Von Sandra Pothmann

„Aber ich möchte nicht unter Verrückte kommen.“
„Oh, das kannst du wohl kaum verhindern. Wir sind hier nämlich alle verrückt. Du bist verrückt, Alice.“
„Woher willst du wissen, dass ich verrückt bin?“
„Wenn du es nicht wärest“, stellt die Grinsekatze fest, „dann wärest du nicht hier.“ *
Die Grinsekatze zwinkert mir zu, bevor sie sich mit Alice in den blauen Dunstschwaden meiner Zigarette auflöst.
Ich drücke die Kippe aus und reibe mir die Augen. Jetzt bloß nichts anmerken lassen. Mir ist unheimlich.
Noch einmal tief Luft geholt, mein typisches Lächeln aufgesetzt und zügigen Schrittes durchquere ich den Raucherraum, hinaus auf den Stationsflur.
Den Blick in Richtung der verschlossenen Sicherheitstür wage ich nicht. Sondern schlage direkt die Richtung meines Zimmers ein. Auf Höhe des Schwesternzimmers sind die prüfenden Blicke des Pflegepersonals deutlich zu spüren.
Am liebsten würde ich ihnen ausweichen. Doch ich lächele freundlichen.
Ein, zwei, drei Momente. Nicht zu kurz, nicht zu lang. Genau richtig, um „Alles in Ordnung“ zu suggerieren.

Geschafft! Nur noch wenige Schritte und mein Zimmer ist erreicht. Die Bettnachbarin wurde glücklicherweise heute Morgen auf die ‚Offene Station‘ verlegt. Sie hätte mir jetzt noch gefehlt.
Die Tür leise schließend, atme ich erleichtert auf. Keine Grinsekatze, keine Alice.
Werde ich jetzt völlig verrückt?
Depressionen sind das Eine. Ein Suizidversuch das Andere. Aber Halluzinationen? –
Sind es vielleicht die Medikamente?
Erzählen kann ich niemandem davon. Sie würden mich hierbehalten, dabei soll doch auch ich in ein paar Tagen auf die ‚Offene‘ verlegt werden.
„Es sind ganz sicher nur die Medikamente“, wiederhole ich laut.
Erschöpft lege ich mich auf meinem Bett, als kaum fünf Minuten später eine Schwestern nach dem Rechten sieht. Da alles normal scheint, verabschiedet sie sich schnell wieder. Die Tür schließt sich und da liegt sie!
Die Grinsekatze – und grinst mich an.
Ich werde verrückt!
„Falsch! Du bist verrückt“, sagt die Grinsekatze und löst sich mit ihrem letzten Wort erneut auf. Mir wird heiß und ich höre mein Herz rasen.
Schreien? Weinen? Lachen? Panik?
Das alles bilde ich mir nur ein! Einfach ruhig bleiben. „Entspann dich!“
Zu entspannen habe ich schließlich gelernt. Jeder Falte des Lakens, jeder Unebenheit in der Matratze schenke ich meine Aufmerksamkeit. Einatmen, Ausatmen und Augen schließen. Ein letztes Blinzeln und ich bin froh, keine Grinsekatze zu sehen.
Ruhe.
Ja, ich brauche einfach nur Ruhe.
Mit geschlossenen Augen spüre ich meinem Körper nach. Wie er immer schwerer wird und in das Nichts gleitet.
In das unendliche schwarze Nichts.
„Sind das nicht große starke Hände“, erscheint der Steinbeißer, „sind das nicht wirklich große starke Hände?“ Traurig schaut er mich an.
Bevor ich begreife, was ich höre und sehe, werde ich schon von ihm fortgerissen. Nur, um Sekunden später in einen Brunnenschacht zu fallen. Aus den beengenden Wänden greifen Hände nach mir und es erklingt das Lied Halluzination.
Das Fallen endet mit dem letzten Ton und ich schwebe über eine steinige Wüste. In meiner Hand halte ich plötzlich einen Jadestein und, wie Tabaluga, singe ich leise: „Jadestein in meiner Hand, bring mich in ein fernes Land.“ *
Ein Wirbel aus leuchtenden und schimmernden Farben erfasst mich. Trägt mich. Und spuckt mich, mit einem Plöpp, wieder aus.

In einer Staubwolke sitzend, finde ich mich auf einem winzig kleinen Planeten wieder. Die drei Vulkane sind frisch geputzt und der kleine Prinz freut sich über meinen unerwarteten Besuch. Er fragt mich jedoch ein wenig verwundert: „Was suchst du denn?“
„Ich?“
Verdutzt schaue ich den kleinen Prinzen an, hinter dem seine kleine schöne Blume vorsichtig hervor lugt.
„Ja du“, lacht der kleine Prinz, „große Menschen sind immer noch komisch.“
„Ich“, höre ich mich stammeln, „ich suche etwas? Ich weiß nicht, was ich suche.“
Der kleine Prinz hält mir ein Blatt Papier hin, auf dem eine Kiste gemalt ist.
„Hier, meine Kiste. Ich schenke sie dir. Mein Schaf und meine Blume sind Freunde geworden. Ich brauche sie nicht mehr. Aber du, du kannst eine Kiste gut gebrauchen.“
„Glaubst du?“ frage ich.
„Aber sicher“, nickt der kleine Prinz und lächelt mir aufmunternd zu.
„Wenn du findest, was du suchst, kannst du es in die Kiste packen und mit nach Hause nehmen.“
Es hört sich sinnvoll an und so nehme ich das Blatt Papier des kleinen Prinzen dankend an.

Noch bevor ich etwas sagen kann, sitze ich auf dem Rücken einer weißen Gans inmitten einer Schar von Wildgänsen. Sie fliegen mit mir davon und der kleine Prinz winkt uns nach. Der Flug dauert die ganze Nacht. Eingekuschelt in Martins Federkleid, schlafe ich ein.

Sonnenstrahlen kitzeln mein Gesicht. Mühevoll öffne ich die Augen. Der Boden ist kalt und hart. Mein Kopf schmerzt. In meinem Blickfeld stehen die zwei Flaschen Wein von gestern Nacht.
Ich liege auf dem Fliesenboden meiner neuen Wohnung und vor mir der halb ausgepackte Umzugskarton mit Erinnerungen meiner Kinder- und Jugendzeit. Oben auf mein Lieblingsbuch von Paulo Coelho: ‚Veronika beschließt zu sterben.‘ In meinen Armen halte ich den alten Winnie-Pooh-Teddy.
Als mir erneut Alice im Wunderland einfällt, muss jetzt ich grinsen. Sie steht vor der Herzdame und sagt: „Ich suche meinen Weg“, und die Herzdame entgegnet ihr: „Alle Wege gehören mir.“

 

* Aus ‚Alice im Wunderland‘ nach dem Buch von Lewis Carroll
* Aus ‚Tabaluga und das leuchtende Schweigen‘ von Peter Maffay, Rolf Zuckowski und Gregor Rottschalk