Von Uta Lemke

Als Manuel die Augen öffnete, wusste er, dass etwas falsch war.
Nicht sein brummender Schädel, nicht die Tatsache, dass er nicht im eigenen Bett lag.
Nein, irgendwas viel Schlimmeres stimmte ganz und gar nicht. Langsam sickerte die Erkenntnis durch: Die Tatsache, dass er hier leise atmend lag, dass draußen Vögel zwitscherten und die Sonne durch das verschmutzte Glas schimmerte, das würde an einem normalen Tag nichts Merkwürdiges sein. Aber es war kein normaler Tag. Es war eigentlich gar kein Tag. Heute sollte es längst vorbei sein. In dieser Nacht um genau 4 Uhr 37 hätte Komet C/2023 D2 direkt ins Herz Berlins einschlagen und mit diesem einen Schlag sämtliches Leben im Umkreis von tausenden Kilometern auslöschen sollen. Wochen zuvor hatte man es schon angekündigt, auf sämtlichen Kanälen, in jeder Zeitung: „Nun ist es wirklich soweit – DIE WELT GEHT UNTER!“. Die Menschen hatten ganz unterschiedlich reagiert. Manche hatten tagelang heulend im Bett verbracht, wie seine Ex. Andere hatten ihre Familien besucht um sich zu verabschieden. Wieder andere, wie Manuel hatten die Chance genutzt, am letzten Tag die Chance zu nutzen um allen so richtig die Meinung zu sagen und dann so hart zu feiern, wie nie zuvor, mit der Gewissheit, keine Konsequenzen fürchten zu müssen. Und die wenigen, die es sich leisten konnten, waren in ihre Privatjets gestiegen und so weit weg geflogen wie möglich, auch wenn man überall gesagt bekam, dass der Einschlag eine weltweite Katastrophe zur Folge haben werde und man nicht einfach davor fliehen könnte. „Die dummen Reichen werden einfach ein paar Jahre später verrecken.“, hatte Manuels Großmutter schadenfroh gemeint, um dann die Augen zu schließen und ein Nickerchen einzulegen. Sie gehörte zu der Gruppe Menschen, die das Ganze sehr entspannt aufnahmen, schließlich war sie auch nicht mehr die Jüngste und hatte ihr Leben schon gelebt.
Aber halt, Manuel stockte inmitten seiner Gedanken, was hatte er getan? Bevor er seine lückenhafte Erinnerung dazu befragen konnte, klingelte sein Handy. Fluchend durchsuchte er das Bett, seine Hosentaschen, den Boden. Da war es, das Display, auf dem er den Namen seines Chefs entziffern konnte, komplett hinüber. Immer noch fluchend nahm er ab, die Splitter des Displays bohrten sich dabei in seinen Daumen, was ihn nur noch mehr aufregte. Bis ihm dann einfiel, warum sein Chef anrufen könnte. „WAS HABEN SIE SICH EIGENTLICH DABEI GEDACHT, MEINEN TEUREN PORSCHE ZU SCHROTT ZU FAHREN UND DANN IN DIE SCHEIBE ZU KRATZEN: F*CK DICH CHEF??? FÄLLT IHNEN DENN NICHTS BESSERES EIN, WOMIT SIE IHREN LETZTEN TAG AUF ERDEN VERBRINGEN WOLLEN?“ Vor lauter Schreck über das ihm entgegenkommende Gebrüll ließ Manuel das Handy wieder fallen. Wie konnte sein Chef überhaupt davon erfahren haben, schließlich lag er an irgendeinem tropischen Sandstrand und ließ sich die Sonne auf den Bierbauch scheinen. Naja, vermutlich hatte er alle seine Eigentümer überwachen lassen, obwohl der Staat ja versprochen hatte, dass für jeden Bürger zu übernehmen. Ach ja, die staatliche Überwachung. Auf wie vielen Kameras sein besoffenes Vergangenheits-Ich wohl zu sehen war?
Hätte dieser dämliche Komet nicht einfach das machen können, wozu er bestimmt war? Wieso musste ausgerechnet heute der Tag sein, an dem die Erdbevölkerung verschont wurde? Dabei hätten Sie es doch wirklich verdient. Die Menschen hatten nichts gelernt in den vergangen Jahren. Auch wenn einige besorgte Stimmen gewarnt hatten, war es munter weitergegangen mit Selbstvernichtung durch Kriege und Vernichtung anderen Lebens durch einen rücksichtslosen aber ach so bequemen Lebensstil. Es hatte sich einfach nichts verbessert. Stattdessen waren die Gesetze des Landes immer menschenunwürdiger, die Reichen immer reicher, die Armen immer heruntergekommener und arbeitsloser geworden. Es gab keine Zukunft mehr, zumindest nicht für ihn. Und er hatte sich damit abgefunden. Und ganz ehrlich: Er hatte sich irgendwie sogar gefreut. Endlich hatte er sich getraut, seine zerstörerische Beziehung zu beenden, endlich hatte er seinen beschissenen Job gekündigt und endlich hatte er sich wieder mit seinen alten Freunden getroffen, vor denen ihn seine Mutter vor langer Zeit so eindringlich gewarnt hatte, dass er ausnahmsweise mal auf sie gehört hatte. Er hatte Spaß gehabt, ohne Angst haben zu müssen vor dem Morgen. Er hatte sich so unglaublich frei gefühlt, zum ersten Mal in seinem jämmerlichen Leben. Und nun war ihm das alles einfach genommen worden. Und statt der tödlichen Masse des Kometen drückte die Schwere des Lebens auf seine Brust.