht mehr so kleine Stieftochter das sehr wohl wahrnahm und sich immer auffallender benahm.
Deshalb beschloss sie, das Land zu verlassen, um ihr geliebtes Hascherl vor allen Versuchungen zu schützen. Die Philippinen erschienen ihr als ein geeignetes Ziel, weil es dort nicht viele Deutsche, auch nur wenige deutsche Touristen, gab. Sie konnte dort online genauso gut arbeiten wie im bisherigen Zuhause. Wegen der Schulpflicht gab es für die erfolgreiche Schriftstellerin kein Problem, Homeschooling ist für Deutsche im Ausland erlaubt. Magicienne besaß die erforderliche Bildung und Fähigkeit, ihre Stieftochter zu Hause zu unterrichten. Ihrer Tochter, die nicht begeistert war, erzählte sie etwas von notwendigen Recherchen für die nächsten Roman-Projekte.
So zogen die beiden nach Manila in eine hübsche kleine Villa. Hadya war dort völlig isoliert, hatte keine Freundinnen, durfte auch nicht allein ausgehen, ins Kino oder einen Club. Ihre einzige Vertraute blieb ihre Stiefmutter. Diese war Mutter, Lehrerin, Freundin und irgendwie wohl auch Geliebte zugleich. Oft saßen die beiden zusammen und Magicienne bürstete die langen goldblonden Haare ihres Mädchens, bis sie glänzten. Sie nutzte dabei auch die Gelegenheit, die geliebte Tochter überall zärtlich zu streicheln, was diese sich gern gefallen ließ.
Da sie es vorher auch nicht anders kannte, fehlte der Heranwachsenden auch nichts. Allerdings wurde sie manchmal von einer unbestimmten Unruhe und Sehnsucht gepackt, die sie versuchte, mit Singen zu verdrängen. Sie besaß eine klare und klangvolle Stimme, die sich schon in Kindheitstagen beim gemeinsamen Gesang mit ihrer Stiefmutter herausgebildet hatte.
Gern saß Hascherl, wie Magicienne sie immer noch nannte, am offenen Fenster oder gar auf der Fensterbank und sang melancholische Liebeslieder.
Da der tägliche Weg von Reto, dem Sohn des Schweizer Botschafters, in die nahegelegene University of Manila, am Grundstück der beiden vorbeiführte, blieb es nicht aus, dass er eines Tages auf den Gesang aufmerksam wurde. Er blieb am Gartenzaun der Villa stehen und lauschte. Bald entdeckte er beim Blick durch die am Zaun stehenden Büsche die Sängerin. Er war von ihrer Schönheit überwältigt. So blieb er in den Folgetagen oft lange am Gartenzaun stehen und hoffte, das Mädchen singen zu hören und vor allem am Fenster zu sehen. Als Hadya eines Tages den Lauscher hinter den Büschen entdeckte, erschrak sie, verstummte und schloss das Fenster. Das machte Reto sehr traurig. Beim nächsten Mal aber fasste sich der junge Mann ein Herz und sprach sie an. Auch Hadya wurde mutiger und forderte ihn auf, sich nicht hinter den Büschen zu verstecken, sondern sich zu zeigen. Da er ein sehr ansehnlicher junger Mann war, gefiel er ihr sehr. Sie bat ihn, in den Vorgarten ans Fenster zu kommen, damit sie nicht so laut sprechen müssten.
»Ich bin Reto und komme aus der Schweiz. Mein Vater ist hier der Botschafter. Wie heißt du und was machst du hier?«
»Ich komme aus Deutschland und heiße Hadya, aber alle nennen mich Hascherl.«
Da erwiderte Reto: »Du bist doch kein Hascherl, das klingt ja beinahe wie Haschisch. Ich nenne dich einfach Haschi, d’accord?«
Hascherl erzählte ihre Geschichte und dabei wurde ihr die Isolation und Einsamkeit bewusst, in der sie leben musste. Reto verliebte sich noch während dieses Gesprächs unsterblich in sie.
Sie trafen sich nun fast jeden Tag am Fenster. Wenn Hascherl nicht auf der Fensterbank saß, schlich sich Reto ans Fenster, klopfte leise an die Scheibe und rief:
»Haschi, Haschi, öffne dein Fenster, dein Prinz möchte dich sehen.«
Instinktiv begriffen beide, dass es wohl besser wäre, wenn die Stiefmutter diese Treffen nicht mitbekäme. Deswegen kam es bald dazu, dass Haschi ihren Verehrer aufforderte, durch das Fenster ins Zimmer zu klettern.
Dort intensivierten sich ihre Gespräche, die beiden wurden immer vertrauter miteinander. Die Frage Retos, ob ihre Haare auch anderswo so goldig seien, eröffnete ein neues Kapitel. In ihrer grenzenlosen Naivität bejahte sie das und zeigte ihm das auch. Scham hatte sie in der Gemeinschaft mit ihrer Stiefmutter nie kennengelernt. So ergab es sich, dass sie weitere lustvolle Möglichkeiten des Zeitvertreibs entdeckten und auslebten.
Es kam, wie es kommen musste, die Stiefmutter erwischte die beiden im schönsten Miteinander. Sie war außer sich und warf den jungen Mann wütend aus dem Haus. Danach unterzog sie ihre ungetreue Tochter einem Verhör.
In der Folge gelang es ihr, in der Schweizer Botschaft bis zum Hausherrn vorzudringen und beschwerte sich bei ihm über seinen Sohn. Dabei ließ sie Worte wie Hausfriedensbruch, Nötigung, Vergewaltigung, Verführung Minderjähriger und ähnliche Vorwürfe fallen.
Jedenfalls nahm sich Exzellenz seinen Nachwuchs zur Brust und machte ihm klar, dass er vorsichtshalber das Land verlassen müsse. Er schickte Reto umgehend in die USA.
Die ursprünglich so bezaubernde Magicienne flog mit der Stieftochter nach Berlin, suchte ihr eine kleine Wohnung und ließ sie dann voller Wut und Enttäuschung allein. Die junge Frau fühlte sich im Moloch der Millionenstadt völlig einsam und verlassen. Tapfer aber bewältigte sie alle Schwierigkeiten, fand als Kassiererin in einem Supermarkt eine Anstellung und verdiente sich etwas Geld.
Sehr bald erkannte sie, dass die Liebe zu Reto, den sie nicht vergessen konnte, nicht ohne Folgen geblieben war. Als es an der Zeit war, gebar sie Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen. Die einsame alleinerziehende Mutter bekam staatliche Unterstützung und schlug sich tapfer durchs Leben. Ihre ganze Kraft gehörte ihren beiden Kindern, die sie liebevoll aufzog. In einem Müttertreff lernte sie Anna kennen, die ihr eine zuverlässige Freundin wurde.
Reto versuchte in New York, wohin sein Vater ihn verbannt hatte, durch fleißiges Studium seine Liebste, die er in Manila zurücklassen musste, zu vergessen. Aber es gelang ihm nicht. Leider sah er keine Möglichkeit, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Sie hatte seinerzeit keinen Account in irgendeinem sozialen Netz. Dafür hatte ihre Stiefmutter gesorgt. Er wusste nicht einmal, ob sie noch in Manila war. Wie auch umgekehrt sie nichts über den Aufenthalt von Reto wusste. Entsprechende Anfragen in den Botschaften in Manila und Berlin sowie im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten wurden nicht beantwortet.
Nach zwei Jahren hatte Reto sein Studium abgeschlossen. Sein Vater sorgte dafür, dass er in eine renommierte Berliner Anwaltskanzlei eintreten konnte.
Der junge Rechtsanwalt war noch nicht lange in der Stadt, als ihn auf einer Fahrt zu einem Mandanten ein wohliger Schreck durchfuhr. Er bildete sich ein, im Autoradio die Stimme seiner Liebsten zu hören. Beim genaueren Hinhören war er sich sicher. Das war die Stimme seiner Haschi! Ein Anruf beim Sender brachte Klarheit. Er fand auch eine mitleidige Seele, die ihm verbotenerweise sogar die Adresse verriet.
Die Freundin Anna hatte Hadya den Tipp zu einem Talente-Gesangswettbewerb beim Berliner Rundfunk gegeben und sie ermutigt, sich dort anzumelden.
Kurz danach konnte Haschi die beiden Kinder mit ihrem Vater bekannt machen. Beim überraschenden Wiedersehen der Liebenden flossen reichlich Tränen. Freudentränen!
Und wenn sie nicht geschieden sind, leben sie noch heute in einer schmucken Villa in Berlin-Grunewald.
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