Von Marc Späni

Aus einer lateinischen Chronik des 11. Jahrhunderts

Graf Hunfried war ein Mann von praktischem und schnellem Verstand. Aus diesem Grund hatte ihm Kaiser Karl auch die Herrschaft über Churrätien anvertraut. Die ersten drei Jahre als Comes Curiae waren allerdings von Streitereien mit dem alten Bischof Remigius getrübt, der das Königsgut nicht anerkannte und sogar damit drohte, beim Kaiser persönlich eine Untersuchung zu beantragen, obwohl dieser die Güterteilung seinerzeit ja selber angeordnet hatte.

Eines Tages zog Hunfried mit einem großen Gefolge auf die Treibjagd. Den wilden Rhein hinauf und bis ins Gebiet, das die Einwohner Tumilasca nennen, hetzten sie mit ihren Hunden Rotwild, Eber und Wildschwein. Den Grafen gelüstete aber, eines dieser scheuen Geschöpfe mit der herrlich geschwungenen Hörnern zu erlegen, einen Steinbock, oder wie es die Einheimischen nennen, ein Capricorn. Da diese Tiere aber nur weit oben in den Bergen leben, setzte sich Hunfried mit einigen Begleitern von der Jagdgesellschaft ab, folgte der Straße nach Lamparten die Alvula hinauf bis zur Burg eines königlichen Verwalters. Dieser wies ihnen den Weg in eines dieser Seitentäler, die nirgendwo mehr hinführen, und von dort eine bewaldete Talflanke hoch; hier würden sie Steinböcke finden. Es war zwar bereits später Nachmittag und der Graf litt wegen des warmen Gebirgswindes an Kopfschmerzen, er war aber so sehr im Jagdfieber, dass ihn nichts mehr aufhalten konnte. Mit Pfeilbogen und Jagdmesser stürmte er den Berg hoch und bemerkte nicht, wie seine Gefährten zurückblieben und seine Spur schließlich ganz verloren. Auf einer Alpweide sah er in einiger Entfernung endlich eines der gehörnten Tiere. Er spannte den Bogen und zielte genau, doch bevor er noch seinen Pfeil abschießen konnte, stürzte das stolze Tier leblos zusammen, und weiter drüben aus dem Unterholz trat ein Mann, den Bogen in der Hand, ging zum erlegten Wild hin und machte sich daran, es auszunehmen. Der Graf trat hinzu, grüßte und schaute  dem Einheimischen zu, wie er das Tier kunstvoll und routiniert ausweidete. Der Pfeil hatte es mitten ins Herz getroffen. Hunfried, der festgestellt hatte, dass er allein war, hielt es für angebracht, seine Identität zu verschweigen. Diese Eingeborenen waren eigensinnige Leute, die sich mit Autoritäten schwer taten, zudem sollten viele von ihnen Zauberkünste beherrschen. Noch immer waren ihm Begegnungen wie damals in Petra Grossa in Erinnerungen, wo einmal mehr ein harmloses Gespräch mit dem Tod mehrerer Bauern geendet hatte. Sie unterhielten sich, so gut es ging, über die Jagd und die Tierwelt, nur auf die vorsichtige Frage, wem der Jäger dienstbar war, erhielt Hunfried keine Antwort.

Es dunkelte, und der Mann führte den Grafen auf eine Geröllhalde, wo er in einer einfachen Behausung aus groben Steinen mit seiner Frau und deren Mutter lebte. Hässlich wie eine alte Ziege war die Alte und mit Amuletten behangen, die junge Frau dagegen war von so ausnehmender Schönheit, wie sie der Graf noch nie gesehen hatte: Sie hatte weiche Zügen, ihr langes Haar und ihre Augen waren tiefschwarz. Der Jäger fragte seinen Gast auch jetzt nicht nach Namen und Herkunft, aber er grinste mitunter listig, und diesem wurde sehr unwohl. Sie sprachen wenig, speisten Brot und Käse und legten sich später zum Schlafen auf den Boden der kleinen Hütte.

In der Nacht wälzte sich der Graf unruhig hin und her. Er fürchtete, dass der Jäger ihn im Schlaf erschlagen könnte, noch mehr aber fürchtete er die Alte, die er für eine Hexe hielt. Und auch wenn man ihn am Leben ließ, konnte er, wenn seine Leute morgen zu ihm stießen, nicht einfach darüber hinwegsehen, dass der Jäger sich am herrschaftlichen Wild vergangen hatte. Gleichzeitig wollte er nicht gleich wieder mit dem Schwert einfahren und den Platz blutgetränkt zurücklassen. Da Hunfried nicht nur ein Mann von scharfem Verstand war, sondern auch ein Liebhaber der alten Heldenlieder, kam ihm schließlich eine gute Idee: Er wollte den Jäger einer Prüfung unterziehen wie einst König Nidung den tapferen Egel. Wenn es ihm gelänge, einen Apfel vom Kopf seines Jungen zu schießen, könnte er ihm guten Gewissens die Strafe erlassen. Für jemanden, der einen Steinbock aus dieser Distanz ins Herz traf, musste das eine Kleinigkeit sein, und sonst würde die Alte mit ihrer Zauberkraft sicher noch etwas nachhelfen.

So schlief der Graf doch noch ein und erwachte erst bei Sonnenaufgang, als er laute Stimmen hörte. Es waren seine Gefährten, die am Vorabend wegen der einbrechenden Dunkelheit hatten umkehren müssen. Hunfried besprach sich mit seinen Leuten, und der treue Victor, ein einheimischer Gefolgsmann, meinte anerkennend, die Idee mit dem Apfelschuss würde mit Sicherheit in die Geschichte eingehen.

Als Hunfried seinem Gastgeber dankte und ihm offenbarte, wen er unter seinem Dach gehabt hatte, zeigte sich dieser wenig beeindruckt. Auf die erneute Frage, wem er dienstbar sei, wusste er auch jetzt keine Antwort. Hunfried erklärte ihm die Sache mit dem Apfelschuss, doch der listige Jäger entgegnete, zum einen gebe es hier oben keine Äpfel, zum anderen seien seine vier Söhne auf einer anderen Alp auf der… bei den Schafen. So einigte man sich schließlich darauf, dass anstelle des Jungen die Frau des Jägers und anstelle eines Apfels ein kleiner Milchkübel aus Holz verwendet würde.

Unter den gespannten Augen der Männer und der Alten legte der Jäger den Pfeil ein, spannte den Bogen, zielte lange und schoss. Und hätte nicht einer dieser lästigen Gebirgswinde den Pfeil ein winziges Bisschen abgelenkt, wäre er bestimmt mitten im Holz stecken geblieben, so aber stak er – zum Entsetzen aller Zuschauer – in der Brust der Schönen, die sofort tot niederfiel. Ohne ein Wort zu sagen, legte der Jäger seinen zweiten Pfeil in die Sehne, und er hätte mit Sicherheit Rache am Grafen genommen, wären Hunfrieds Begleiter nicht schneller gewesen und hätten ihrerseits Speere geworfen und Pfeile geschossen, von denen einer den Jäger an der Stirn traf und auf der Stelle tötete.

Doch nun stürmte auch noch die Alte auf die Männer los wie einst Birkhilt, Uodelgart und all die anderen rachsüchtigen Weiber, fürchterliche Flüche in ihrer wilden Sprache ausstoßend, und es hätte für alle böse enden können, hätte nicht Victor ihr Einhalt geboten. Er traf sie zuerst mit dem Speer am Kopf, und wie sie niederstürzte, spaltete er sie noch mit dem Schwert von der Schulter bis zum Gürtel. Hunfried warf geistesgegenwärtig ein Tuch über ihren Kopf, auf dass die Alte nicht sterbend noch den bösen Blick auf sie werfe.

Dann stand die Jagdgesellschaft etwas betreten um die drei Toten und beriet, was zu tun sei. Wenn der Bischof von der Sache erfuhr, würde er sie schamlos ausnutzen, um Hunfried beim kaiserlichen Gesandten schlecht zu machen. Möglicherweise waren die Leute hier sogar dem Herrschaftsgebiet des Bischofs zugehörig, dann hätte der Graf nicht einmal über sie Recht sprechen dürfen. Es war eine heikle Angelegenheit, aber Hunfried war ein Mann von praktischem und schnellem Verstand, und so wusste er bald, wie er das Problem zu lösen gedachte. Er befahl, die drei Toten zum Wald zu bringen und dort zu verscharren, bevor die Söhne zurückkämen. Der Hexe sollten sie sicherheitshalber noch einige Eimer Wasser nachzuschütten, als Schutz vor ihrer Zauberei, und dann schnell wieder zur Gesellschaft im Tal unten zurückzukehren. Die Männer machten sich an die Arbeit und Graf Hunfried verharrte in Gedanken. Warum taten sich die Leute hier nur so schwer, sich in die moderne fränkische Welt einzugliedern? Verzogen sich auf abgelegene Alpen, ließen ihr Latein verlottern… – Oder hatte er etwas falsch gemacht? – Nein, er konnte sich auf keinen Fehler besinnen… Hunfrieds Sinn verfinsterte sich vollends, als er auch noch an die schönen Augen der unglücklichen Frau dachte.

Er überlegte, wie er der Sache doch noch eine gute Wendung geben konnte. Und als Mann mit praktischem und schnellem Verstand kam ihm auch bald ein Gedanke, als er sich nämlich beim Weggehen von der Alp noch einmal umsah und sein Blick auf die Stelle fiel, wo das ganze Unheil seinen Anfang genommen hatte. Er gebot seinen Begleitern Einhalt und schickte zwei Männer zu den Resten des erlegten Tieres.

Wenig später stiegen sie ins Tal, und der Graf war schon wieder bester Laune. Vor ihm her trugen die beiden Männer das herrliche gebogene Gehörn des Steinbocks.