Von Juliane Kunz Seidel

Unsere Stadt war so schön. Ihre Fassaden blendeten uns bei Sonnenschein, so weiß waren sie. Ihre Bäume waren so grün – so grün! Mittags duftete es nach Braten, nachmittags nach Obstkuchen. Es gab Parks, riesige Parkanlagen. In denen rannten die Kinder, hockten die Alten und zockten wir. Vor allem aber erinnere ich mich an die Farben. Unsere Stadt war so bunt.

Und jetzt? Jetzt ist sie schwarz. So schwarz, dass mir die Augen davon brennen. Und dieser Gestank. Er hängt in der Luft wie ein alter schwerer Vorhang, und lässt mich kaum atmen.

Wir haben Wasser gefunden. Einen Bach. Wir trinken daraus, einfach so. Wir haben nichts, womit wir das Wasser reinigen können. Es wird uns vergiften, denke ich und beuge mich hinunter, um einen großen Schluck davon zu nehmen. Als ich meinen Kopf wieder hebe und sich das tanzende Wasser beruhigt, spiegelt sich mein Gesicht darin. Ich erschrecke. Dabei sind die Gesichter der anderen genauso schwarz. Warum sollte meines anders aussehen? Ich wasche mir den Ruß vom Gesicht und weine ein bisschen.

„Kommt“, sagt Lou, „wir müssen weiter.“ Zum Glück haben wir Lou, denke ich. Zum Glück habe ich Lou, dachte ich schon immer. Lou ist mein bester Freund. Seit damals, als mich Ben anspuckte und ich ihn deswegen vom Klettergerüst schubste und er sich dabei den Arm brach. Sein Kumpel Theo wollte mich verprügeln, aber Lou ging dazwischen und brachte mich heim.
„Wo sollen wir denn lang gehen?“, fragt Maggie, ein bisschen Hysterie in der Stimme.
Lous Blick folgt dem Bach stromabwärts und ich nicke. „Wir folgen dem Bach“, bestimme ich.
Irgendwie hat es sich so eingespielt. Lou und ich entscheiden gemeinsam, aber ich sage, wo’s lang geht.
„Da liegt Brinz, oder?“, fragt Maggie.
„Ja“, lüge ich. Die Wahrheit ist: Ich bin mir nicht sicher. Alles sieht gleich aus – verkohlt, verbrannt, tot.
„Lebt da überhaupt noch jemand?“, fragt Jolie, Maggies kleine Schwester.
Ich weiß nicht, was ich antworten soll, also halte ich den Mund und gehe voran.

Lebt da überhaupt noch jemand. Lebt überhaupt noch jemand? Sind wir ernsthaft die einzigen Idioten, die das hier überlebt haben? Soll wirklich so eine dumme Katze unser beschissenes Leben gerettet haben?
„Helft ihr“, hatte Jolie gefleht. „Sie stirbt sonst“, hatte sie gejammert. Lou und ich hoben den Gullideckel an und schoben ihn zur Seite. Ich stieg zuerst hinunter. Dann Lou. Maggie hatte eine Scheißangst, aber musste ja doch mit. Jolie wollte erst oben bleiben, aber dann wurde es ihr mulmig so alleine und sie kletterte uns nach. Wir hielten die Handies nach oben, um besser zu sehen, aber so eine Taschenlampen-App taugt in der Kanalisation nicht viel, mussten wir feststellen.

Die Katze haben wir nicht gefunden. Stattdessen hörten wir ein lautes Zischen. Es klang, als würde es direkt auf uns stürzen und zwang uns in die Knie. Dann ein lauter Knall. Nein, kein Knall. Ein Boom. Wir warfen uns ins Wasser, schlugen die Hände über den Köpfen zusammen und kreischten wie die Verrückten. Dann kam die Hitze. Wie eine Welle rollte sie durch den Kanal und blieb darin hängen. Ich konnte kaum atmen. Und dann? Nichts dann. Stille. An der nächsten Leiter stiegen wir hinauf. Und waren in der Hölle.

Lou holt mich ein. „Wenn wir ein Haus oder einen Supermarkt finden, sollten wir uns was zu essen besorgen“, flüstert er. „Ich habe noch nicht einen Vogel gesehen, seit wir unterwegs sind. Wird schwierig werden, hier etwas Essbares zu finden.“
„Hätten wir die Katze gefunden …“ Ich lächle, er grinst. Genau unser Humor. Er legt seine Hand auf meine Schulter und dieses kribbelige Gefühl in meinem Bauch ist wieder da. Scheiße.

Wir laufen eine weitere Stunde. Und noch eine. Ob es mittlerweile Nacht ist? Wir wissen es nicht. Alles um uns herum ist schwarz. Sogar der Himmel. Wo sind die Sterne, frage ich mich und blicke nach oben. Ich stolpere über eine bescheuerte Wurzel und Lou fängt mich auf. Kann die Zeit bitte genau jetzt stehen bleiben? Hier und jetzt. In seinen Armen.
„Ich habe Hunger“, jammert Jolie.
Nein. Natürlich nicht. Heute ist mein Unglückstag.
„Wir haben nichts zu essen, Kleines.“ Maggie hat eine Engelsgeduld. Sie erträgt alles, irgendwie.
Wir schleppen uns weiter voran.

„Ernsthaft, Leute, ich verhungere.“
„Gut so“, platzt es aus mir heraus. „Wenn du zuerst stirbst, können wir dich essen.“
„Sia!“, schimpft Maggie, Jolie schluchzt. „Sie hat nur Spaß gemacht, Kleines.“
„Wir werden alle sterben“, heult Jolie und lässt sich auf die Knie fallen.
Ich schnaube. Gott, schenke mir Geduld, denke ich und sage: „Keiner stirbt hier. Steh auf.“
„Ich kann aber nicht mehr!“
„Wir sollten eine Pause machen“, schlägt Lou vor. „Ein bisschen schlafen.“

Wir beschließen in Schichten zu schlafen. Für den Fall, dass jemand kommt oder wir jemanden hören. Von wegen Rettung und so. Ich übernehme die erste Schicht. Lou legt sich neben mich und ich verbringe lange damit, ihn beim Schlafen zu beobachten. Was zur Hölle haben wir getan, dass wir noch leben? Ich habe mal von Überlebenden eines Flugzeugabsturzes gelesen. Die waren in den Bergen gefangen und aßen tatsächlich die Toten, um zu überleben. Mein Hals kratzt. Ich huste. Ich huste immer heftiger bis mir die Tränen laufen und ich kotzen muss. Danach sinke ich zusammen und schlafe ein. Ich hatte es nicht mehr geschafft, Lou für seine Schicht zu wecken.

Später wird man von uns erzählen. Man wird sagen: „Die haben überlebt.“ Dabei fühle ich mich so tot, wie der tote Boden unter mir. Meine Eltern: tot. Mein Bruder: tot. Meine Oma: tot. Alle in meiner Klasse. Alle in meiner Mannschaft. Ben. Theo. Ich liege da, halb wach, halb tot und ihre Gesichter ziehen an mir vorbei. Und mein Kopf dröhnt. Es dröhnt immer lauter und ich halte mir die Ohren zu. Der Wind bläst mir Ruß ins Gesicht und ich presse die Augenlider fester zusammen.
„Ein Hubschrauber!“, ruft Lou neben mir und springt auf. Er winkt mit den Armen und hüpft auf und ab wie ein Besessener. Allmählich komme ich zu mir. Und zu viert, Lou, Maggie, Jolie und ich, hüpfen und winken und schreien wir. Der Hubschrauber fliegt eine Kurve über uns und tatsächlich öffnet sich die Seitentür. Eine Person, so schwarz wie alles andere hier, lässt sich an einem Seil herab.

Maggie schluchzt, Jolie rennt einfach los, dem Fremden entgegen. Ich grinse. Ich muss einfach grinsen. Ich spüre Lous Blick auf mir. Ich grinse ihn an. Und er? Er nimmt mein Gesicht in seine Hände und küsst mich. Einfach so. Meine Kehle schnürt sich zu. Ich bin kurz davor zu heulen wie ein kleines Kind. Also halte ich mich an ihm fest. Und er zieht mich noch näher an sich.

Im Hubschrauber erklären sie uns, dass ein Komet mit einem Durchmesser von 300 Metern in die Erde eingeschlagen war, ungefähr bei Berlin. Er hat alles im Umkreis von 5.000 Quadratkilometern vernichtet. Deutschland, Polen, Tschechien sind fast vollständig zerstört. Man schätzt, dass 250 Millionen Menschen ums Leben gekommen sind. Und wir? Wir hatten uns zwei Kilometer vor der sogenannten Überlebensschwelle schlafen gelegt. Nur ein Hubschrauber wurde losgeschickt, niemand rechnete mit Überlebenden. Und doch sind wir hier. Maggie. Jolie. Lou. Und ich. Lou und ich. Heute muss mein Glückstag sein. Lou verschränkt seine Finger in meinen.