Von Volkmar Klundt
Hauptkommissar Möller nahm einen Rundblick. Auch nach all den Jahren wollte er sich nicht daran gewöhnen. Zuckende Blaulichter flackerten über den nackten Körper des Mädchens. Eben aus dem Tümpel gezogen, zerrte man nun ihre sterblichen Überreste ins unbarmherzige Licht der Scheinwerferbatterie. Wasser rieselte von ihrem schmalen Körper, es tropfte die baumelnden Arme herab und es rann aus ihren blonden kurzen Haaren.
Er trat näher und nickte den Männern und Frauen der Kriminaltechnik zu. Pflanzenreste und Entengrütze sprenkelten die blasse Haut des toten Körpers wie ein übler Ausschlag. Die Augen der jungen Frau lagen tief in ihrem zu mageren Gesicht und ihr Leib lag jetzt schutzlos und rippig auf der dunklen Unterlage. Möller registrierte die verschorften Einstichstellen.
Der feine Niesel zeichnete einen zarten Schleier um die Lampen und vertrieb die Neugierigen. Möller fröstelte, stopfte die Hände tiefer in die Taschen seines Mantels und empfand gleichzeitig fast so etwas wie Dankbarkeit.
„Das haben wir in den Büschen am Ufer gefunden. Unter ihren Sachen.” Grotefels trat näher und gab Möller zwei Plastiktüten.
In einer davon steckte eine pinkfarbene mit Strasssteinen besetzte Geldbörse.
Möller nahm die andere und drehte den Ausweis ins Licht. Er zog die Falten der Plastiktüte glatt und versuchte, die Buchstaben zu entziffern.
„Locusta, Valerianella, geboren am 01.01.2007. Feldstrasse 15”, half Grotefels.
“Da wohnen viele Flüchtlinge”, sagte Möller nachdenklich, “ist die Identität korrekt?”
„98%. Das Passbild scheint zu stimmen, obwohl sie jetzt kurze Haare hat.“ Er zögerte: „Chef, das sind gute Leute. Natürlich nicht alle, nicht immer, wie überall. Aber sie sind allesamt schon Jahre bei uns. Sie haben Arbeit und sind gut integriert.”
„Glaub nicht, dass ich das nicht weiß”, entgegnete Möller und schlug den Mantelkragen hoch, „aber manchmal ist da etwas von früher, das sich an sie krallt wie ein böses Tier.”
Sie traten aus dem Weg, um die Arbeiten nicht zu behindern. Vor dem hell, fast weiß, ausgeleuchteten Hintergrund wirkte die Silhouette der beiden wie ein Scherenschnitt, vor dem weißgekleidete Gestalten im Bühnenlicht einen geheimnisvollen Tanz aufführten.
„Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten will”, sagte Möller, „das Grauen wird einem vertraut und das Vertraute wird einem ganz und gar fremd.”
„Der Täter hat sie erdrosselt”, sagte Grotefels, als wollte er das Thema wechseln, „Würgemale.”
„Oder die Täterin.” Möller wandte sich ab und ging zu seinem Wagen.
„Immer auch seitwärts schauen, Heiko.” Grotefels folgte ihm. Die hochgewachsene Gestalt des Kriminalhauptkommissars und Grotefels gedrungener, breitschultriger Körper wirkten wie Baum und Fels in einer japanischen Tuschezeichnung, wie die kraftvolle Poesie des Gegensätzlichen.
Wenig später war die Identität des Opfers endgültig gesichert.
„Die Fingerabdrücke stimmen. Sie wurde wegen Prostitution und Drogendelikten verurteilt.”
„Wegen Prostitution? Wieso das?”
„Sie stand an der falschen Stelle.”
„Wir nehmen Thea mit”, entschied Möller, bevor sie losfuhren.
Es war bereits 3:00 nachts, als sie in die Feldstraße einbogen. Der Niesel hatte aufgehört. Grotefels blieb im Auto. Möller und Sievers gingen zwischen geparkten Autos hindurch, hinüber zu dem zehnstöckigen Hochhaus.
„Weißt du was das heißt?” Möller zeigte auf die Graffiti an der Fassade:
„Das heißt wahrscheinlich `Wir sind hier´.“
Das Eingangslicht war defekt. Die Scherben knirschten unter ihren Füßen. Sievers zog ihr Handy heraus und beleuchtete das Klingelpaneel. Die Wohnung der Locustas lag im dritten Stock. Möller drückte auf die Klingel und wartete. Als nichts geschah, klingelte er erneut, diesmal länger.
Schließlich klang eine Stimme blechern aus der Sprechanlage:
„Valerie? Kommst du nach Hause, Schatz? Hast du deinen Schlüssel verloren?“
Dann summte der Türöffner.
Hinter dem Strukturglas der Eingangstür der Locustas brannte Licht. Schritte näherten sich.
Die Frau, die ihnen öffnete, war klein und übergewichtig. Ihr blondes mittellanges Haar hatte sie nur flüchtig geordnet.
Verständnislos und schlaftrunken blickte sie auf die Ausweise, die sie ihr entgegenhielten. Sie hörte die Entschuldigung für die späte Störung. In ihrem Blick verdichteten sich Zweifel und Furcht. Aus dem hinteren Teil der Wohnung trat ein Mann hinzu. Seine spärlichen Haare standen ihm wirr vom Kopf. Die gestreifte Pyjamajacke hob sich unterhalb des Nabels ab und seine Hose war in die Bauchfalte gerutscht.
„Es geht um Ihre Tochter, Frau Locusta, es tut uns sehr leid…”
Bevor Sievers weitersprechen konnte, begann die Frau zu begreifen, dass etwas Grauenvolles geschehen war:
„Was? Nein! Neinneinnnein!”
Sie schluchzte. Dann schrie sie ihnen ihren Schmerz in unbekannter Sprache entgegen, als könnte sie damit den Abgrund füllen, der sich plötzlich unter ihren Füßen getan hatte. Herr Locusta nahm sie in die Arme und zog sie sanft in die Wohnung zurück. Sie traten in den Flur. Sievers schloss die Tür.
Frau Locusta wand sich herum und begann, mit den Fäusten auf die Brust ihres Mannes zu schlagen.
„Du, du bist schuld! Du hast sie im Stich gelassen. Du hast ihnen unser Mädchen überlassen. Du allein bist schuld!”
…
Vom Penthouse mit seinen bodentiefen Fenstern hatte man einen atemberaubenden Blick über die Stadt.
Diona Muscipula war noch bis spät im Club gewesen. Ilex hatte ihr einen Imbiss zurechtgemacht: Warme Entenbrust auf Feldsalat mit Apfeldressing. Sie genoss die Aussicht. Von Zeit zu Zeit führte sie einen Bissen zum Mund. Erst mal runterkommen. Sie arbeitete einfach zu viel. Diona nippte an ihrem Weißwein:
„Was denkst du, Ilex?”
„Das wird Lehre für die anderen sein, Madame”, antwortete er. „Das Mädchen war Revolution. Sie hatte kaum noch Auftrage gehabt. Keine großer Schaden.”
„Wer hat es gemacht, Ilex? Nein, sag es mir nicht. Gibt es eine Verbindung zu uns?”
„Verbindung schon tot. Wir machen eine Exemplar und Spur ist wie kaltes Wasser.“
Ilex kam nicht aus der alten Heimat. Und Sprachen waren nicht so seins.
„Aber was er macht, macht er gut“, dachte Diona.
Mein Gott war sie müde. Und satt. Sie entschied sich dagegen, ihn heute in ihr Bett zu lassen.
Das Lichtermeer, das sich zu Füßen ihres Turmes bis zum Horizont erstreckte, hatte wirklich etwas Bezauberndes. Es war so ergreifend.
„Exempel“, sagte sie, „es heißt Exempel.“
…
„Was meinte Ihre Frau?“, fragte Möller später.
Aus dem Schlafzimmer drangen trauriges Stöhnen von Frau Locusta und leise Worte von Sievers herüber.
Der Sessel, in dem er Platz genommen hatte, war unbequem und mit goldfarbenem Brokatimitat bezogen. Herr Locusta, dem die Tränen still über die runden Wangen liefen, holte eine Flasche und zwei Schnapsgläser aus der Anrichte, auf der das Foto des schönsten Mädchens stand, das Möller je gesehen hatte. Der Blick aus ihren grünen Augen berührte ihn kühl und traurig, so dass sich die Ordnung in seiner Seele ein klein wenig tektonisch verschob und er sich fragte, wen sie wohl als letztes angeschaut hatte.
Ihr ebenmäßiges Gesicht wurde von langen blonden Haaren umspielt, die ihr hinab bis auf die Hüfte flossen.
Die quietschbuntem, von Frau Locusta sorgfältig drapierten Sofakissen, auf die sein so geschärfter Blick nun fiel, waren ihm nicht länger fremd, sondern schlicht Ausdruck des Wunsches, ein gutes und normales Leben zu führen.
„Ja, das ist unsere Valerie“, sagte Herr Locusta, „das war sie…“
Er füllte zitternd die Gläser.
Eins bot er Möller an. Als jener den Kopf schüttelte, stürzte er beide nacheinander rasch hinunter. Nachdem er sie geleert hatte, knallte er sie wütend auf die Tischplatte.
„Es ist nicht so einfach. Schauen sie dort aus dem Fenster.“
Er zeigte auf den Wolkenkratzer, der wie ein Turm die ganze Stadt überragte und in dessen oberer Etage auch jetzt noch Licht brannte.
„Dort thront sie. Diona Muscipula. Herrin über unser Leben. Wir kommen alle aus demselben Ort. Sie hat alles organisiert. Unsere Reise hierher? Sie hat das Geld vorgestreckt. Wir gehören ihr mit Haut und Haaren. Ich gehöre ihr, meine Frau gehört ihr, unsere Wohnung?“ Er lachte bitter: „Raten Sie.“
„Und dann hat sie Ihnen die Rechnung präsentiert“, vermutete Möller.
Locusta nickte: „Wir haben ihr alles angeboten. Ich wollte mehr arbeiten. Helia hatte sowieso schon drei Putzstellen. Aber sie wollte unsere Valeriana. Sie sollte in ihrem Club im Service arbeiten.“
Er lachte bitter und goss sich einen weiteren Schnaps ein.
„Service!“
Er schüttelte den Kopf.
„Das war nicht das, was ich unter Service verstanden habe.“
„Aber Valerie war eine Kämpferin. Sie hat sich gewehrt, sie wollte nicht. Um hässlich zu sein, hat sie sich die Haare abgeschnitten. Und dann haben sie ihr die Drogen gegeben.“
„Sagen Sie gegen die Muscipula aus“, sagte Möller, „wir schützen Sie und Ihre Frau.“
„Das kann niemand. Und selbst wenn Sie uns hier schützen könnten, schützen Sie dann auch unsere Leute in der alten Heimat?“
Wieder schüttelte er den Kopf. Seine Stimme war jetzt leise, tonlos und hatte jede Farbe verloren:
„Gehen Sie, Sie müssen jetzt gehen. Wir werden klar kommen.“
Die Flasche war jetzt halb leer und Herr Locusta hatte wohl den Faden verloren, denn sein Kopf sank ihm haltlos auf die Brust. Aus dem Schlafzimmer drang leises Schluchzen.
Als Möller die Autotür öffnete, hatte Grotefels das Handy am Ohr.
„Wo?“
„Okay?“
„Kenn ich.“
„Sind schon unterwegs.“
Möller hob fragend die Augenbrauen.
„Noch ein Toter. Unten am Fluss.“
Grotefels startete das Auto.
„Jensen sagt, das war Profiarbeit. Kleines Kaliber mitten in die Stirn.“
Tags darauf, gegen Mittag, wedelte Möller mit dem vorläufigen Bericht:
„Sie war schwanger, Heiko!“
Er warf den Ordner grimmig vor Grotefels auf den Schreibtisch.
Wenig später fand man die Locustas. Sie hatten keine Zeit verloren. Ein Glas, eine leere Schnapsflasche und zwei Tablettenröhrchen erzählten das Ende ihrer Geschichte.
„Wenn man etwas fassen soll, das zu groß ist, dann passt das einfach nicht hinein. Es zerreißt einen“, sagte Möller.
„Diese Geschichte ist noch nicht vorbei, Heiko, und das ist ein Versprechen!“
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Glossar
Dionaea Muscipula: Venusfliegenfalle
Valerianella Locusta: Feldsalat,Rapunzel
Ilex: Stechpalme
Helia: Heliopsis helianthoides=Gewöhnliches Sonnenauge