Von Florian Ehrhardt
Im Eiltempo rase ich die A7 entlang. Der Tacho zeigt 175 km/h. Laut Fahrzeugschein packt meine Karre nur 167. Hoffentlich fliegt mir das Ding nicht auseinander, bevor es zu spät ist. Mein Ziel ist immer noch fast 200 Kilometer entfernt. Meine Gedanken schweifen ab, plötzlich ist die Erinnerung an ein Gespräch vor ein paar Wochen sehr präsent.
„Koks und Nutten.“
„Äh, was?“
„Ich sagte: Koks und Nutten!“
Christian blickt mich weiter verwirrt an. „Was willst du denn mit Koks und Nutten machen?“
„Na, ins Planetarium gehen!“
Christian kann mir immer noch nicht folgen. „Was zur Hölle willst du mit Koks und Nutten im Planetarium?“
„Es war ein Witz! Meine Güte Christian, du stehst heute aber wirklich verdammt auf dem Schlauch! Was macht man denn normalerweise mit Koks und Nutten?“
An Christians Grinsen erkenne ich, dass er mich verstanden hat.
Dann fragt er weiter: „Wirklich? So oberflächlich bist du?“
„Naja, wenn ich wüsste, dass ich sterben muss, warum sollte ich dann nicht nochmal so richtig Spaß haben?“
„Also andere machen dann nochmal eine Weltreise oder sowas.“
„Ich aber nicht. Koks und Nutten, mein Lieber. Ganz einfach. Und wenn es mir dann langweilig wird, kaufe ich mir einen Porsche und setze ihn mit mindestens 200 km/h gegen nen Baum!“
„Go out with a bang, hmm?“
„Exactly!“
Wie naiv ich doch damals war. Ich wüsste gar nicht, wie ich überhaupt an Koks kommen sollte. Dealer laufen mir schließlich nicht die ganze Zeit über den Weg.
Die Autobahn ist komplett leer. Wie sollte es auch anders sein. Es ist mitten in der Nacht. Die letzten 48 Stunden haben mein Leben auf den Kopf gestellt. Wenn ich doch nur die Zeit zurückdrehen könnte. Aber das geht nicht. Zeit scheint das einzige zu sein, was wir Menschen nicht kontrollieren können. Ich denke an gestern Morgen. Wieder war ich mit Christian zusammen.
„Du kannst dich nicht einfach in Regierungsnetze hacken! Die werfen dich raus! Das ist wie desertieren!“
Christian lächelt verschmitzt: „Klar kann ich das. Wenn du weißt wie es geht, ist es kinderleicht. Wirklich total einfach.“
Er scrollt sich durch hunderte von E-Mails.
„Glaubst du die Landwirtschaftsministerin hat was mit dem Innenminister? Die schreiben sich ja ´nen Haufen an Mails!“
Meine Frage löst einen Lachanfall bei Christian aus. Dann wird er plötzlich sehr still. „Schau mal, da steht Top Secret im Betreff der E-Mail!“
„Los, Klick sie an! Vielleicht steht ja drin, was in Area 51 ist. Die scheint aus den USA zu kommen!“
Plötzlich ist auch Christian nervös. Ich kenne ihn seit Kindheitstagen. Er war immer schon mein bester Freund. Hat mich in allen Lagen meines Lebens unterstützt. Und der mittlerweile 25-jährige junge Mann kennt sich verdammt gut mit Computern aus. Währenddessen bin ich jetzt nicht ganz schlecht in BWL. Die wenigstens machen so jung den Master. Wenn wir noch eine gute Idee für ein Startup hätten, wären wir in zwei Wochen mit Sicherheit Millionäre. Sagt Mama. So lange wir diese Idee aber noch nicht haben, sind wir gemeinsam beim Bund. Genug erzählt. Es ist so weit, Christian öffnet die E-Mail. Ich beginne zu lesen. Nach drei Sätzen wird mir schwarz vor Augen.
Das ferne Grollen des Donners schmeißt mich aus meinen Erinnerungen heraus. Die Nacht erstreckt sich weiterhin in purer Schwärze vor mir. Erschreckt durch das laute Geräusch nehme ich den Fuß vom Gas. Aber nur kurz. Denn ich habe ein Ziel. Dieses Ziel ist laut Navi nur noch 100 km entfernt. Theresas Gesicht tanzt vor meinem geistigen Auge.
„Fabian, du musst dich entscheiden! Ich oder deine Karriere! Afghanistan geht nicht!“
Ich blicke sie stumm an. Normal stellt eine Frau ihren Mann (in meinem Fall ihren Freund) nur am Anfang von schlechten Witzen vor so eine Entscheidung. In diesen Witzen kommt dann ein flapsiger, witziger Kommentar vom Mann. Von mir kommt nichts.
Theresa sieht mir tief in die Augen. „Fabi. Ich will dich nicht vor diese Entscheidung stellen. Aber es geht einfach nicht anders!“ Die letzten Worte schleudert sie mir fast schon verzweifelt entgegen.
„Ich will mich aber nicht entscheiden. Ich liebe dich! Und es wäre doch nur ein halbes Jahr in Kabul! Dann bin ich wieder ganz für dich da! Und mit den Pluspunkten fürn Auslandseinsatz und dem Master ist dann die Karriereleiter nach oben weit offen! Dann kann ich dir alles bieten, was du verdienst!“
„Ich will aber dieses ganze Zeug nicht! Den Schmuck, die Uhren, die Kinokarten. Ohne dich ist das doch alles wertlos!“
Ich spüre Wut in mir aufsteigen. „Ich mache das doch alles nur für dich! Für unsere Zukunft! Das kannst du mir doch nicht ankreiden wollen!“
„Du verstehst es nicht.“ Tränen füllen ihre Augen. „Du willst es nicht verstehen! Geh.“ Sie sagt es leise. Aber doch so bestimmt. Ich halte ihren Blick nur kurz aus. Versuche mich ein letztes Mal zu wehren. „Aber Theresa-“ will ich beginnen, doch sie Schneidet mir das Wort ab.
„Es ist aus! Aus und vorbei! Und jetzt raus hier!“
Ich erkenne, dass ihre Entscheidung endgültig ist. Die Tür fällt vor meiner Nase ins Schloss. Das Geräusch zerreißt die Stille.
Und weckt mich wieder aus meinen Gedanken. Nicht die knallende Tür, sondern der rollende Donner hat mich aufgeschreckt. Oder ist Er das schon? Nein. Das ist zu früh. In der E-Mail stand, Er würde erst um 5:39 kommen. Nach Ortszeit. Ich werfe einen Blick auf meine Uhr. Immer noch fast dreieinhalb Stunden Zeit. Sehr gut. Ich komme meinem Ziel immer näher. Ich blicke zum Horizont. Die Nacht ist pechschwarz. Meinen letzten Sonnenuntergang hätte ich vielleicht genießen sollen, aber die Sonne ist gerade untergegangen, als ich mich entschieden hatte, loszufahren.
„Du kannst nicht von Berlin bis ins Allgäu fahren!“
„Warum denn nicht? Sie ist das wichtigste in meinem Leben.“ Ich schlucke, denn so wirklich habe ich mir das nie bewusst gemacht. Ist es jetzt etwa schon zu spät? Nein, und deshalb muss ich los.
„Fabi! Du kannst doch deine letzte Nacht auf der Erde nicht auf der Autobahn verbringen! Das ist doch einfach nur Verschwendung von Lebenszeit!“
„Was soll ich denn sonst machen?“
„Koks und Nutten?“, fragt Christian zaghaft.
„Mach’s gut. Wir sehen uns in der Hölle, altes Haus!“
Ich nehme die Ausfahrt. Ich kenne diese Strecke in-und-auswendig. Jede Kurve. Ich habe hier schließlich meine halbe Kindheit verbracht. Vorbei am Rathaus, an der alten Schule. Endlich komme ich bei ihrer Wohnung an. Erst kurz vor vier. Ich lächle glücklich. Und klingle Sturm.
Nach dem dritten Versuch meldet sich eine verschlafene Stimme.
„Ja?“
„Ich bin’s, Fabi.“
Stille.
Ich schicke ein leises Stoßgebet zum Himmel.
„Was ist los?“
Sie klingt ziemlich genervt.
„Lass mich bitte rein, es ist wichtig! Wichtiger als alles andere!“
Sie scheint kurz zu überlegen. Dann kann ich ihre Stimme, die durch die Sprechanlage verzerrt wird, wieder hören. „Ok. Aber wehe es ist nichts Wichtiges!“
Sie versucht drohend zu klingen, doch ich höre die Angst, die in ihrer Stimme mitschwingt. Sie weiß, dass irgendwas sein muss.
Die Tür summt und gibt nach, als ich drücke.
Kurze Zeit später stehe ich in ihrer Wohnung. Heulend. Ich habe es nicht mehr ausgehalten, als sie endlich im Nachthemd vor mir stand. So schön. So verletzlich. Unter Tränen erzähle ich ihr alles. Von Christians Hackerei. Von der Mail. Und von dem Kometen, der in weniger als 2 Stunden alles Leben auf der Erde vernichten soll.
Mit schreckgeweiteten Augen hört sie mir zu. „Das kann nicht sein. Das darf nicht wahr sein.“
„Ich wollte meine letzten Stunden mit dir verbringen.“
Nun bricht auch sie in Tränen aus.
Ich nehme sie in den Arm. Ihre Haut ist so wunderbar weich. Ich will ab jetzt jede Sekunde genießen.
Eng umschlungen liegen wir da. Lieben uns. Wärme füllt meinen ganzen Körper.
Die Zeit scheint stillzustehen. Doch die Uhr an der Wand tickt. Irgendwann horcht Theresa auf. Blickt gebannt an die Wanduhr. Als ihr Gesicht wieder meinem zugewendet ist, erkenne ich rasende Wut.
„LÜGNER! Du hast mich schon wieder angelogen! Wie konnte ich nur so dumm sein und dir glauben! Es ist 5:47! Dein dummer Komet müsste schon längst-“
Mitten im Satz bricht sie ab, blickt erschrocken auf.
„Hörst du das auch?“
Grauen macht sich in mir breit. Ich bringe nur eine geflüstertes „Ja“ zustande.
Das Donnern, welches wir beide vernehmen, wird stetig lauter.
Lass es nur ein Gewitter sein, denke ich mir.
„Küss mich!“, haucht sie.
Ich befolge diesen letzten Befehl.