Von Daniel Magar

​Die Enten im See ahnen nichts vom bevorstehenden Weltuntergang. Sie ziehen zufrieden ihre Kreise in der Nachmittagssonne, sorgsam darauf bedacht, den beiden Schwänen nicht zu nahe zu kommen. Früher mussten sie sich zusätzlich vor umherirrenden Tretbooten in Acht nehmen, doch diese treiben mittlerweile vergessen in der Nähe des mit Graffiti beschmierten Kassenhäuschens, dessen Fensterscheiben schon vor langer Zeit von irgendwelchen besoffenen Jugendlichen eingeworfen worden waren.

Ich überquere die Brücke und stehe jetzt direkt vor meinem Ziel: Dem Kölnturm. Wie den gesamten Mediapark umgibt auch dieses Hochhaus eine Stille, die man einst gespenstig genannt hätte, heute aber völlig normal ist. Vor einigen Jahren noch hätte es auf dem Platz und den daran angrenzenden Cafés und Restaurants an einem schönen Spätsommertag wie heute vor eisleckenden und biertrinkenden Menschen nur so gewimmelt, doch mittlerweile erinnern nur noch einige wenige verdreckte Schilder an die einstigen Mieter der Gebäude, und ich sehe keinen einzigen Menschen. Die Wenigen, die auf der Erde zurückgeblieben sind, haben sich offenbar einen anderen Ort ausgesucht, um die letzten Stunden zu verbringen.

Die verschlossene Eingangstür des Turms stellt kein Hindernis dar, denn auch deren Glasscheiben sind längst zertrümmert worden, und so kann ich einfach durch eines der hinterbliebenen Löcher hindurchschlüpfen. Im Erdgeschoss laufe ich eine Weile umher, vorbei an längst verlassenen Büros, bis ich schließlich den Zugang zum Treppenhaus finde.

Während des Aufstiegs konzentriere ich mich ganz auf die Anstrengung, die letzte sportliche Ertüchtigung meines Lebens. Dreiundvierzig Stockwerke und einige Steigleitern später stehe ich auf dem Dach des Turms. Mein kaputtes Knie schmerzt, aber der kühle Wind, der hier oben weht, tut gut auf meiner schweißnassen Haut.

Im Westen sehe ich den Colonius, der vor circa eineinhalb Jahren, kurz nachdem die ersten Schiffe in Richtung Mars aufgebrochen sind, ausgebrannt ist und nunmehr aussieht wie ein schwarzes, aufgespießtes Ufo. Ich lasse den Blick weiter über die Stadt schweifen und dann plötzlich sehe ich ihn zum ersten Mal in voller Pracht. Ein riesiger, feuerroter Ball, der am Himmel über dem Dom steht wie eine zweite Sonne.

Ich starre den Kometen an, bis meine Augen brennen, und nach wie vor erfüllt mich das bevorstehende Ende der Erde, das auch gleichzeitig mein eigenes sein wird, nur mit einem Gefühl: Gleichgültigkeit.

Es ist schließlich eine rauchige Frauenstimme, die mich aus meinen Gedanken reißt.

„Kann man dir irgendwie weiterhelfen?“, fragt sie.

Ich blicke mich um und sehe erst jetzt, dass nur wenige Meter entfernt von mir eine dürre Frau auf dem Rand des Daches sitzt. Ihre Beine baumeln in die Tiefe, ganz so als würde sie nur auf einem Mäuerchen am Straßenrand sitzen und hätte keine Sorge der Welt. Doch dann trete ich näher heran, sehe das einst wohl hübsche Gesicht, das nun, obwohl es nicht viel älter als fünfunddreißig Jahre sein kann, von tiefen Furchen durchzogen ist, und dann weiß ich, dass ihre scheinbare Unbeschwertheit ebenfalls einzig und allein aus dem Wissen resultiert, dass bald alles ein Ende hat.

„Nein“, antworte ich und stelle mich neben sie. „Ich wollte mir den Rest von hier oben anschauen. Der Aussicht wegen.“

Sie lächelt und steckt sich eine Zigarette an. „Setz dich zu mir“, sagt sie. „Dann können wir zusammen warten. Ich bin übrigens Nadine.“

„Paul.“ Ich gehe vorsichtig einen weiteren Schritt auf den Rand des Daches zu, von dem ich bewusst einige Meter Sicherheitsabstand gehalten hatte.

„Was denn?“, fragt sie lachend, als sie mein Zögern bemerkt, „Hast du etwa Angst?“

Sie streckt eine Hand aus, die ich ergreife. Im Zweifelsfall würde diese dürre Hand meinen Sturz ganz sicher nicht bremsen, sondern eher mitsamt ihrer Besitzerin in die Tiefe gerissen werden, aber trotzdem fühle ich mich sicherer. Es ist lange her, dass ich zuletzt eine menschliche Hand berührt habe. Das letzte Schiff ist vor gut einem Monat in Richtung Mars aufgebrochen, und der Großteil derjenigen, die aus dem einen oder anderen Grund auf der Erde zurückgeblieben sind, haben ihr Warten auf den Tod abgekürzt.

„Auch eine?“, fragt Nadine und hält mir ihre Zigarettenpackung hin, als ich endlich neben ihr auf dem Rand des Daches sitze.

„Danke, ich rauche nicht.“

„Jetzt ist es doch auch egal. Wir haben noch was… zwei Stunden? In der Zeit wirst du wohl keinen Lungenkrebs entwickeln.“

„Darum geht’s nicht. Es hat mir einfach noch nie geschmeckt“, lüge ich und lächle sie an.

„Na dann.“ Sie zuckt mit ihren schmalen Schultern und raucht eine Weile still vor sich hin.

„Was bringt dich hier hoch?“, frage ich schließlich.

„Ich war in den letzten Jahren oft hier oben. Um mich umzubringen. Aber ich habe mich einfach nicht getraut.“

Ein Vogel landet einige Meter von uns entfernt und pickt ein wenig umher. Der größer werdende Feuerball am Horizont scheint ihn nicht zu interessieren. Nadine beobachtet den Vogel, während sie weiterspricht.

„Meine Tochter hat hier gearbeitet. Sie hat sich vor drei Jahren das Leben genommen. Ist auch hier runtergesprungen.“

„Und warum?“

Nadine zuckt wieder mit ihren Schultern, zieht erneut an ihrer Zigarette.

„Überarbeitet. Sie wollte unbedingt Karriere machen, und irgendwann ist sie dann wohl am Druck zerbrochen. Ich habe das alles nicht wirklich mitbekommen, weil ich zu beschäftigt damit war, mit meinem neuen reichen Freund zusammenzuziehen. Nach Claras Tod hatte der dann allerdings nicht mehr viel Verwendung für mich – der wollte eine zum Ficken, nicht zum Trösten. Er hat sich einen Platz auf einem der ersten Schiffe gekauft. Eines Morgens war er einfach weg, und plötzlich hatte ich gar nichts mehr.“ Sie schüttelt den Kopf. „Und trotzdem habe ich es nie geschafft, mich hier runter zu stürzen.“

„Was hat dich zurückgehalten?“

„Ich habe lange darüber nachgedacht, und ich glaube, dass ich bis zuletzt Hoffnung hatte, dass irgendwas passiert, das alles besser macht.“

„Vielleicht ist der Komet ja genau das.“

Nadine lächelt. „Ja, vielleicht.“

Sie schnippt den Kippenstummel weg, und wir sehen ihm zu, wie er nach einigen Metern freiem Fall vom Wind erfasst und fortgetragen wird.

„Und du?“, fragt Nadine.

„Und ich was?“, antworte ich, obwohl ich natürlich weiß, was sie fragen möchte.

„Was ist deine Geschichte?“

„Will nicht drüber reden.“

„Ach komm schon. Jetzt wird dich keiner mehr verurteilen.“

Sie lächelt mich aufmunternd an. Ich sehe, dass sie grüne Augen hat, genau wie das Mädchen damals, und aus irgendeinem Grund ermuntert mich das, ihr alles zu erzählen.

Ich lasse kein Detail aus. Als ich schließlich zum Ende komme, habe ich ihr von allem erzählt: Der Abschlussfeier, dem Mädchen, der Vergewaltigung. Von meinen Jahren im Gefängnis und von jenen danach, während derer die Boulevardpresse mich quer durchs Land gejagt hat.

„Ich habe versucht, wieder Anschluss zu finden, aber immer, wenn ich gerade eine neue Wohnung bezogen hatte, standen irgendwann die Reporter vor der Tür, und über kurz oder lang musste ich die Stadt wieder verlassen. Ich fand keinen Job, keine Freunde und keine Ruhe.“

Ich erwarte kein Mitleid und in Nadines Augen sehe ich auch keines. Aber ich sehe auch keine Verachtung und keine Abweisung. Sie mustert mich konzentriert, aber ansonsten ausdruckslos, und dafür bin ich ihr dankbar.

„Was war das für ein Gefühl, als du entlassen wurdest?“

Ich denke über ihre Frage nach. „Enttäuschung.“

„Enttäuschung?“

„Ich hatte gehofft, dass ich nach meiner Haftstrafe vergessen könnte, was ich getan habe. Aber noch bevor der erste Reporter mich gefunden hatte, wusste ich, dass die Schuld bei mir bleiben wird. Ich schätze, das ist nur fair.“

„Und warum hast du nicht versucht, auf eines der Schiffe zu kommen und dir da oben ein neues Leben aufzubauen?“

„Woher willst du wissen, dass ich das nicht versucht habe?“

Sie lächelt mich an. „Ich weiß es eben.“

„Ich habe einfach eingesehen, dass es für mich in der Gesellschaft keinen Platz mehr gab. Ich hatte meine Chance gehabt und sie verspielt, und ich hatte nach all den Jahren keine Energie mehr, um noch weiterzukämpfen.“

Nadine nickt, dann zündet sie sich eine neue Zigarette an. Lange Zeit sitzen wir schweigend nebeneinander und schauen gen Horizont.

„Was denkst du, wie es sein wird, wenn er einschlägt?“, fragt Nadine.

„Keine Ahnung.“

„Ich glaube, ich werde nicht abwarten, um es herauszufinden.“

„Du willst springen?“

„Du etwa nicht?“

„Ich schätze, ich habe mir noch keine wirklichen Gedanken darüber gemacht.“

„Du kannst mir ja dann erzählen, wie es war, wenn wir uns im Jenseits treffen.“

„Ich glaube nicht ans Jenseits.“

„Dachte ich mir“, sagt Nadine, und plötzlich muss ich laut lachen. Zunächst schaut sie mich irritiert an, dann stimmt sie mit ein. Als wir uns beruhigen, hat sie Tränen in den Augen. Sie wischt sie sich mit dem Handrücken weg, dann legt sie ihren Kopf an meine Schulter.

Wir sitzen da und warten gemeinsam auf den Kometen.