Von Ingo Pietsch

London, 1867

Die Nacht war lau. Hier und da erklang das Hufgeklapper der Pferde, die eine Kutsche über die Pflastersteine zogen. Gaslaternen hüllten die Straßen in ein unheimliches Leuchten, da der Nebel von der Themse heraufzog und sich in der Stadt ausbreitete.

Diesen Nebel hatten sich zwei Jungen als Deckung zunutze gemacht und waren in ein stillgelegtes Theater geschlichen, wo sie jetzt in den oberen Rängen hockten und über die Balustrade nach unten spähten.

Wo ehemals Stühle standen und sich ein Orchestergraben befunden hatte, waren jetzt historische Kostüme ausgestellt.

„Und das sind wirklich echte Uniformen?“, flüsterte der kleinere und etwas dicklichere Junge.

„Zumindest sollen die Ornamente und Orden echt sein. Der Aussteller soll ein reicher Sammler sein, der an nichts spart.“

Der Ort wirkte auf den kleineren Jungen unheimlich – nur ein paar Kerzen tauchten den großen Saal in ein gruseliges Licht und die Figuren blickten so grimmig, als führten sie etwas böses im Schilde.

„Los, lass uns nach unten schleichen, Jim!“ Der Größere lief gebückt zu einem der Ausgänge.

„Nenn` mich nicht immer so! Ich rufe dich auch nicht Shelly!“

Shelly zuckte zusammen und drehte sich um. „So nennt mich nur meine Mutter. Ich hasse das!“

Jim hob abwehrend die Hände: „Ist ja schon gut.“

Shelly rüttelte an der Tür. Begleitet von einem Ächzen und eingehüllt in eine Staubwolke schwang sie auf.

Die beiden Jungen sahen sich an. Jetzt oder nie!

Im Treppenhaus roch es muffig und es lösten sich schon die schweren Velourtapeten von den Wänden.

Wie es hier oben aussah, interessierte niemanden, denn das Theater war nur ein kurzer Zwischenstopp der Wanderausstellung.

Shelly war als erster im Saal angekommen. Jim folgte schnaufend.

Das Theater wurde in regelmäßigen Abständen von Wachposten kontrolliert und Shelly hatte nicht geringste Lust, von einem aufgegriffen zu werden.

Sie sahen sich um und als die Luft rein war, gingen sie zu einer der Statuen, um sie genauer unter die Lupe zu nehmen.

Jim zog den schmutzigen Lappen der Öllaterne herunter, die er bei sich trug. Er hatte die brennende Lampe abgedeckt, damit sie nicht sofort entdeckt wurden.

Vor ihnen stand eine Nachbildung von Napoleon Bonaparte. Eine Hand hatte die Statue sogar im Frack stecken.

Die Figur war lebensecht aus Wachs modelliert worden und trug authentische Kleidung.

Besonders angetan hatte es Shelly der Orden der Ehrenlegion, der auf der linken Brust prangte.

So gut das Licht es zuließ, inspizierte er ihn mit seiner Lupe und tippte mit dem Fingernagel dagegen.

„Scheint echt zu sein“, fachsimpelte Shelly. „Wackele nicht so mit der Laterne, Jim!“

„Ich muss ganz dringend aufs Klo. Und außerdem ist die nächste Runde der Wachmänner bald dran. Du weißt doch jetzt, was du wissen wolltest. Wahrscheinlich ist der ganze Klunker hier echt. Verschwinden wir lieber.“

„Immer mit der Ruhe, mein Lieber. Ich möchte die anderen Herrschaften auch noch eingehender untersuchen.“ Und schon ging er zur nächsten Figur, die Julius Cäsar darstellte.

Jim schüttelte den Kopf und folgte ihm.

Um sie herum standen noch andere Persönlichkeiten.

Jim erkannte an den Messingschildern, dass es sich um Karl den Großen, Dschingis Khan, Attila den Hunnenkönig und sogar Nebukadnezar handelte.

Alles erfolgreiche Strategen und Feldherren.

„Der Sammler hat eine Vorliebe für Größenwahn“, kommentierte Jim.

„Geniale Taktiker und Weltveränderer“, verbesserte Shelly.

„Können wir jetzt gehen?“ Jim hüpfte von einem Bein aufs andere.

Shelly funkelte ihn böse an. „Die Ausstellung ist nur noch bis übermorgen in London und zieht dann weiter nach Paris. Das ist unsere letzte Gelegenheit, die Statuen zu untersuchen.“

„Du kannst dir auch ein Ticket kaufen.“

„Aber ich kann ja schlecht hinter die Absperrung gehen und an den Figuren herumfummeln.“

Jim antwortete nicht darauf.

„Wann hat man jemals wieder die Möglichkeit, so nah an den Originalen zu sein?“ Shelly schwelgte in seinen eigenen Worten.

Plötzlich wurden Stimmen laut und näherten sich.

Jim drehte die Laterne aus und beide versteckten sich hinter dem knieenden Elefanten, auf dem Hannibal saß.

Shelly spähte vorsichtig in den Raum.

Zwei Schränke von Männern schleppten eine weitere Figur in den Theatersaal.

Im Kerzenschein erkannte Shelly kantige Gesichter, die so aussahen, als verdienten die finsteren Gesellen ihr Geld mit ihren Fäusten.

„Jetsch mach hinne, dasch Ding wird langscham schwer.“ Der Hintere der beiden nuschelte, als wäre er betrunken oder eine Gesichtshälfte gelähmt.

„Stell` dich nicht so an. Ich muss beim Rückwärtsgehen vorsichtig sein. Wenn hier irgendwas kaputtgeht, sind wir einen Kopf kürzer oder landen mit Betonschuhen in der Themse.“

Sie trugen einen zweiten Napoleon zu dem, der schon im Raum stand. Dann nahmen sie der Figur, die Shelly untersucht hatte, die Orden und Auszeichnungen ab, hängten sie an den neuen Napoleon und trugen den alten wieder heraus.

Shelly und Jim kamen aus ihrem Versteck und inspizierten Napoleon erneut.

„Diese Figur ist nicht so fein ausgearbeitet, so, als hätte der Macher nicht so viel Zeit gehabt. Aber das würde wahrscheinlich sowie niemand erkennen.“ Shelly kratzte sich am Kinn.

„Wir sollten jetzt aber wirklich verschwinden“, meinte Jim gehetzt. Hektisch verhedderte er sich an der roten Kordel der Absperrung, kam ins Schwanken und riss Napoleon um.

Die Statue zerbrach mit einem dumpfen Laut auf dem Boden.

Shelly und Jim standen mit offenen Mündern da, bis ihnen etwas auffiel: Unter der Wachsschicht befand sich ein in ein Leinentuch gehüllter Gegenstand.

Shelly zog ein Messer hervor und zerschnitt den Stoff am vermeintlichen Kopf.

Ein Toter starrte sie an.

Jim musste fast würgen und Shelly freute sich vor Überraschung: „Das ist der oberste Richter, der seit drei Tagen vermisst wird!“

„Toll!“, entgegnete Jim angewidert.

Shelly überlegte nicht lange und warf Karl den Großen um. Darin befand sich ebenfalls eine Leiche.

„Und das hier ist ein bekannter Wissenschaftler. Ich kombiniere, hier beseitigt jemand führende Staatsmänner, versteckt sie in den Wachsfiguren und schafft sie mit der Wanderausstellung außer Landes, um sie dann zu entsorgen. Genial!“ Shelly war außer sich.

„Und wozu?“, wollte Jim wissen.

„Um sie zu ersetzen, weil sie nicht käuflich waren? Wer weiß?  Derjenige, der hier dahinter steckt, hat alles weit im Voraus geplant.“

„Sollten wir das nicht lieber der Polizei melden?“

„Die würde uns sowieso nicht glauben. Und bis die Polizei hier eintrifft, haben die wahrscheinlich eh schon alle Beweise verschwinden lassen. Aber wir könnten ihnen trotzdem einen anonymen Tipp geben. Nicht, dass die Leute mit ihren Aktionen noch einen Krieg anzetteln, Jim!“

„Nenn mich nicht Jim, Shelly.“ Jim mochte das genauso wenig sein Freund.

„Gut, ab heute nennen wir uns nur noch beim Nachnamen, Watson. Und nun hauen wir wirklich ab!“

Watson grinste über beide Ohren: „Gerne, Holmes!“

 

„Es tut mir wirklich leid, Sir, aber wir haben die Anweisung, jedem auch noch so kleinen Hinweis nachzugehen.“ Der Inspektor versuchte dem Inhaber des Wachsfigurenkabinetts die ganze Angelegenheit zu erklären, während sie das Theater verließen. Die Polizisten hatten sämtliche Figuren geöffnet, aber nichts entdeckt.

Der Mann drehte sich zu dem Inspektor um, der kaum Schritt halten konnte, funkelte ihn zornig an und tippte ihm mit seinem Gehstock auf die Brust: „Wozu spende ich eigentlich der Londoner Polizei horrende Summen, wenn sie sich dann gegen mich stellen und diesem Unfug, den sich anscheinend ein paar Kinder ausgedacht haben, auch noch Glauben schenken?“

„Ich kann mich nur nochmals entschuldigen, Professor Moriarty. Aber mein Vorgesetzter wollte in dieser Sache nicht locker lassen.“

„Das wird noch ein Nachspiel haben, darauf können sie sich verlassen.“ Moriarty sah sich noch einmal um, als fühle er sich beobachtet und ließ den mit hängenden Schultern dastehenden Inspektor zurück.