Von Denise Fiedler
Alles wirkte so friedlich. Die Zweige des Apfelbaumes schaukelten im Wind, der betagte Dackel der Eigentümerin spazierte über die Wiese, hob hie und da das Bein oder steckte die Schnauze schnüffelnd ins Gras. Vollkommen normal, wäre da nicht diese Stille. Nirgends das Singen eines Vogels, kein Brummen eines Insektes. Melanie fragte sich, ob sich noch Würmer durchs Erdreich gruben, oder ob sie ebenfalls entschwunden waren. Weit weg von diesem Fleck. Weit weg von Berlin.
Irgendetwas wird überleben, darüber waren sich alle einig, als noch debattiert wurde und sich die Erläuterungen der Wissenschaftler überschlugen, als sie weghörte, da sie ohnehin nichts verstand. War es denn wichtig, zu verstehen?
»Die Bonzen haben sich ihre Bunker gebaut«, hatte Markus gesagt. »Werden seelenruhig abwarten und auf unseren Tod anstoßen.«
»Das weißt du nicht«, hatte Melanie geantwortet.
»Sei nicht so naiv! Die wussten das längst, bevor sie uns darüber in Kenntnis gesetzt haben.«
Das war der Moment, als sie beschlossen hatte, ihn zu verlassen, ins Auto zu steigen und fast fünfhundert Kilometer weit wegzufahren.
Mittlerweile strahlte kein deutscher Fernsehsender mehr aus. Wer wollte schon in seinen letzten Tagen in einem Studio sitzen? Auf CNN liefen Berichte über die Evakuierungen der Küstenstädte. Die Welt bewegte sich, aber für Melanie stand sie still.
Dem Dackel wurde es draußen wohl zu langweilig. Er lief Richtung Hintertür und war bald aus ihrem Sichtfeld verschwunden. Durch die geschlossene Zimmertür drangen Geräusche. Melanie drehte sich vom Fenster weg und folgte ihnen bis zu der Gemeinschaftsküche. Jede Etage hatte eine, doch jetzt wurde nur die im Erdgeschoss genutzt. Hier waren auch die einzigen belegten Zimmer, sogar Dagmar, die Eigentümerin, war aus dem Obergeschoss in einen der unteren Schlafräume gezogen.
Melanie konnte sich gut vorstellen, wie die Villa in ihren Glanzzeiten gewesen sein musste. Jedes Zimmer belegt, das gemeinsame Kochen, vielleicht ein Ausflug zum Alexanderplatz, inklusive Besichtigung des Fernsehturms, abends Grillen im Garten, leises Lachen im Schein der Lampions, der Dackel, der zwischen den Beinen hin und her wuselte, bis er sich schließlich unter eine der Bänke legte. Das alles schien nun weit entfernt, übrig geblieben war eine kleine Zweckgemeinschaft, die auf die Stunde Null wartete.
Dagmar stand an der Küchenzeile, einen Campingkocher vor sich und briet Fleisch an, auf der Spüle lagen weitere Stücke, verschweißt in Folie. Als sie Melanies fragenden Blick sah, zuckte sie mit den Schultern. »Der Strom ist ausgefallen.«
»Wegen eines verdorbenen Magens müssen wir uns keine Sorgen mehr machen«, erwiderte Melanie.
Die ältere Frau hielt kurz inne, dann schmiss sie ein weiteres Stück in die Pfanne. »Wäre trotzdem schade drum.«
Melanie nahm eine Tasse aus dem Schrank, ging zum Wasserkocher, als ihr klar wurde, wie unsinnig das war.
»In der Thermoskanne ist heißes Wasser«, sagte Dagmar. »Hab es aus der Zisterne gepumpt. Sie ist nicht mehr ganz voll, aber wenn keiner ein Vollbad nehmen möchte, sollte es reichen.«
Melanie rührte löslichen Kaffee in ihre Tasse und setzte sich an den Tisch. Gut zehn Leute hätten daran Platz gefunden und nach den Spuren in der Tischplatte war dies auch mehr als einmal der Fall gewesen. Mit dem Finger fuhr sie einen Kratzer entlang, der sich fast über die ganze Breite zog.
»Mädchen, was machst du hier?« Seit Wochen stellte Dagmar ihr diese Frage, bisher hatte sie nie geantwortet.
»Ich habe mir ein Kleid gekauft. Fast mein ganzes Erspartes ist für ein Designerkleid draufgegangen. Hab mir nie Gedanken über Mode und so gemacht, gekauft, was ich brauchte, meistens vom Wühltisch. Dachte, das wäre eine gute Gelegenheit, so ein Kleid zu tragen.«
»Du solltest bei deinen Lieben sein.«
Melanie schüttelte den Kopf. »Meine Mutter und ihr Lebensgefährte sind Richtung Osten, so weit weg wie möglich. Aber was bringt das, außer einen langsameren Tod. Vor Jahren habe ich mal eine Sendung über Dinosaurier gesehen. Nach dem Einschlag hat sich der Himmel verfinstert und die Temperaturen sind stark gesunken. Die Erde hat lange gebraucht, um sich zu erholen, und das Leben … Es hat einen anderen Weg gefunden. Wir lernen aus der Vergangenheit, unsere Zeit ist vorbei. Babydoll ist um einiges größer, als der Asteroid, der diese Urzeitechsen ausgelöscht hat.«
Babydoll, ausgerechnet ein Asteroid, der seinen Namen nach einer durchzechten Weihnachtsfeier bekam. Sein Entdecker wurde auf offener Straße erschossen, als ob er ihn erst auf Kurs zur Erde gebracht hätte.
Melanie blies den Dampf von ihrer Tasse. »Warum bist du hiergeblieben?«
Dagmar machte eine Geste, mit der sie das ganze Haus einschloss. »Mein Mann und ich haben das alles mit unseren Händen aufgebaut. Hier ist mein Leben, wo sollte ich schon hin?«
Das Zuschlagen einer Tür unterbrach sie. Kurz darauf kam Thomas herein, Dagmars missbilligenden Blick zu seinen Schuhen ignorierend.
»Gibt es hier irgendwo Bretter? Wir sollten die Fenster verbarrikadieren. Ein paar Straßen weiter haben ein paar Irre eine Villa besetzt. Haben die Bewohner einfach an einem Baum aufgeknüpft.«
»Du solltest da draußen nicht rumlaufen, man weiß nie, wem man begegnet.« Dagmar wendete das Fleisch, ehe sie hinzufügte: »Drüben im Schuppen müsste noch Holz liegen.«
Ohne ein weiteres Wort ging Thomas hinaus. Melanie folgte, um ihm zu helfen.
Den ganzen Nachmittag verbrachten sie damit, Fensterläden zuzunageln und die Türen, die sie nicht benutzten, zu verschließen. Im Schuppen fand Thomas außerdem noch ein altes Radio. Nachdem er neue Batterien eingesetzt hatte, drehte er am Regler herum.
»Glaubst du, der Sender hat noch Strom?«, fragte Melanie.
»Mich würde es nicht wundern, wenn Dr. Armageddon irgendwo einen Generator aufgetrieben hätte.«
Tatsächlich ertönte bald die Stimme des Moderators. Dr. Armageddon, wie er sich selbst nannte, hatte angefangen zu senden, als alle anderen aufgehört hatten. Er spielte Musik oder lamentierte über das Leben und den Tod, manchmal informierte er auch über die Stadtbezirke, die man meiden sollte.
… Die größte Party neigt sich ihrem großen Showdown entgegen. Nachdem den LKWs der Sprit ausgegangen ist, haben diese Drecksäcke es geschafft, sie neu zu befüllen. Sie fahren also wieder um die Siegessäule herum. Also, Leute, auf zur Doomsday-Party, aber seid vorsichtig, irgendwelche Idioten haben heute Nacht die Tiere aus dem Zoo frei gelassen. Wenn euch ein Löwe begegnen sollte, schmeißt euch auf den Boden und stellt euch tot. Oder war das bei Bären so? Egal, tröstet euch mit dem Gedanken, der Löwe macht es auch nicht mehr lange …
»Na, Lust auf eine Party zu gehen?« Thomas zwinkerte ihr zu und Melanie lächelte zurück. Er war kein attraktiver Mann, die Nase zu groß für das schmale Gesicht, spargeldürr, aber das störte sie nicht, auch nicht, als sie in der Nacht in sein Zimmer schlich und zu ihm ins Bett stieg. Das, was da passierte, hatte nichts mit Leidenschaft zu tun, es war eher ein animalischer Trieb, der sie beide daran erinnerte, noch am Leben zu sein.
Später hörte sie auf das rhythmische Schlagen seines Herzens. »Ich habe bisher nicht geweint. Auch nicht, als ich mich von meiner Mutter verabschiedet habe, obwohl ich wusste, dass ich sie nie wiedersehen würde. Ich bin ins Auto gestiegen und hierher gefahren.«
»Jeder hat seine eigene Art, damit umzugehen. Aber hier wird es schnell vorbei sein. Wir werden nicht einmal etwas spüren.«
Melanie nickte. Sie gab ihm noch einen Kuss, ehe sie wieder in ihr eigenes Zimmer verschwand.
An Schlaf war nicht zu denken. Sie stellte sich ans Fenster und beobachtete, wie sich die Nacht langsam in die Schatten zurückzog und der Welt ihre Farbe wiedergab.
Das letzte Mal, dass Menschenaugen diesen vergänglichen Moment aufnehmen sollten.
Sie ging zu dem Schrank und holte die Schachtel heraus. Zwischen Seidenpapier schimmerte zartes Rosa.
Der feine Stoff schmiegte sich an ihren Körper, floss in sanften Wellen hinab zum Boden. Das war wirklich kein Kleid von der Stange. Sie drehte sich vor dem Spiegel, nahm eine Spange und steckte sich die Haare hoch. Dann zog sie das Kleid wieder aus, legte es vorsichtig zurück in die Schachtel und schlüpfte in ihre Jeans.
Als sie das Zimmer verließ, vernahm sie einen seltsam beißenden Geruch. Auch Thomas kam aus seinem Zimmer und hielt prüfend die Nase hoch.
Dagmar saß in der Küche, starrte auf die Tasse in ihrer Hand.
»Rieche ich Benzin?«, fragte Melanie.
Der Blick der älteren Frau war leer, als sie Melanie ansah. »Ich habe hier alles mit meinen eigenen Händen aufgebaut. Ich denke, es ist nur fair so.«
Melanies Kehle wurde trocken. Thomas nahm sie am Arm und zog sie zur Tür. »Komm, wir müssen raus hier.«
Dagmar folgte ihnen in den Garten, den Dackel wie ein Baby über die Schulter gelegt.
Die Gardinen hatten bereits Feuer gefangen. Langsam züngelten sich die Flammen rauf bis zum Obergeschoß.
»Es ist nur fair so«, sagte Dagmar.
Melanie nahm ihre Hand, sie zitterte, die andere streckte sie Thomas entgegen, der sie bereitwillig ergriff.
Dagmar sah an ihr herab, Entsetzen lag in ihrem Blick. »Dein Kleid, es ist noch da drin!«
Melanie zuckte mit den Schultern. »Nicht schlimm, ich habe vergessen, passende Schuhe zu kaufen.«
Das erste Mal seit Wochen richtete Melanie ihre Augen hoch zum Himmel. Zu groß war die Angst vor dem, was sie hätte sehen können. Jetzt kam ihr Babydoll auf bizarre Weise schön vor. Der Mensch so unbedeutend.
Ein Wind kam auf und trieb den Qualm fort von ihnen, er brachte auch einen neuen Duft mit.
Seltsam, dachte sie, der Tod riecht nach Flieder.
V2