Von Hella Sehnert

Mit einem leichten Stirnrunzeln legt er auch das letzte Blatt zur Seite und mustert den ihm gegenüber sitzenden Mann einen Moment eindringlich.

„Das ist sehr bewegend Robin. Wirklich, sehr bewegend.“

Einen Augenblick ist der Raum von Schweigen erfüllt, nur das leise Ticken der Uhr erinnert daran, dass die Zeit nicht still steht.

Dann räuspert sich der leicht untersetzte Mann, streicht sich mit der Hand durch das schüttere Haar und fährt fort. „Du hast mir gegenüber nie von einer Schwester gesprochen. Ehrlich gesagt, dachte ich immer, dass du ein Einzelkind wärst.“

„Macht das denn einen Unterschied?“ Seine Stimme klingt tonlos, sein Blick ist auf den beigen Teppich gerichtet  und er wirkt angespannt.

Noah betrachtet ihn eingehend, seine Augen huschen über sein Gesicht und suchen nach dem Lächeln, das sonst so oft die Lippen seines Schwagers umspielt hat. Aber nichts… Da sind nur tiefe Schatten unter seinen Augen und Sorgenfalten, die seine sonst so glatte Stirn durchfurchen.

„Wenn das hier funktionieren soll, Robin, dann musst du mir ein bisschen helfen. Rede mit mir.“

„Und was soll das bringen?“ Die Stimme des Mannes scheint zu brechen, während er dem Psychotherapeuten verzweifelt entgegenblickt. Er wirkt hilflos und irgendwie verloren, wie er dasitzt, die Schultern zusammengesunken, die Lippen aufeinander gepresst.

Noah Hughes seufzt. Es tut ihm weh, den sonst so selbstbewussten und fröhlichen Mann so zu sehen.
`Nadine hat nicht übertrieben´, geht es ihm durch den Kopf und fast schämt er sich dafür, dass er den Worten seiner Schwester zunächst keinen Glauben geschenkt hatte.

„Vielleicht wird es dir helfen, den Tod von Rose nach so vielen Jahren endlich zu verarbeiten. Verdrängung ist keine Lösung, Robin. Ebenso wie der Griff zum Alkohol. Das wirst du doch sicherlich begreifen, oder?“

Erneut schlägt ihm Stille entgegen. Sein Patient hüllt sich in Schweigen. Das kommt öfters vor und ist somit kein Einzelfall, aber dennoch fällt es ihm diesmal schwer, die richtigen Worte zu finden.

„Wie alt warst du, als du „Ein Mädchen namens Rose“ geschrieben hast?“ Er deutet auf die Geschichte, die ich er sich zuvor durchgelesen hat.
Sein Gegenüber zuckt die Schulter, doch sein Unbehagen ist ihm deutlich anzusehen.

„So 17 oder so.“

„Nadine hat erzählt, dass du damals immer viele Geschichten geschrieben hast. Wenn ich mich recht entsinne, wolltest du sogar Schriftsteller werden, oder?“

„Das ist Jahre her.“

„Und schreibst du immer noch?“

Er schüttelt den Kopf.

„Wenn es doch eine so große Leidenschaft von dir war, warum hast du dann aufgehört? Du hast,laut Nadine, großes Talent. Und an Ideen kann es dir ja auch nicht mangeln, nach allem, was eure Tochter so erzählt.“

„Ich… Naja…“

Sein Blick huscht unruhig durch das Zimmer und bleibt an der Vitrine mit den Familienbildern hängen. Er hat sich geweigert, in Noahs Praxis zu fahren, stattdessen sitzen sie nun bei ihm im Wohnzimmer.

„Ich habe für sie geschrieben. Sie hat es geliebt, wenn ich ihr vorgelesen habe. Das war irgendwie so unser Ding…“

Er atmet tief durch und richtet seinen Blick erneut auf den Boden. Es ist ein seltsames Gefühl, über seine Schwester zu reden. Für gewöhnlich meidet er das Thema, ja, meist tut er so, als hätte sie nie existiert. Aber vor einigen Wochen hat ihn die Vergangenheit eingeholt und seitdem verfolgt sie ihn, wie ein böser Geist.

„Und seitdem sie tot ist, hat das Schreiben für dich seinen Sinn verloren? Kann man das so sagen?“

„Irgendwie schon.“

„Gibt es denn eine besondere Situation, an die du dich erinnerst und die du mit dem Schreiben und Rose verbindest?“

Einen Moment überlegt er, dann stiehlt sich ein zaghaftes Lächeln auf sein Gesicht.

„Ihre Lieblingsgeschichte war immer die von der Sternenprinzessin Kintana.“

„Erzähl mir mehr davon. Wie war es, wenn du ihr vorgelesen hast?“

„Meist haben wir alle gemeinsam zu Abend gegessen und anschließend ging es für Rose auch schon ins Bett. Irgendwann hat es dann angefangen, dass ich ihr Gutenachtgeschichten erzählt habe. Sie wollte immer irgendwas von Prinzessinnen und Feen hören. Du kennst das ja.“ Er lacht und nickt zu einem der Bilder hinüber.

Noah hat selbst drei Töchter und schmunzelt willkürlich, als er daran denkt, wie sie sich immer mit dem Lippenstift seiner Frau bemalt hatten.

„Jedenfalls hat sie eines Abends eine Sternschnuppe beobachtet und mich ganz aufgeregt gefragt, was das denn gewesen sei. Ich erklärte ihr, dass sie jetzt einen Wunsch frei hätte, weil sie soeben die Sternenprinzessin hatte vorbei fliegen sehen.“

Seine Augen leuchten, während er weiter spricht und in Erinnerungen schwelgt.
Fast kann er das kleine Mädchen wieder vor sich sehen, mit ihren geflochtenen Zöpfen und ihrem unverkennbaren Lachen.


„Robbie“, hatte sie immer zu ihm gesagt. „Robbie, bitte erzähl mir eine Geschichte.“

Und er hatte eingewilligt, unter der Bedingung dass sie anschließend wirklich schlafen müsse.
„Jaja, aber jetzt erzähl“, hatte sie dann gefordert und lachend hatte er sich an das Fußende ihres Bettes gesetzt und zu erzählen begonnen.


„Es war einmal vor langer Zeit, da lebte ein kleines Mädchen, wie du es bist und es wünschte sich nichts sehnlicher, als eines Tages zum Mond zu fliegen. Sie schwärmte vom Weltall mit all seinen Planeten und Galaxien, von den endlosen Weiten und wunderlichen Welten, die da oben auf sie warteten. Den ganzen Tag schlief sie, doch sobald die Sterne den Himmel eroberten, schlug sie die Augen auf, stellte sich ans Fenster und beobachtete die vielen leuchtenden Punkte am Firmament.

„Eines Tages“, sagte sie zu sich, „Eines Tages werde ich selbst dort oben leben.“

Manchmal glaubte sie sogar, die Sterne flüstern zu hören. Sie erzählten ihr viele Geschichten und eines Nachts verrieten sie ihr, dass sie ihr einen Kometen schicken würden, damit sie zu ihnen reisen könne.

Das kleine Mädchen war so aufgeregt, dass es den ganzen Tag kein Auge zubekam. Sie zählte die Stunden und es waren wahrhaftig viele Stunden, bis der Mond die Sonne ablöste und der Erde sein Licht spendete. Kaum stahlen sich die letzten Sonnenstrahlen über den Rand der Welt, da sprang sie zur Tür hinaus. Am Gartenzaun zögerte sie einen Moment, jedoch nur kurz und trat dann auf die Straße.

„Was nun?“, fragte sie sich, den Kopf gen Himmel gewandt. „Sterne, sagt mir, was soll ich tun?“

Doch diese Nacht blieben sie stumm. Kein Ton erreichte das Mädchen und gerade, als ihr die erste Träne der Enttäuschung über die Wange rinnen wollte, da entdeckte sie ein helles Leuchten am nächtlichen Himmel. Zunächst dachte sie, es sei ein ganz besonders prächtiger Stern, doch dann sah sie, dass sich ein bläuliches Schimmern von ihm ausbreitete und er mit ungeheuren Tempo über das Dach der Welt schoss, direkt auf sie zu.

„Der Komet!“, rief sie und hob die Arme, fast als wolle sie ihn zu sich winken. „Das ist der Komet, den mir die Sterne schicken!“

Lachend und jubelnd drehte sie sich im Kreis, den immer größer werdenden Himmelskörper nicht aus den Augen lassend. Doch zu ihrer Enttäuschung musste sie feststellen, dass er mit einem Mal anfing, seinen Kurs zu ändern. So steuerte er, kaum dass er in Sichtweite war, nicht mehr ihren Vorgarten an, sondern einen Punkt, der außerhalb der Stadt lag.
Da begann das kleine Mädchen zu laufen, hatte sie doch Angst, dass der Komet sonst ohne sie wieder fortfliegen würde.

Dieser  raste nun auf die Erde zu. Das Mädchen lief durch viele verwinkelte Gassen, hinaus aus der Stadt auf ein großes Feld. An seinem Rande hielt es an und atmete tief durch, das Leuchten des Schweifsterns erhellte die Nacht mit unvorstellbaren Glanz. Kurz bevor er in den Boden einschlug, verringerte er sein Tempo und blieb knapp über dem feuchten Gras vor dem Mädchen schweben.

Zaghaft streckte sie die Hand nach ihm aus und berührte seine raue Oberfläche. Erneut blickte sie zu den Sternen hinauf und als sie ihr aufmunternd zublinzelten, fasste sie sich ein Herz und kletterte auf den Rücken des beachtlichen Kometen.

„Halt dich fest!“, rief ihr der Nordstern zu und als sie sich mit beiden Händen an dem Kraterrand festklammerte, erzitterte der Himmelskörper unter ihr und begann gemeinsam mit dem kleinen Mädchen seine Rückkehr ins endlose Universum.

Das Mädchen hieß Kintana und von diesem Tag an regiert sie den Himmel, denn sie wurde von den Sternen zu ihrer Prinzessin ernannt. Seitdem jagt sie auf ihren Rücken über das Dach der Welt und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen die sie erblicken, Wünsche zu erfüllen.  So, wie die Sterne ihr damals ihren größten Wunsch erfüllt hatten.

Aber du musst deinen Wunsch mit Bedacht wählen und du darfst ihn niemanden verraten, denn sonst verliert er seine Kraft.“


Nach dieser Geschichte hatte sie ihn angestrahlt, die Augen anschließend fest zusammen gedrückt und sich gewünscht, dass sie niemals Etwas von ihrem großen Bruder trennen würde.