Von Ulli Lenz

Ein Blick auf die Uhr zeigt ihm, dass sie spät dran ist. Unruhig tritt er von einem Bein auf das andere, und versucht so unauffällig wie möglich, aus seinem Versteck hinter dem Fliederstrauch die Eingangstüre zu ihrem Wohnhaus zu beobachten. Er stellt ihr nun bereits seit fast zwei Wochen tagtäglich nach. Das allein ist schon Beweis genug dafür, dass sie ihn verhext hat.  

 

Vom Kollegen mit dem Forschungsschwerpunkt „Historisches Bürgertum“ hat er den Tipp mit dem guten Tee aus der kleinen Bäckerei, gleich an der Hinterseite des Instituts, bekommen. Das muss jetzt ungefähr drei Monate her sein. Neunzig Tage also. Achtundachtzig Tage, um genau zu sein.

Er wollte sich nur schnell einen Earl Grey holen. Das weiß er noch genau. Allein deshalb ist er dort gewesen. Aber dann hat das Mädchen ihn so frech angelächelt, als sie ihm seinen Becher gegeben hat, und ihre hellen Augen haben dabei provozierend geblitzt…

Sie hat auffällige Augen, hellblau mit einem dunkelblauen Rand rund um die Pupille. Und wenn das Licht schräg durch die Auslage der Bäckerei strahlt, glänzen sie regelrecht silbrig. Wie das spiegelglatte Meer, wenn die Sonne kurz davor ist, hinter dem Land zu verschwinden, und das Wasser plötzlich wie Quecksilber aussieht.

Dieser kurze Blick direkt in seine Augen hat ihn regelrecht elektrisiert. Der Stromstoß hat ihn bis ins Herz getroffen, hat es verwünscht und dunkel gemacht. Er fühlt das Pulsieren mittlerweile Tag und Nacht, es lässt ihn nicht mehr los.
Toxisch, manisch, besessen.

Hexe!

 

Es ist ihm nicht sofort bewusst geworden, dass sie ihn verflucht hat.  Zuerst hat er sich jeden Vormittag seinen Tee geholt. Nicht anders, als andere auch. Doch bald schon hat er bemerkt, dass sie ihm im Kopf herumspukt, ihn beschwört und ruft. Also hat er später begonnen, zweimal am Tag zur Bäckerei zu laufen.
Das Pochen in ihm verstummt, sobald er in ihrer Nähe ist. Und sein schweres Herz beruhigt sich beim Anblick ihrer rotblonden Mähne, ihrer drallen Figur.
Ja, sie ist rotblond, nicht dunkelhaarig, doch er hat sie erkannt…

Die kurzen Ausflüge in die Bäckerei haben sich geändert. Er kauft nicht mehr „to go“, sondern bleibt im Laden, um am Stehtisch zu trinken. Langsam.
Schließlich ist er dazu übergegangen, sich jedes Mal auch etwas von dem Gebäck zu nehmen. Darauf kaut er minutenlang herum. Das süße Zeug vermag sein bitteres Herz nicht zu entschädigen. Aber er erkauft sich damit ein paar Minuten Ruhe, ohne aufzufallen.

Die geliebte Arbeit ist zur Herausforderung geworden. Seine Konzentration schwindet mehr und mehr. Jeden Tag geht ein Krümelchen davon verloren, und die Spur der Krümelchen führt zur Hexe.
Ihre arbeitsfreien Tage stellen ihn auf die Probe, haben ihn erfinderisch werden lassen. Verfolgen, Verstecken, Beobachten sind zur normalen Routine geworden.

Die Abende sind am Schlimmsten. Zu viel Zeit, zu wenig Ablenkung. Er versucht am Projekt zu arbeiten, um seine nachlassende Arbeitsleistung am Institut zu vertuschen. Doch „Der hundertjährige Krieg“ kann ihn nicht mehr besänftigen, wo doch seine Gedanken selbst Krieg führen.
Er ist sich sicher. Sie ist zurückgekehrt. Wieder einmal. Möglicherweise hat sie noch nicht die entscheidenden Visionen erhalten. Doch das ist nur eine Frage der Zeit. Und dann wird sie in den Kampf ziehen.

Er hat versucht, sich abzulenken. Ist ins Kino gegangen, ins Museum.
In den Wald.
Es ist zwecklos. Sie ist in seinem Kopf. Sein limbisches System steht in Flammen, und die Hexe tanzt um das Feuer. Sie ist von ihrem Erfolg überzeugt. Und noch wähnt sie sich in Sicherheit. Doch er wird sie nicht gewinnen lassen.
Sie hat es bereits einmal geschafft, die Engländer zu vertreiben. Aber ihn wird sie nicht besiegen. Er wird ihr zuvorkommen.

 

Als die Tür des Wohnhauses aufschwingt, und sie eiligen Schrittes auf die Straße läuft, atmet er erleichtert auf. Das Pochen wird leiser, sein Herz beruhigt sich.
Mit eingesteckten Händen und tief über die Augen gezogener Mütze nimmt er die Verfolgung auf. In der rechten Manteltasche ergreift er das Messer, mit der linken Hand tastet er nach den Zündhölzern. Alles ist an seinem Platz.

Nur noch wenige Schritte. Nur noch kurze Zeit das Pochen.
Der Scheiterhaufen wartet.
Brenne, Jeanne. Brenne!

 

Version 2